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De morte ottonis

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Als sie sich am späten Nachmittag auf dem beschwerlichen Weg den Burgberg hinauf befanden, musste Gervasius an den toten alten Wolf denken. Mit beängstigender Klarheit erschien das Bild des Kadavers vor seinem inneren Auge, das graue Fell, die Fliegen. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, und er verharrte kurz vornübergebeugt. Er versuchte, ruhig und tief zu atmen und den Schmerz in seiner Hand nicht zu beachten. Balduin warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, während Agnes ihn besorgt musterte.

»Es geht schon wieder«, erklärte er daraufhin hastig und setzte sich erneut in Bewegung.

Nicht viel später hatten sie das Torhaus erreicht. Balduin klopfte energisch gegen die Holzpforte. Die Luke öffnete sich, und kurz darauf ließ man sie ein. Die Miene des Wächters, den Balduin mit Ludolf angesprochen hatte, war grämlich. Vermutlich hatte er nur schlechte Laune, sagte sich Gervasius wider besseren Wissens. In der großen Halle hockte eine Handvoll Ministerialen wie verloren an einer der langen Tafeln vor dem kalten Kamin. Sie unterhielten sich in gedämpftem Ton. Keiner scherzte, keiner lachte. Gervasius geleitete Agnes durch den Saal zur Treppe, die zur Bibliothek führte. Er war sicher, dass er dort Johannes Marcus finden würde.

Der Kanzlist saß am großen Lesetisch in der Raummitte, um ihn verteilt lagen schwere Handschriften, doch er starrte nur in die Luft. Es war dunkel und kühl im Raum, dank der geschlossenen Fensterläden. Neben Johannes brannte eine einsame Kerze in einem Messinghalter.

»Johannes! «, war alles, was Gervasius herausbrachte.

Beim Klang seines Namens kehrte der Angesprochene in die Wirklichkeit zurück und sah seinem Freund mit tieftraurigem Blick entgegen.

»Ihr kommt zu spät«, sagte er in einem nüchternen Tonfall, der in merkwürdigem Gegensatz zu der betrübten Miene stand.

»Nein!« Gervasius’ Kopf fühlte sich eigenartig leicht an. Ihm war, als würde er schweben. »Der Kaiser wird sich wieder erholen. Dafür wird schon die Karte der Welt sorgen, die ich mit Hilfe von Agnes hier für ihn anfertigen werde! «

Bei der Nennung ihres Namens knickste Agnes artig. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Bestürzung. Jetzt erkannte Gervasius, dass sein Freund die Wahrheit gesprochen hatte. Otto war tot.

»Es tut mir leid, dass ich Euch unter diesen Umständen kennenlerne«, bemerkte jetzt Johannes Marcus, der aufgestanden war und sich leicht vor dem jungen Mädchen verbeugte.

»Es ist mir eine Ehre, Magister Johannes.«

»Wann ist der Tod eingetreten?«, fragte Gervasius leise.

»Kurz vor eurer Ankunft.«

Gervasius schüttelte stumm den Kopf.

»Doch selbst wenn ihr heute Mittag eingetroffen wärt, hätte der Kaiser keinen Sinn mehr für derartig weltliche Dinge gehabt. Seit gestern Morgen hatte er sich auf das Sterben vorbereitet. Er wollte dem Herrn geläutert entgegentreten.«

Gervasius setzte sich auf den Johannes gegenüberstehenden Stuhl, nachdem er einen weiteren für Agnes zurechtgerückt hatte, die sich folgsam neben ihm niederließ.

»Erzähl es uns in allen Einzelheiten.«

»Ihr solltet vorher eine Kleinigkeit zu euch nehmen. Die Reise war sicher kräftezehrend.«

»Mehr als das. Aber ich habe keinen Appetit. Was ist mir dir, Agnes?«

Sie schüttelte wortlos den Kopf.

»Nachdem du mit Balduin aufgebrochen warst, traf der Propst des Burchardisklosters hier ein. Otto wollte, dass Propst Goswin von Halberstadt ihm die Absolution erteilte, wozu dieser aber nicht ohne weiteres bereit war. Zuerst sollte der Kaiser geloben, den Befehlen des Papstes unwiderruflich zu gehorchen. Nachdem Otto mit einigen Einschränkungen zugestimmt hatte, wurde ihm die ersehnte Absolution erteilt, Goswin salbte ihn mit geweihtem Öl und reichte ihm das Abendmahl. In der Nacht hatte der Kaiser überraschend zwei Blutflüsse hintereinander.

Der gesamte Hof war mehr als besorgt. Am Tag darauf erschien zu Ottos und unser aller großer Freude der Abt Friedrich von Walkenried. Durch die Ankunft des Abtes verbesserte sich der Zustand des Kaisers. Er fühlte sich stark genug, in Anwesenheit der Kaiserin, Propst Goswins und des Abtes Friedrich auf einem Teppich vor seinem Bett stehend für sein Seelenheil zu beten, während die geistlichen Herren dazu ihre Gesänge anstimmten. Das habe ich von einem der ausgewählten Ministerialen, die im Turmzimmer dabei sein durften.«

Johannes Marcus hielt inne und trank einige Schlucke Wasser, um seine trockene Kehle zu befeuchten, bevor er fortfuhr. »Dann legte sich Otto auf dem Teppich nieder und hub an mit einem Rückblick auf sein Leben und einem Bekenntnis seiner Sünden, zu denen er vor allem den Ungehorsam gegen den derzeitigen und den früheren Papst, die römische Kirche im Allgemeinen sowie ihre Vertreter zählte. Er beichtete vor dem Abt und bekannte dann, dass er am Tage nach seiner Krönung in Rom vom Bischof von Cambrai das Kreuz genommen habe, das er noch immer um den Hals trage, ohne dass es der Öffentlichkeit jemals bekannt geworden sei. Seit dem Krönungstag habe er auf eine passende Gelegenheit gewartet, die sich aber nicht ergeben hatte. Es täte ihm leid, dass er nicht auf diese Weise dem Schöpfer hätte danken können. Wie seinen Oheim Richard hatte es auch ihn immer danach verlangt, ins Heilige Land zu ziehen, um es von den Ungläubigen zu befreien.«

»Wenn alles so abgelaufen ist, dann hat der Kaiser sicher auch noch Zeit gefunden, seinen Nachlass zu ordnen und Vorgaben für das Begräbnis zu machen, nehme ich an.«

»Das geschah, nachdem Goswin Otto die Absolution gewährt hatte. Du wirst über den Inhalt seiner Verfügung bald genauestens Mitteilung erhalten, denn du sollst nach meinem Diktat die Testamentsurkunde verfertigen. So hat es der Kaiser bestimmt. Er erinnerte sich noch gut an deine schöne Handschrift. Wir sollten damit anfangen, da ich mich noch heute auf den Weg nach Rom machen muss, um Papst Honorius die Nachricht zu überbringen.«

»Es wird mir eine Ehre sein«, erklärte Gervasius feierlich und bat Johannes, seinen Bericht fortzusetzen.

»Dann nahm die Kaiserin ihrem Gatten ebendieses Kreuz ab, das er zum Zeichen seines Kreuzzuggelübdes so viele Jahre unter der Kleidung verborgen getragen hatte, und reichte es dem Abt. Friedrich von Walkenried jedoch wollte, dass Otto es an seinem Hals offen zur Schau stellte, um zu zeigen, dass ihm seine Sünden vergeben worden sind. Was darauf geschah, mag ich mir gar nicht vorstellen. Aber ich bezweifle nicht, dass es wahr ist. Der Ministeriale, der es mir zugetragen hat, ist vertrauenswürdig.«

Der Notar konnte sich kaum dazu überwinden, weiterzureden.

»Otto hatte Weidenruten bringen lassen. Er befahl, dass ihn die anwesenden Priester damit schlagen sollten, auf den entblößten Oberkörper. Währenddessen sollten sie das Miserere singen. Schlagt mich Sünder fester, soll Otto gerufen haben! Und selbst als man den Psalm beendet hatte, wollte der Kaiser, dass man weiter auf ihn einschlug. Einige der Anwesenden hätten darüber Tränen vergossen. Und es wurde selbst dem Abt von Walkenried zu viel: Er befand, dass der Buße nun Genüge getan war und dass es nicht nötig sei, bis zum Blutvergießen mit der Geißelung fortzufahren. Am folgenden Tag schickte Otto den Grafen Heinrich von Wohldenberg nach Braunschweig, um Münzen abzuholen, die er unter der Dienerschaft und den örtlichen Armen verteilen lassen wollte. Wir warten noch immer auf die Rückkehr des Grafen. Außerdem teilte er den Anwesenden mit, sie sollten nicht weinen, denn er würde erst am folgenden Tag sterben. In jener Nacht gesellte sich noch der Bischof Siegfried von Hildesheim zu den hohen Kirchenherren. Auch dieser musste Otto züchtigen und erteilte ihm daraufhin die Absolution, die nun auch schriftlich festgehalten und mit einer Goldbulle für den Papst versiegelt wurde. Gegen Mittag des nächsten Tages überfiel den Kaiser eine große Schwäche. Schließlich starb er im Beisein aller kirchlichen Würdenträger und seiner Gattin Maria von Brabant. Friedrich von Walkenried war von den Vorgängen beim Ableben des Kaisers so beeindruckt, dass er beschloss, sie in einem Bericht für die Nachwelt festzuhalten.«

Dem Kaiser die Welt

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