Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 18
Die Strafe
ОглавлениеIn großer Unruhe hastete Gervasius den Pfad am Fluss entlang und über die Wiese zurück zum Haus des Dekans. Dabei warf er immer wieder prüfende Blicke in alle Richtungen. Jetzt musste er nur noch ohne Zwischenfälle bis in ihre Schlafkammer im Dachgeschoss gelangen, dann war er in Sicherheit. Der einzige Mensch, der ihm noch gefährlich werden konnte, war Roswitha. Vorsichtig lugte er durch die Hintertür, die einen Spalt offen stand, ins Haus. Gerade hatte er die Nase in den Spalt gesteckt, da nahm sie auch schon jemand zwischen die Finger und presste schmerzhaft die Nasenflügel zusammen.
»Hier haben wir ja den Übeltäter! «
Es war nicht die Stimme von Roswitha, auch der Griff war zu fest, mit dem seine Nase im Schraubstock gehalten wurde, es war die Stimme des Dekans. Die Tür wurde vollständig aufgestoßen. Geoffrey Rufus zog ihn an seinem bereits empfindlich schmerzenden Riechorgan in die Diele. Hinter ihm erkannte er dessen Gattin, die mit in die Hüfte gestemmten Händen und belustigtem Gesichtsausdruck das Ganze beobachtete.
Endlich ließ der Dekan seine Nase los.
»Was hast du dir dabei gedacht, dem armen Zacharias eine solche Lüge aufzutischen und dich dann heimlich aus dem Haus zu schleichen? Zum Glück hat Roswitha durch Zufall gerade aus dem Fenster geschaut, als du dich in Richtung Dorf davonmachtest, und mir sofort Bescheid gegeben! Also, was hast du angestellt?«
»Es tut mir leid, Herr Dekan, aber ich wollte doch nur herausfinden, was es mit dem kleinen Volk auf sich hat. Und außer der alten Alma wusste niemand etwas darüber, deswegen bin ich zur alten Mühle gelaufen.«
Eigentlich hatte er schweigen wollen, doch dann waren die Worte einfach aus ihm herausgesprudelt.
Geoffrey Rufus blickte ihn verdutzt an. »Du warst bei der alten Alma?«
»Ja, Herr Dekan, und sie fühlt sich sehr allein in dem großen, halb verfallenen Gebäude. Alles starrt vor Dreck, und es herrscht eine unbeschreibliche Unordnung.«
Mit dieser Antwort schien der Dekan nicht gerechnet zu haben. Gervasius hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. Die Wut des Mannes fiel in sich zusammen und machte Verwunderung Platz. Doch so schnell gab er sich nicht geschlagen. Er bemerkte nicht, dass seine Angetraute dem »Übeltäter« hinter seinem Rücken aufmunternd zuzwinkerte.
»So einfach kommst du mir nicht davon! Du hast deinen Lehrer absichtlich angelogen. Das ist ein schweres Vergehen. Und du warst ungehorsam. Dafür werde ich dich bestrafen müssen.«
Gervasius wurde von Geoffrey Rufus am Handgelenk gepackt und musste im Laufschritt hinter diesem herstolpern, über den Hof und durch den Kreuzgang. Die Domherren und Bediensteten, denen sie begegneten, starrten ihnen hinterher. Gervasius ärgerte sich über sich selbst. Sein Plan war nicht genug durchdacht gewesen. Er hätte sich doch Hilfe von Philip holen sollen. Aber nun war es zu spät. Er konnte froh sein, wenn sie nicht seinen Vater benachrichtigten oder ihn gar der Schule verwiesen. Diese Schmach glaubte er nicht ertragen zu können. Er bat stumm Gott um Beistand, während er sich innerlich auf das Schlimmste gefasst machte. Schließlich hatten sie den Schulraum erreicht. Der Dekan trat ohne Klopfen ein und zerrte Gervasius hinter sich her.
»Dieser Junge hat gelogen und war außerdem ungehorsam. Seht ihn euch genau an! So sieht ein Sünder aus! «
Der Dekan stieß ihn in den Raum, so dass er fast Bruder Zacharias umriss, als er nach vorne taumelte. Der Lehrer schwankte, hielt sich kurz an Gervasius fest und erlangte mit dessen Hilfe sein Gleichgewicht wieder. Als er wieder einen sicheren Stand erlangt hatte, beeilte er sich zu antworten:
»Danke, Herr Dekan, dass Ihr ihn uns zurückgebracht habt. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Geoffrey Rufus schien fast enttäuscht, dass er bei der Bestrafung nicht gebraucht wurde. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich dann aber anders und verließ grußlos den Raum.
Nachdem die Tür sich hinter dem aufgebrachten Dekan geschlossen hatte, wandte sich der kleine Lehrer einem der älteren Schüler zu: »Thibaut, du beaufsichtigst jetzt deine Mitschüler. Ich werde unterdessen unter vier Augen mit Gervasius reden. Wir gehen hinaus. Und dass mir keine Klagen kommen! «
Er nahm Gervasius am Arm, um einiges sanfter, als es der Dekan getan hatte, und führte ihn über den Kreuzgang in den Gemüsegarten, der von hohen Hecken umgeben war. Als sie vom Hauptgebäude aus nicht mehr zu entdecken waren, ließ Zacharias Gervasius los und seufzte.
»Mein bester Schüler! Die größte Hoffnung von Waltham!
Und du musst unbedingt eine solche Dummheit begehen. Also, erzähl mir genau, was los war.«
Das tat Gervasius. Als er geendet hatte, bemerkte er, dass sich Zacharias’ Miene etwas aufgehellt hatte. Durfte er sich Hoffnung machen, glimpflich davonzukommen?
»Das war also dein Vergehen? Warum hast du nicht mich gefragt, deinen Lehrer?«
Gervasius spürte, dass er dem Lehrer die Wahrheit sagen konnte.
»Ich habe mit Bruder Giles darüber gesprochen, aber der meinte, es sei nicht gut, sich mit dem Thema zu intensiv zu beschäftigen. Da wollte ich nicht noch jemanden aus dem Kollegium mit hineinziehen.«
Bruder Zacharias strich ihm kurz über das Haar.
»Du bist ein sonderbarer Junge, Gervasius, weißt du das? Andere hätten diese Zeit genutzt, um jemandem einen Streich zu spielen oder etwas Verbotenes zu tun, doch du setzt deine Schullaufbahn aufs Spiel für die Suche nach der Wahrheit. «
Gervasius wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
»Ich kann dich natürlich nicht ungeschoren davonkommen lassen, das weißt du. Das wäre auch nicht recht den anderen Schülern gegenüber. Der Dekan würde dir am liebsten den Kopf abreißen, aber ich werde etwas gnädiger sein.« Bei den letzten Worten schmunzelte der kleine Domherr sogar, dann fuhr er fort: »Du wirst doppelt so lange wie die anderen Jungen als Messdiener tätig sein. Du wirst ab morgen den derzeitigen Weihrauchschwenker ablösen. Das bedeutet, du musst zu jedem Gottesdienst eine halbe Stunde früher erscheinen und auch bei den Nocturnes dabei sein.«
Für Gervasius bedeutete das vor allem eins: Er hatte nun weniger Zeit für seine Schreib- und Leseübungen.
»Dafür werde ich deinen Vater nicht benachrichtigen. Solltest du dir aber noch einmal so etwas einfallen lassen, kann ich keine Gewähr dafür übernehmen, dass du wieder so glimpflich davonkommst. Wollen wir hoffen, dass damit der Bestrafungswut des Dekans Genüge getan ist. Noch eins, Junge: Du bist außergewohnlich begabt, und das weißt du, aber du solltest weniger deinem eigenen Kopf und mehr dem wohlmeinenden Rat deiner erfahreneren Mitmenschen folgen.«
Wenn Gervasius gedacht hatte, dass die Sache mit dem Abbüßen der Strafe ausgestanden sein würde, hatte er sich getäuscht. Jetzt war nämlich auch Philip schlecht auf ihn zu sprechen, weil er ihn nicht um Hilfe gebeten hatte.
»Wenn du angedeutet hättest, wie wichtig dir die Sache ist, hätte ich alles darangesetzt, dich zu unterstützen! Und dann wärst du ganz sicher nicht erwischt worden! «
Gervasius widersprach, ein Wort gab das andere, und schließlich gingen sie unversöhnt zu Bett. Danach sprachen sie einige Wochen nur noch das Nötigste miteinander, was Gervasius ebenso wehtat wie seinem Vetter. Doch beide hätten sich eher die Zunge abgebissen, als das zuzugeben.
Obwohl sie ihn verraten hatte, war es Roswitha, die in den Wochen nach seinem Ausflug am nettesten zu ihm war. Vielleicht tat es ihr inzwischen leid, dass sie ihn an ihren cholerischen Mann ausgeliefert hatte? An ihrem Verhalten ihm gegenüber glaubte er zu erkennen, dass er in ihrer Achtung gestiegen war.
Morgens, wenn er vor den anderen das Haus verließ, um sein Messamt bei den Laudes anzutreten, stand sie häufig in der Küche und drückte ihm mit einem Lächeln ein selbstgebackenes Kuchenstück oder etwas Obst in die Hand. Den einen Tag war es ein besonders schöner roter Apfel, den anderen Tag eine Handvoll süße Schwarzkirschen, die sie in ein altes Tuch eingeschlagen hatte. Manchmal stand eine Schüssel mit frisch gemolkener Milch auf dem Tisch oder eine Scheibe Brot, die jemand dick mit verlockend duftender Butter bestrichen hatte. Nach einigen Tagen begann er sich auf diese Momente zu freuen, wenn ihn in der Küche wieder eine Überraschung erwartete. Derartig versorgt, fiel es ihm leichter, seine Strafe zu verbüßen, selbst den Dienst während der Mitternachtsmesse, für den er jedes Mal eigens vom Dekan geweckt wurde. Seine Bettgenossen waren über diese Entwicklung ebenso wenig glücklich wie er, wurden sie doch jede Nacht unweigerlich mit geweckt, wenn Geoffrey Rufus energisch an die Tür zu ihrer Schlafkammer klopfte. Das Amt selbst war leicht zu ertragen. Es umfasste nur wenig anspruchsvolle Tätigkeiten, wie etwa das Schwenken des Weihrauchfasses, die es ihm ermöglichten, beinahe ungestört seinen Gedanken nachzuhängen.
Der Sommer wurde zum Spätsommer, dieser zu einem frühen sonnigen Herbst. Die Tage wurden kürzer und die Nächte umso endloser. All die Zeit, die er in der Kirche verbringen musste, führte dazu, dass er ihre Pracht, die sie dem angelsächsischen Heerführer Tovi dem Stolzen und König Harold zu verdanken hatte, für selbstverständlich zu erachten begann. Am Anfang hatte ihn das metallische Glitzern der Kelche und Pokale, der edelsteinbesetzten Reliquienschreine und der mit Blattgold verkleideten Altäre noch in Staunen und Verzückung versetzt. Er hatte voller Begeisterung im Chor mit den anderen Jungen gestanden und mit Inbrunst die Choräle und Hymnen mitgesungen, auch wenn Singen nicht zu seinen hervorstechendsten Begabungen zählte. Er ließ das Weihrauchfass, das an einer langen goldenen Kette gehalten wurde, vor sich hin und her pendeln, um die reinigende Wirkung des Weihrauchs überall im Raum zu verteilen, und folgte mechanisch dem diensthabenden Priester auf seinen liturgischen Wegen durch die Kirche. Den Wunsch, mehr über die Wesen zu erfahren, die er im Epping Forest zu sehen geglaubt hatte, hatte er vorerst zur Seite geschoben. Er hatte nicht vor, die Schule vorzeitig in Schande zu verlassen.