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8. Besonderheit zur Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG
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Eine besondere Beachtung verdient die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG. Der Rahmen der Geschäftsgebühr ist weit gedehnt und beträgt 0,5–2,5.
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In der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG hat der Gesetzgeber die Mittelgebühr der Geschäftsgebühr, die 1,5 beträgt (0,5 + 2,5 = 3,0 : 2 = 1,5), durch eine neue „Regelgebühr“ unterschritten. In der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG ist geregelt, dass der Rechtsanwalt eine Gebühr von mehr als 1,3 nur dann fordern kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Der Gesetzgeber führt hierzu in seinem Entwurf vom 5.11.2003, S. 257 BT-Drs. 15/1971 zu Nr. 2400 VV RVG aus:
„In durchschnittlichen Angelegenheiten ist grundsätzlich von der Mittelgebühr (1,5) auszugehen. In der Anm. soll jedoch bestimmt werden, dass der Rechtsanwalt eine Gebühr von mehr als 1,3 nur fordern kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Damit ist gemeint, dass Umfang oder Schwierigkeit über dem Durchschnitt liegen. In anderen Fällen dürfte die Schwellengebühr von 1,3 zur Regelgebühr werden.“
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Damit werden Sinn und Zweck der Mittelgebühr nach Ansicht der Verfasserin ad absurdum geführt. Grundsätzlich war nach bisheriger Rechtsprechung und Praxis bei durchschnittlichen Fällen von der Mittelgebühr auszugehen. Dies ist jedoch nach dem Willen des Gesetzgebers bei der Geschäftsgebühr seit 2004 nicht mehr der Fall. Selbst die Mittelgebühr bei der Geschäftsgebühr soll der Rechtsanwalt nur dann verdienen, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Weiter ist in der Gesetzesbegründung ausgeführt:
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„Eine nach Abwägung der unterschiedlichen Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG-E in der Summe gänzlich durchschnittliche Angelegenheit würde also nur dann einen Gebührensatz von mehr als 1,3 (etwa in Höhe der Mittelgebühr 1,5) rechtfertigen, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalt im Hinblick auf Umfang oder Schwierigkeit über dem Durchschnitt liegt, dies jedoch allein in der Gesamtschau nach § 14 Abs. 1 RVG unberücksichtigt bleiben müsste, weil andere Merkmale vergleichsweise unterdurchschnittlich ins Gewicht fallen. Ist eine Sache danach schwierig oder umfangreich, steht eine Ausnutzung des Gebührenrahmens unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 RVG (bis zum 2,5-fachen der Gebühr) im billigen Ermessen des Rechtsanwalts. Sind auch Umfang und Schwierigkeit der Sache jedoch nur von durchschnittlicher Natur, verbleibt es bei der Regelgebühr (1,3).“
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Nach Ansicht der herrschenden Meinung ist die Geschäftsgebühr wie folgt zu bestimmen:
Unter Berücksichtigung aller Kriterien des § 14 RVG ist die Gebühr nach billigem Ermessen festzulegen. Liegt die so festgelegte Gebühr über 1,3 ist zu prüfen, ob die Tätigkeit des Anwalts umfangreich oder schwierig war. Ist dies der Fall, kann es bei der Gebühr verbleiben. Ist dies nicht der Fall, ist die Gebühr aufgrund der Anm. zu Nr. 2300 VV auf 1,3 zu reduzieren.[63] Diese Vorgehensweise bei der Bestimmung der Gebühr ist nach Ansicht der Verfasserin richtig.
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Nach Hansens[64] ist bei der Bestimmung der Geschäftsgebühr wie folgt vorzugehen:
• | Der Rechtsanwalt geht zunächst von der Mittelgebühr 1,5 aus. |
• | Anhand der einzelnen Umstände des § 14 RVG wird geprüft, ob eine Erhöhung oder Verringerung dieser Mittelgebühr vorzunehmen ist. |
• | Die so gefundene Rahmengebühr ist auf 1,3 zu begrenzen, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts nicht umfangreich oder schwierig war. |
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Richtig hält Hansens fest, dass die in Nr. 2300 VV RVG vorgenommene Begrenzung der Geschäftsgebühr auf 1,3 systemwidrig und auch vom Ergebnis her abzulehnen ist. Die Anm. zu Nr. 2300 VV RVG mit der Kappungsgrenze von 1,3 stellt die Kriterien des § 14 RVG „Schwierigkeit“ und „Umfang“ ohne nachvollziehbaren Grund hervor. Dies bedeutet, dass in den Fällen, in denen die Tätigkeit des Rechtsanwalts bei der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG nicht umfangreich oder nicht schwierig war, die Geschäftsgebühr auch dann auf 1,3 begrenzt bleibt, wenn die übrigen nach § 14 RVG zu berücksichtigenden Kriterien (z.B. Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber) zum Ansatz der Höchstgebühr geführt hätten.
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Dem Rechtsanwalt, der späteren Streit über seine Gebühren vermeiden und sich nicht auf eine 1,3 Gebühr reduzieren lassen will, kann nur der Abschluss einer Vergütungsvereinbarung über einen höheren Gebührensatz als 1,3 angeraten werden. Ist ein Mandant zum Abschluss einer solchen Vergütungsvereinbarung nicht bereit, bleibt dem Rechtsanwalt sämtliche Tätigkeiten, insbesondere Besprechungen, Telefonate und Recherchearbeiten nach Art, Dauer und mit Datum in den Aktenlebenslauf aufzunehmen, damit er im Streitfall die Berechtigung für den Ansatz einer höheren Gebühr als 1,3 nachweisen kann. Zur Höhe der Geschäftsgebühr ist auch ergänzend im Kapitel „Geschäftsgebühr“ weiter ausgeführt, vgl. dazu Kap. 7, Rn. 61 ff. und 69 ff.
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Schons merkt zu recht an, dass die Regelung der Geschäftsgebühr im RVG dazu beigetragen hat, dass über die Höhe der anwaltlichen Gebühren teilweise härter und verbitterter gefochten wird, als um die Hauptsache[65] und die Versicherungswirtschaft kein Einsehen zeigt, dass mit dem RVG eine Strukturreform erfolgt ist und mit der Ausgestaltung der Geschäftsgebühr der Wegfall der Beweis- und Besprechungsgebühr kompensiert werden sollte.[66] Inzwischen ist zu beobachten, dass sich in der Praxis die Wogen etwas geglättet haben und vielfach in Unfallsachen eine 1,3 Geschäftsgebühr in durchschnittlichen Fällen akzeptiert wird. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass die Anwaltschaft es der Versicherungswirtschaft teilweise sehr leicht macht, die Gebühren zu kürzen. Viele Rechtsanwälte akzeptieren Streichungen kommentarlos, weil sie keine Lust haben, sich mit der Versicherung wegen Abstrichen von 0,1 bis 0,3 zu streiten. Sie sehen solche Streitigkeiten als unwirtschaftlich an. Das Akzeptieren von Streichungen stellt eine Einladung an die Versicherungen dar. Um es einmal launig auszudrücken: Wieso sollten Versicherungen darauf verzichten, in hunderten von Fällen eine Reduzierung der Gebühren streitfrei zu erreichen, wenn sie dies lediglich ein Schreiben mittels Textbaustein mit geringem Porto kostet? Wenn die Anwaltschaft möchte, dass bei Versicherungen ein echtes Umdenken einsetzt, wäre es sinnvoll, an einem Strang zu ziehen und den Streit über die Gebührenhöhe – von dem letztendlich alle Anwälte profitieren – nicht einzelnen Kämpfernaturen zu überlassen. Das Akzeptieren von Kürzungen bei begründeten Gebührenforderungen wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Zum einen summieren sich die Fälle, bei denen Kürzungen vorgenommen werden über das Jahr gesehen zu einer stattlichen Summe, zum anderen wird es für Versicherungen dann keinen Grund geben, mit der oben dargestellten Praxis aufzuhören.
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Umgekehrt ist aber auch zu beobachten, dass nur wenige Anwälte sich der Mühe unterziehen, Gebühren, die über 1,3 angesiedelt sind, zu begründen und das ausgeübte Ermessen zu erkennen zu geben. Pauschalierte Abrechnungen verbieten sich aber im Hinblick auf § 14 RVG. Sich mit den Kriterien des § 14 RVG auseinanderzusetzen, Rechtsprechung, Meinungen der Literatur zu studieren und einen eigenen Lösungsansatz für die eigene Kanzlei zu finden, erfordern verhältnismäßig wenig einmaligen Aufwand.
3. Kapitel Grundlagen des anwaltlichen Gebührenrechts › III. Rahmengebühren, § 14 RVG › 9. Checkliste