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Holy Cross

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Auch nachdem er im Gottesdienst mehrfach darum gebetet hatte, die Alpträume mögen von ihm genommen werden, wurde es nicht besser. Jede Nacht lag er länger wach, da er sich vor dem Einschlafen zu fürchten begann. Jeden Morgen im Refektorium trafen ihn die teils vorwurfsvollen, teils besorgten Blicke von Philip. Schließlich entschied Gervasius, dass es nicht schaden konnte, dem Rat seines Freundes zu folgen und mit Bruder Giles zu reden. Der bat ihn in der freien Zeit am Nachmittag in sein Haus, welches ihm, wie jedem Chorherrn in Waltham, zusammen mit einer kleinen Pfründe vom Kollegium zur Verfügung gestellt wurde. Gervasius durfte in der mit frischem Stroh ausgestreuten Halle in einem Stuhl am Kamin Platz nehmen. Die Fensterläden waren gegen die Kälte geschlossen. Es herrschte ein gemütliches Halbdunkel. Ein Hausmädchen brachte ihnen warmen, verdünnten Würzwein in edel verzierten Messingbechern. Bruder Giles nahm einen Schluck und erkundigte sich nach seinem Befinden. Das war sein Stichwort, Giles seine Sorgen anzuvertrauen.

»Mittlerweile kann ich nachts kaum noch schlafen«, fügte er am Ende hinzu. »Etwas muss geschehen. Was soll ich nur tun?«

Giles schwieg einige Augenblicke mit gerunzelter Stirn.

»Warum, glaubst du, lässt deine Mutter dich nicht in Frieden?«, wollte er dann von ihm wissen.

»Ich weiß nicht. Vielleicht wollte sie mir noch etwas Wichtiges mitteilen, aber ich war nicht rechtzeitig da.«

»Du fühlst dich schuldig deswegen?«

»Ich war zu langsam. Ohne mich wäre mein Vater viel schneller zurück gewesen und hätte sie noch lebend angetroffen! «

»Glaubst du das wirklich, Junge?«

Gervasius konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen. Ein wahrer Sturzbach ergoss sich aus seinen Augen. Er wischte die Nässe mit den Händen fort und schluchzte leise. Dabei spürte er, wie der mitfühlende Blick von Giles auf ihm ruhte. Es tat gut, hemmungslos zu weinen. Giles nahm ihn in den Arm, wie ein kleines Kind. Der harte Knoten, der in seinem Bauch gesessen hatte, löste sich allmählich auf.

Bruder Giles wartete, bis die Schluchzer verebbt waren.

»Weißt du, Gervasius, es kann auch ganz anders gewesen sein: Deine Mutter hat deinen Vater fortgeschickt, damit er dich holt. Vielleicht wollte sie allein sein! Vielleicht wollte sie in Frieden alleine sterben! Ohne ihre Angehörigen, die sie doch nur angefleht hätten, bei ihnen zu bleiben.«

Dieser Gedanke wäre Gervasius nie in den Sinn gekommen. Wollte Bruder Giles andeuten, dass er selbst es war, der durch seine Schuldgefühle die Alpträume hervorrief? Je mehr er sich damit beschäftigte, desto weniger abwegig kam ihm diese Sicht vor.

»Eins noch, Gervasius. Es kann nicht schaden, vor dem Heiligen Kreuz kniend um Unterstützung zu beten.«

Er schied von Bruder Giles in hoffnungsvoller Stimmung. Er würde über das nachdenken, was dieser angedeutet hatte, und er wollte auch vor dem berühmten Heiligen Kreuz von Waltham beten, das im Seitenschiff der Kirche einen eigenen Altar besaß und um dessentwillen das ganze Jahr über Pilger nach Waltham kamen.

Unter diesem Abbild des leidenden Herrn, welches an einem großen hölzernen Kruzifix befestigt war, kniete nun Gervasius von Tilbury auf dem kalten Mosaik des Steinfußbodens in stummer Zwiesprache mit Gott. Auf dem Altar flackerten die Kerzen eines mehrarmigen Kandelabers aus purem Gold in der Zugluft. Die weihevolle Atmosphäre beruhigte ihn und schenkte ihm geistige Klarheit. Er bedankte sich für die weisen Worte von Bruder Giles, die ihn mit neuem Mut erfüllt hatten, und bat um Seelenfrieden für seine Mutter, seinen Vater und sich selbst. Da sich an diesem Nachmittag kein einziger Pilger in der Kirche aufhielt, nutzte er die seltene Gelegenheit, bis zum Ende seiner freien Zeit in der wohltuenden Anwesenheit des Herrn zu verweilen. Obwohl ihm seine Haltung bald unangenehm wurde, war er sicher, dass dieses Gebet schon eine Wirkung zeigte, war ihm doch zum ersten Mal nach vielen Wochen wieder leichter ums Herz.

Die Träume hörten nach seinem Besuch beim Heiligen Kreuz nicht sofort auf, doch sie veränderten sich. Seine Mutter erschien ihm nicht mehr als angsteinflößende Leiche mit Skeletthänden, die nach ihm griffen. Sie verwandelte sich von dem Schreckgespenst, das ihn viele Nächte lang verfolgt hatte, in einen Engel, der ihn beschützte. Er brauchte den Schlaf nicht mehr zu fürchten und fand nachts wieder Ruhe. Auch seine Zimmergenossen wussten das zu schätzen.

Dem Kaiser die Welt

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