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Jahresläufe

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Frühling, Sommer, Herbst, Winter: Die Jahreszeiten gingen ins Land. Es gab viel zu lernen in den Lateinstunden, bei der Rhetorik und im Evangelium. Zuweilen wurde jedoch auch Gervasius die viele Zeit, die sie im Schulraum verbrachten, etwas lang. Sein Freund Philip sang ihm täglich ein Lied davon. Er konnte dem Unterricht wenig abgewinnen, lebte nur für die Stunden im Chor. Die wenige freie Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, verbrachten die beiden gerne draußen, aber an unterschiedlichen Orten. Gervasius fühlte sich vom Küchengarten magisch angezogen. Er ging dem zuständigen Chorherren so lange um den Bart, bis er ihn helfen ließ: anfangs nur beim Unkrautjäten, beim Absammeln von schädlichen Käfern, beim Wässern und Ernten des Gemüses, beim Pflücken der Kräuter. Gervasius liebte den frischen Geruch von Zitronenmelisse, das süße Aroma der Petersilie und den leicht stechenden Duft des Salbeis, aus dem man in Waltham einen wirksamen Teesud gegen Halsschmerzen herstellte. Bruder Basilius entdeckte bei dem jungen Gervasius ein echtes Interesse an der Art und Wirkweise der Pflanzen und war daher gerne bereit, sein Wissen auf diesem Gebiet mit ihm zu teilen. Während Gervasius seine Freizeit im Garten verbrachte, zog es Philip zu den Pferdeställen und den Hundezwingern. Von seinem Vater hatte er viel über die Leidenschaft Henrys IL für Hunde-und Falkenjagden gehört. Zwar war er noch zu jung, um an solchen Ereignissen teilzunehmen, die sich auch im Umkreis von Waltham abspielten, etwa wenn Dekan Geoffrey Rufus hohe Gäste zu Besuch hatte, die bereit waren, Gold oder anderes Nützliches für den Ausbau der Kapelle des Heiligen Kreuzes zu spenden, damit die Chorherren nach ihrem Ableben tägliche Fürbitte für ihre Seelen leisteten. Doch zumindest annähern konnte er sich seinem Traum vom abenteuerlichen höfischen Leben, indem er zusah, wenn die vom Dekan gehaltene Meute von Jagd- und Bluthunden gefüttert wurde, und sich dabei sorgfältig die Namen jedes einzelnen Tieres einprägte. Pandora und Zeus, Hera und Euripides, Claudius und Nero und all die anderen waren ihm bald vertrauter als die Deklination der lateinischen Verben. Genau beobachtete er die Männer bei der Fütterung und merkte sich, welches Tier handzahm war und welchem man besser nicht zu nahe kam. Er bekniete zuerst Bruder Zacharias in der Schule und dann sogar Geoffrey Rufus, dass man ihn bei der nächsten Jagdgesellschaft helfen ließ, aber der Dekan befand, dass er noch zu jung und es daher zu gefährlich für ihn sei, sich um die Hunde zu kümmern. Also verlegte sich Philip auf die Pferde. Er sah den Stallburschen bei der Arbeit zu, war bald ein vertrauter Anblick im Stall und durfte schon einmal einen schweißnassen Pferderücken mit Stroh trockenreiben oder einem Schimmelhengst den Futtersack umhängen. Schließlich ließen ihn einige der Knechte ausmisten, ermöglichte dies ihnen doch, eine Weile die Beine hochzulegen und einen Schluck Met oder Branntwein zu trinken, bevor die Schinderei weiterging.

Für Gervasius wurde der Frühling die Zeit der Aussaat, für Philip die Zeit der Geburt von Welpen und Fohlen. Der Sommer brachte in Gemüsebeeten und im Kräutergarten üppigsten Wuchs, was für Gervasius viel Arbeit, aber auch viel Freude bedeutete. Für Philip standen in der heißen Jahreszeit Reitübungen auf einem Pony und erste Ausritte im Vordergrund, sowie die Arbeit mit jungen Hunden. Herbst bedeutete Erntezeit im gesamten Garten. Obstbäume trugen reichlich Früchte: Kirschen, Äpfel, Pflaumen, Birnen, aber auch Haselnüsse und Walnüsse mussten gepflückt oder aufgesammelt werden. Die Beete quollen über von fetten Kürbissen, dicken Rettichen, Rüben und anderen Gemüsesorten, die Gervasius stolz in die Küche trug, wo der Koch sie in köstliche Speisen verwandelte. Herbstzeit war für Philip Jagdzeit, die aufregendste Zeit im Jahr, auch wenn er im zweiten Jahr noch immer nicht bei der Jagd als Helfer dabei sein durfte. Nur von weitem beobachtete er das wilde Treiben, hörte die Jagdhörner mit den Hirschen um die Wette röhren und das heisere Bellen der Meute. Von weitem sah er die Gesellschaft auf ihren schnellen Pferden vorbeipreschen und wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich auch Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein. Er beschloss, mit Gervasius’ Hilfe einen Brief an seinen Vater zu schreiben, der beim Dekan ein gutes Wort für ihn einlegen sollte, damit er wenigstens im nächsten Jahr dabei sein durfte. Doch dazu kam es nicht.

Der Oktober des Jahres 1172 neigte sich seinem Ende zu, als nach einer langen Zeit der Beschaulichkeit wieder ein Bote in Waltham eintraf. Dieses Mal war es ein königlicher Bote, wie unschwer am Wappen mit den drei Plantagenet-Löwen zu erkennen war. Er kam im Auftrag seiner Majestät Henry II. und hatte eine schriftliche Mitteilung dabei, die allein für Philip bestimmt war. Dieser war nirgends zu sehen, es war die schulfreie Stunde am Nachmittag. Man fragte Bruder Zacha-rias, der vermutete, dass Philip entweder im Pferdestall oder bei den Hundezwingern war. Schließlich fand man den blonden Sohn des Grafen vor dem Zwinger mit den Bluthunden. Er war gerade dabei, durch eine kleine Tür im Drahtgeflecht einen Eimer mit wenig appetitanregenden Fleischabfällen auszuleeren, auf die sich die drei Bluthunde Astarte, Penelope und Euripides, denen beim Anblick des Futters bereits der Geifer aus den Mäulern geflossen war, gierig stürzten. Die Tiere knurrten sich aus Futterneid gegenseitig an. Bei diesen bedrohlichen Lauten sträubten sich einigen der Anwesenden die Nackenhaare, doch Philip lächelte zufrieden und redete liebevoll und beruhigend auf seine Schützlinge ein, als wären es harmlose Schoßhündchen.

Er schien wenig beeindruckt von der Tatsache, dass ein Bote Henrys IL vor ihm stand. Er war noch zu sehr mit den Hunden beschäftigt, die jetzt hechelnd vor dem Gitter tänzelten und mit wedelnden Schwänzen um Nachschlag bettelten.

»Gute Hunde. Brave Penelope. Euripides, aus! Lass Astarte in Ruhe«, murmelte Philip in einem Singsang, der von den Tieren gut aufgenommen wurde, denn sie gehorchten ihm aufs Wort und beruhigten sich sofort. Dann richtete er den Blick hoffnungsvoll auf den Boten.

»Habt Ihr eine Nachricht von meinem Vater?«

»Ich fürchte, eine schlechte, mein Junge.«

Philip wurde blass.

»Ich habe hier einen Brief des Königs an dich persönlich. Soll ich ihn dir vorlesen, Philip von Salisbury?«

Philip schüttelte den Kopf. »Gebt mir den Brief, ich werde mich damit an einen ruhigen Ort zurückziehen, wenn Ihr gestattet.«

Der Bote, leicht verwundert über dieses Verhalten, zögerte. »Nun gut. Seine Majestät hat mir allerdings aufgetragen, diesen Ort nicht ohne eine Antwort zu verlassen. Ich werde daher warten, bis du mir ein entsprechendes Schreiben diktiert hast.«

»Kommt, wir werden in der Küche sicher noch eine Mahlzeit für Euch zusammenkratzen können«, warf Bruder Zacharias rasch ein und zog den Boten am Arm in Richtung Refektorium. Die Umstehenden warfen betretene Blicke auf Philip, bevor sie sich unauffällig verstreuten.

Nachdem man ihn mit den Hunden allein gelassen hatte, verschloss Philip rasch den Zwinger und machte sich mit dem zusammengerollten Pergamentbogen in der Hand auf den Weg zum Gemüsegarten. Gervasius hockte in einem Beet neben dem Misthaufen vor einem riesigen, orangefarbenen Kürbis und durchtrennte gerade mit einem Messer die Verbindung zwischen Frucht und Pflanze.

»Ist das nicht eine Pracht?«, fragte er, als er den Freund kommen sah.

»Ja, sehr schön«, bestätigte Philip. »Ich brauche deine Hilfe«, setzte er hinzu.

Gervasius hielt inne. »Was ist geschehen? Du klingst so merkwürdig.«

»Eine Nachricht von meinem Vater. Ein Brief des Königs. Kannst du ihn mir bitte vorlesen?«

Gervasius legte das Messer beiseite und wischte sich die Hände an seiner Tunika ab. »Ich will das königliche Pergament nicht beschmutzen. Lass uns zur Obstwiese gehen. Am hinteren Ende gibt es eine Bank, zu der nie jemand kommt.«

Philip nickte und folgte schweigend dem Freund zum Waschhaus. Auf der gezimmerten Holzbank am Ende des Gartens entrollte Gervasius dann beinahe ehrfürchtig den Bogen, der mit der, in der königlichen Kanzlei üblichen, gotischen Minuskel beschrieben war und an dessen unterem Rand ein Siegel baumelte.

»Dein Latein ist doch gut genug, oder?«

»Natürlich. Lass mich sehen:…«

Nachdem er den ersten Absatz überflogen hatte, veränderte sich Gervasius’ Gesichtsausdruck.

»Warum liest du nicht vor?«

»Seine Majestät Henry II. von England, Herzog der Normandie, Graf von Poitou und Aquitanien, lässt auf diesem Wege Philip, Sohn des Patrick, Graf von Salisbury, vom Ableben desselben in Kenntnis setzen. Wir drücken hiermit unser aufrichtiges Bedauern über diesen Unglücksfall aus und versichern Philip von Salisbury Unserer Unterstützung für die Zukunft. Wir sind untröstlich über diesen schrecklichen Verlust. Graf Patrick ist während einer kriegerischen Auseinandersetzung in Lusignan Opfer eines Hinterhaltes geworden, den der französische Graf Guy de Lusignan anführte. «

»Nein«, sagte Philip leise, aber bestimmt. »Mein Vater ist nicht tot. Er kann nicht tot sein.«

»Es geht noch weiter«, erklärte ihm Gervasius sanft. »Soll ich zu Ende lesen?«

Philip schüttelte den Kopf. »Er ist nicht tot. Ich weiß, dass er nicht tot ist.«

Dann drehte er sich um und rannte davon. Gervasius blieb allein mit dem Brief zurück.

Dem Kaiser die Welt

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