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7. Toleranzgrenze
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Weicht der Rechtsanwalt bei der Bemessung seiner Gebühr lediglich um bis zu 20 % von der vom Gericht (oftmals durch Kammergutachten) als billig erachteten Gebühr ab, erfolgt keine Herabsetzung der Gebühr.[47]
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Tipp
Nicht mit der Ausschöpfung der Toleranzgrenze argumentieren
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In der Praxis ist gehäuft zu beobachten, dass die Ausschöpfung der oben dargestellten 20 %igen Toleranzgrenze als Argument für die Höhe der Gebühr zugrundegelegt wird. Es ist darauf hinzuweisen, dass „die Ausschöpfung der Toleranzgrenze“ kein Kriterium des § 14 RVG ist, und daher in einem Gebührenstreit regelmäßig nicht durchgreift, wenn sie zur Begründung der in Ansatz gebrachten Gebühr herangezogen wird.
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Beispiel Toleranzgrenze
Rechtsanwalt R hat in einer Angelegenheit eine 1,8 Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG berechnet. Der Mandant weigert sich, die Rechnung zu bezahlen, so dass Klage erhoben wird. Im Rahmen des Prozesses führt Rechtsanwalt R aus, dass die Regelgebühr i.H.v. 1,6 angemessen gewesen wäre, er jedoch innerhalb der von der Rechtsprechung anerkannten Toleranzgrenze geblieben ist, so dass die von ihm in Ansatz gebrachte Gebühr i.H.v. 1,8 angemessen ist. Zum Beweis bietet er die Einholung eines Gutachtens der zuständigen Rechtsanwaltskammer an. Das Gutachten wird eingeholt. Die Rechtsanwaltskammer kommt zu dem Schluss, dass eine Gebühr i.H.v. 1,5 angemessen ist. Da das Ausschöpfen der Toleranzgrenze kein Kriterium des § 14 RVG ist, werden die Gebühren im Prozess auf die von der Kammer für angemessen erachtete Gebühr von 1,5 herabgesetzt.
Die Sache hätte anders ausgehen können, wenn Rechtsanwalt R den Ansatz der 1,8 Gebühr mit den Kriterien des § 14 RVG begründet hätte. Z.B.: Rechtsanwalt R führt im Gebührenrechtsstreit aus, dass er eine 1,8 Gebühr für angemessen erachtet, da Umfang und Schwierigkeit der Angelegenheit besonders hoch waren. Er bietet zum Beweis die Einholung eines Kammergutachtens an. Das Kammergutachten wird eingeholt und die Rechtsanwaltskammer kommt zu dem Schluss, dass auch unter Berücksichtigung des Umfangs und der Schwierigkeit der Angelegenheit eine Gebühr i.H.v. 1,6 angemessen gewesen wäre. Da sich jedoch die von Rechtsanwalt R festgelegte Gebühr i.H.v. 1,8 innerhalb der von der Rechtsprechung zugestandenen Toleranzgrenze von 20 % bewegt, wird die angesetzte Gebühr nicht für unangemessen erachtet, so dass der Richter Rechtsanwalt R die 1,6 Gebühr auch zusprechen kann.
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Eine 20 %ige Toleranzgrenze ist nach der herrschenden Meinung auch nach dem RVG zuzubilligen.[48]
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Die 20 %ige Toleranzgrenze ist jedoch nicht „per se“ anzuwenden.[49] Ist die Bestimmung eines bestimmten Gebührensatzes nicht nach billigem Ermessen, so entfällt auch eine Toleranzgrenze.[50] Dabei kann die vom Rechtsanwalt angesetzte Gebühr bei fehlender Begründung auch dann schon unbillig hoch sein, wenn sie die Toleranzgrenze um weniger als 20 % übersteigt.[51]
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Ist die Rechtsschutzversicherung nur bereit, eine 1,1 Gebühr zu zahlen, liegt die vom Anwalt in Ansatz gebrachte 1,3 Gebühr noch innerhalb der 20 %igen Toleranzgrenze.
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Teilweise wird angenommen, dass der Prozent-Satz von 20 seit 2004 mit Einführung des RVG erweitert werden müsste, da sich der Rahmen der Gebühr vervierfacht hätte. Daher wird in der in der Rechtsprechung teilweise dem Rechtsanwalt ein Ermessensspielraum von bis zu 30 % zugestanden.[52] Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden, da sich nach Ansicht der Verfasserin die 20 % nicht auf den Rahmen beziehen, sondern vielmehr auf die vom Anwalt nach seinem Ermessen festgelegte Gebühr. Es erscheint fraglich, ob eine Abweichung um mehr als 20 % „tolerierbar“ ist. Eine 30 %ige Erhöhung nach RVG ist daher auch trotz des erweiterten Gebührenahmens abzulehnen.[53]
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Für einigen Wirbel in der Praxis sorgte dann auch zeitlang eine Rechtsprechung des BGH zur Toleranzgrenze im Zusammenhang mit einer Geschäftsgebühr. Zunächst kam mit einer Entscheidung des BGH vom 13.1.2011 allgemein die Auffassung auf, dass die Anhebung der 1,3 Regel-Geschäftsgebühr im Rahmen der sogenannten Toleranz-Rechtsprechung möglich sei, weshalb eine 1,5 Geschäftsgebühr nicht der richterlichen Überprüfung unterliegen würde.[54]
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Im Anwaltsblatt wurde dann auch der folgende Leitsatz veröffentlicht:
„Die Erhöhung der 1,3-fachen Regel-Geschäftsgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr ist einer gerichtlichen Überprüfung entzogen. Für Rahmengebühren entspricht es allgemeiner Meinung, dass dem Rechtsanwalt bei der Festlegung der konkreten Gebühr ein Spielraum von 20 v.H. (sog. Toleranzgrenze) zusteht. Hält sich der Anwalt innerhalb dieser Grenze, ist die von ihm festgelegte Gebühr jedenfalls nicht im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG unbillig und daher von dem ersatzpflichtigem Dritten hinzunehmen.[55]“
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Ebenso entschied der 6. Senat des BGH.[56]
Mit Verwunderung waren die Entscheidungsgründe zu lesen, die doch ungewohnt anwaltsfreundlich klangen. Zwar hatte der BGH ausgeführt:[57]
„Für die Gebührenhöhe bedeutsam ist allein, dass die Rechtsanwälte des Kl. alle nicht völlig fernliegenden Risiken zu erwägen hatten und die Überprüfung von Anfechtungsmöglichkeiten einen nicht unerheblichen juristischen Aufwand erzeugt.“,
was auf eine Überprüfung der 1,5 Gebühr rückschließen lässt, denn der BGH hatte damit einen erhöhten Aufwand bejaht. Die folgenden Sätze der Begründung konnten aber dann nur so verstanden werden, wie sie m.E. von vielen ausgelegt wurden:
„Die Erhöhung der 1,3-fachen Regelgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr ist einer gerichtlichen Überprüfung entzogen. Für Rahmengebühren entspricht es allgemeiner Meinung, dass dem Rechtsanwalt bei der Festlegung der konkreten Gebühr ein Spielraum von 20 % (sog. Toleranzgrenze) zusteht.[58] Hält sich der Anwalt innerhalb dieser Grenze, ist die von ihm festgelegte Gebühr jedenfalls nicht i.S. des § 14 RVG I 4 RVG unbillig und daher von dem ersatzpflichtigen Dritten hinzunehmen. Mit der Erhöhung der in jedem Fall angemessenen Regelgebühr um 0,2 haben die Rechtsanwälte des Kl. die Toleranzgrenze eingehalten.“
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Dass sogar das höchste Zivilgericht in Deutschland Schwierigkeiten bei der Überprüfung der vom Anwalt festgesetzten Rahmengebühren hat, zeigt, dass die bisherige gesetzliche Regelungen hinsichtlich der Bewertung der einzelnen Bemessungskriterien sowie der Festlegung der Gebühr praktische Schwierigkeiten mit sich bringt. Bereits in den letzten Auflagen dieses Werks habe ich die Auffassung vertreten, dass es einen Ermessensspielraum bei der 1,3 Regel-Geschäftsgebühr von 20 % oder mehr nicht gibt,[59] wenn die Tätigkeit des Anwalts nicht umfangreich oder schwierig war.[60]
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Der 8. Senat des BGH urteilte dann klarstellend am 11.7.2012, dass
„diese Toleranzrechtsprechung zu Gunsten des Rechtsanwalts, der eine Gebühr von mehr als 1,3 beansprucht, nur dann eingreift, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Nr. 2300 für eine Überschreitung der Regelgebühr von 1,3 vorliegen (ebenso). Das ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung, nach der eine Ausnutzung des Gebührenrahmens unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 RVG bis zum 2,5-fachen der Gebühr nur bei schwierigen oder umfangreichen Sachen im billigen Ermessen des Anwalts steht, während es bei der Regelgebühr von 1,3 verbleibt, wenn Umfang und Schwierigkeit der Sache nur von durchschnittlicher Natur sind.[61]“
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So hielt der 8. Senat des BGH in seiner Entscheidung vom 11.7.2012 denn auch weiter fest:
„Der IX. Zivilsenat hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er ebenfalls dieser Auffassung sei und sich aus seinem Urteil vom 13. Januar 2011 (IX ZR 110/10, aaO Rn. 18) nichts anderes ergebe. Der VI. Zivilsenat hat mitgeteilt, dass er im Hinblick auf die Äußerung des IX. Zivilsenats, dessen Entscheidung er sich angeschlossen hatte (Urteil vom 8. Mai 2012 – VI ZR 273/11, juris), keine Bedenken gegen die in Aussicht genommene Entscheidung des VIII. Zivilsenats hat.[62]“
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Damit war zu diesem Zeitpunkt auch die Annahme, der Anwalt könne in durchschnittlichen Angelegenheiten pauschal ohne jegliche Überprüfungsmöglichkeit durch die Gerichte eine 1,5 Gebühr anstelle der 1,3 Regelgebühr ansetzen, bereits durch die Rechtsprechung als falsch dargestellt worden. Die vom Gesetzgeber zunächst beabsichtigte Änderung durch das 2. KostRMoG zur Schaffung einer eigenen VV-Nr. für die Regelgebühr war damit überholt deshalb auch ab Mai 2013 vom Tisch.
3. Kapitel Grundlagen des anwaltlichen Gebührenrechts › III. Rahmengebühren, § 14 RVG › 8. Besonderheit zur Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG