Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 9
Überlegungen
ОглавлениеDen Rest des Abends und die halbe Nacht verbrachte der Magister in der Bibliothek der Burg. Die Diener hatten eine Unzahl von metallenen Kerzenleuchtern herbeigeschafft und auf dem großen Lesetisch in der Mitte des Raumes platziert. Der Schein der Kerzen tauchte den Saal in warmes Licht. Bevor der letzte Diener gegangen war, hatte Gervasius ihm aufgetragen, mehrere Bogen Pergament zu beschaffen, Gänsefedern sowie eine ganze Reihe von Zutaten für verschiedene Tintenfarben, die er in einer Liste notiert hatte. Dann hatte er sich darangemacht, die eher mageren Buchbestände zu inspizieren.
Er entdeckte Plinius den Älteren und seinen Lieblingspoeten Ovid. Außerdem ein Evangeliar mit einem kostbaren Einband, mehrere illustrierte Psalter, des großen Augustinus wegweisendes Werk ›De civitate Dei‹, ein kostbar illuminiertes Bestiarium, das, wie Gervasius an seinem besonderen eleganten Zeichenstil erkennen konnte, aus seiner britannischen Heimat stammte. Dazu kamen noch geographische Werke wie die von Isidor, Beda Venerabilis und Hrabanus Maurus. Das Evangeliar, dessen Einband mit echten Edelsteinen und Blattgold geschmückt war, hatte einst Herzog Heinrich dem Löwen, Ottos Vater, gehört. Es dauerte nicht lange, da stieß er auch auf sein eigenes Buch, welches er für sich ›Otia Imperialia‹ – kaiserliche Mußestunden -nannte, obwohl es den offiziellen Titel ›Liber de mirabilibus mundi‹ trug. Noch einmal las er die Widmung, die er für seinen Freund Johannes Marcus vorangestellt hatte. Damals, vor drei Jahren, hatte die Sache des Kaisers zwar nicht zum Besten gestanden, aber zumindest hatte ihm sein Körper noch gehorcht. Jetzt war der Kaiser den Unzulänglichkeiten seines Leibes ausgeliefert und hilflos wie ein Kind.
Es machte Gervasius wütend, seinen Herrn so zu sehen und nichts für ihn tun zu können. Nun, etwas konnte er immerhin tun: Otto hatte darum gebeten, seine Lebensgeschichte zu hören. Und er wollte endlich die versprochene Karte sehen. Ersteres würde Gervasius keine Schwierigkeiten bereiten, er war ein begnadeter Erzähler, wie ihm viele seiner Zuhörer bestätigt hatten, Letzteres schon. Schließlich war es ihm in den letzten drei Jahren nicht gelungen, mit diesem Vorhaben voranzukommen. Er war ein guter Schreiber, konnte eine recht ordentliche, ja zierliche Minuskel anfertigen, aber Zeichnen und Malen gehörten eher nicht zu seinen Stärken. Bereits als Junge in der Klosterschule in Tilbury hatte er keine vernünftigen Illuminationen zustande gebracht. Ihm war bewusst, dass er ohne fremde Hilfe dem Wunsch des Kaisers nach einer Karte nicht würde entsprechen können. Aber wer konnte ihm helfen? Von den auf der Harzburg Anwesenden kam nur Johannes Marcus in Frage, aber Gervasius wusste, dass auch dessen Zeichenkünste für diese Aufgabe nicht ausreichen würden. Doch er kannte eine Person, die das Handwerk des Illuminierens so sicher beherrschte, dass ihr zuzutrauen war, eine Karte zu erschaffen, die eines Kaisers würdig war. Aber war das eine gute Idee, sie holen zu lassen? Reichte die Zeit dazu überhaupt noch aus? Er beschloss, diesen Gedanken in seinem Hinterkopf zu behalten und erst einmal sein Konzept auszuarbeiten.
Dafür zog er sich eine große Wachstafel heran und begann, darauf mit einem Griffel den Erdkreis zu skizzieren. In die Mitte setzte er ein kleines Quadrat. Es sollte die Heilige Stadt Jerusalem symbolisieren, den Mittelpunkt der christlichen Welt. In das Weltenrund zeichnete er ein großes T, das die Fläche in drei Abschnitte teilte, die den drei Erdteilen Europa, Afrika und Asien entsprechen sollten. Dazu notierte er hinter der Initiale O, die Agnes später verzieren sollte, folgenden Text, der außerhalb des Weltenrunds auf der Karte erscheinen sollte:
Die Bezeichnung »Orbis« (d.h. Rundung, Radkranz) rührt daher, dass die Erde rund wie ein Rad ist. Rings vom Ozean umflossen, ist die Erdfläche in drei Teile unterteilt, nämlich in Asien, Europa und Afrika. Asien allein umfasst die eine Hälfte der Erde, Europa und Afrika zusammen nehmen die andere Hälfte ein und sind durch das Mittelländische Meer unterteilt. Im Osten wird es durch den Aufgang der Sonne, im Süden durch den Ozean, im Westen durchs Mittelmeer begrenzt, im Norden durch die Maeotidischen Sümpfe und den Tanais abgeriegelt. Zu Asien gehört eine Vielzahl von Provinzen, Regionen und Inseln. Europa ist nach der Tochter des Königs Agenor genannt, die denselben Namen trug. Afrika soll nach einem Nachfahren der Abrache de Cethura genannt worden sein, der Afer hieß. Es gibt dort auch Länder, Inseln und Provinzen, deren Kurzbezeichnungen und deren Positionen auf der Weltkarte man bei näherem Hinschauen findet.
Die Karte musste natürlich, wie es allgemein üblich war, geostet sein, d.h., Osten war oben. Dann waren seine geographischen Kenntnisse auch schon erschöpft, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die in der Bibliothek vorhandenen antiken Autoritäten zu diesem Thema zu konsultieren. Während er las und immer wieder etwas auf der Skizze ergänzte, vergingen die Stunden. Durch die Fenster kam seit langem kein Licht mehr herein. Müde rieb er sich den schmerzenden Rücken und erhob sich steif von seinem Lehnstuhl. Es war Zeit, dass er noch etwas Schlaf bekam.
Beim Frühstück in der großen Halle erfuhr Gervasius von Johannes Marcus, dass der Abt Friedrich von Walkenried, dessen Ankunft der Kaiser so sehnsüchtig erwartete, noch immer nicht erschienen war. Jetzt wollte der Kaiser auf Anraten seiner Frau den Boten Arnulf erneut ausschicken, dieses Mal in das nahe gelegene Burchhardiskloster bei Halberstadt, um den dortigen Propst Goswin kommen zu lassen.
»Der arme Arnulf«, befand Johannes Marcus beiläufig, »kaum ist er von seiner anstrengenden Reise nach Arles zurück, muss er schon wieder hinunter ins Tal und diesen Goswin von Halberstadt holen. Das geht bestimmt auf den Wunsch der Kaiserin zurück.« Es war kein Geheimnis, dass er Maria von Brabant nicht besonders mochte und ihre Frömmigkeit für aufgesetzt hielt. Gervasius wollte sich darüber kein Urteil erlauben, immerhin hielt Otto große Stücke auf seine Gemahlin, aber er wollte ohnehin etwas anderes mit seinem alten Freund besprechen.
»Ich will dem Kaiser so gerne diese Karte liefern, aber ich kann das Werk ohne Unterstützung durch einen fähigen Illustratoren nicht zu Ende bringen. Daher habe ich mir einen kühnen Plan ausgedacht, zu dem ich deine Meinung hören möchte. «
Sofort hatte er die volle Aufmerksamkeit von Johannes Marcus.
»Spann mich nicht auf die Folter. Was hast du denn vor?«
»Agnes erhält doch im Kloster Ebstorf unter anderem eine Ausbildung als Rubrikatorin und Illuminatorin. Sie wurde sogar einige Monate von einer Nonne aus dem für seine kunstvollen Bilderhandschriften berühmten Kloster Heimarshausen unterwiesen.«
Gervasius hatte eine Vorliebe für schöne Buchmalkunst. Neben dem anmutig gestreckten Figurenstil aus seiner englischen Heimat schätzte er auch die Arbeiten der Helmarshausener Schule, die unerreicht waren in der lebendigen Strahlkraft ihrer Gold- und Silbergründe.
Der kleine runde Kanzlist blickte ihn entgeistert an.
»Du willst sie herholen lassen? Du hast es doch bisher nicht einmal geschafft, ihr die Wahrheit über ihre Herkunft zu sagen! «
»Und genau so soll es bleiben. Sie erhält lediglich den Auftrag, mit mir zusammen an der Karte zu arbeiten.«
»Und du glaubst, sie lassen sie im Kloster einfach so gehen? Was wird denn die Priorin dazu sagen?«
»Hassica ist eine sehr kluge Frau. Ich denke, ich kann sie überzeugen. Was hältst du von meiner Idee?«
Johannes Marcus starrte nachdenklich auf den vor ihm stehenden Obstkorb, der bis zum Rand mit verlockenden frischen Früchten aller Art gefüllt war.
»Warum nicht? Das Mädchen wird froh sein, aus der Klausur herauszukommen, und die Priorin wird vielleicht zustimmen, wenn sie so den kranken Kaiser erfreuen kann.«
Er pflückte einige blaue Trauben ab und ließ sie eine nach der anderen genüsslich in seinem Mund verschwinden.
»Das Beste ist, Ebstorf ist nicht halb so weit entfernt von der Harzburg wie Arles. Die Anreise wird nur wenige Tage in Anspruch nehmen, das kann unter den gegebenen Umständen wichtig sein. Aber welcher Bote soll das übernehmen? Arnulf wird von Halberstadt sofort in der Burg zurück erwartet.«
»Auch darüber habe ich mir bereits den Kopf zerbrochen. Ich sehe nur eine Möglichkeit: Ich werde das selbst übernehmen müssen.«