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Alma

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Die Sache mit dem Beischlaf hatte er ausreichend untersucht, daher stand jetzt ein anderes Mysterium ganz oben auf Gervasius’ Liste der Dinge, über die er unbedingt die Wahrheit erfahren wollte. Wie hieß doch der Satz von Jesus, den der Dekan bei der letzten Sonntagsmesse zitiert hatte? »Und du sollst die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird dich frei machen.« Gervasius hoffte, dass die Wahrheit über »das kleine Volk« ihn davon befreien würde, ständig an seine beunruhigende Erfahrung im Epping Forest denken zu müssen. Zuerst besprach er die Angelegenheit mit seinem besten Freund Philip. Doch zu seiner Enttäuschung konnte dieser zu dem Thema nichts beitragen.

»Wir sind Angehörige des normannischen Adels. Wir kümmern uns nicht um die Sagen des einfachen Volkes, das wir unterworfen haben.«

Die Antwort gefiel Gervasius nicht besonders. Er konnte einfach nicht glauben, dass nicht bei allen Menschen die Neugierde dem Leben gegenüber so stark ausgeprägt war wie bei ihm.

Als Nächstes wollte er mit Giles de Chaumont darüber sprechen. Das war nicht einfach, da sein Tag so mit Vorlesungen befrachtet war, dass er kaum freie Zeit für sich hatte. Er nutzte den Moment nach Ende der Vesper, in dem sich alle von den langen Refektoriumstischen erhoben. Ein großes Stühlerücken setzte ein, und viele Domherren nahmen die Gelegenheit wahr, mit ihren Sitznachbarn Neuigkeiten auszutauschen. Die Sitzordnung bei Tisch war nicht festgelegt. Prinzipiell konnte jeder neben jedem sitzen. Schüler neben Domherr, Laienbruder neben Dekan. Gervasius gelang es, indem er sich zu Beginn der Mahlzeit unverfroren an einigen älteren Stiftsherren vorbeidrängte, seinen Platz an der Tafel unweit von Giles zu finden. Dieser Tisch war, glücklicherweise, vom Tisch des Dekans weit entfernt. Gervasius erntete einen erstaunten Blick von Giles, der sich bald in einen belustigten verwandelte. Bei der Mahlzeit aß Gervasius kaum etwas, war er doch viel zu sehr damit beschäftigt, den wichtigsten Moment des Tages nicht zu verpassen. Als der Dekan endlich die Tafel aufhob, sprang Gervasius auf und flitzte zu Giles.

»Bruder Giles, bitte, ich muss Euch sprechen!«, flüsterte er flehend.

»So? Dann lass uns kurz in den Kräutergarten gehen, mein Junge, und ein wenig frische Luft einatmen.«

Als sie auf den schnurgeraden, geharkten Kieswegen schlenderten, erkundigte sich Bruder Giles: »Also, was ist so dringend, Gervasius, dass du es unbedingt mit mir besprechen musst?«

»Ihr erinnert Euch an unseren Ritt durch den Epping Forest, Bruder Giles?«

»Natürlich. Es ist noch keine drei Monate her, und ich bin noch nicht senil. Aber…« Der Domherr hielt inne, als ihm klar wurde, worauf Gervasius hinauswollte. »Die Sache mit den Feen und Elfen lässt dich nicht los, wie? Ich kann dir nichts weiter sagen. Das ist alles heidnischen Ursprungs, und es ist uns verboten, uns damit zu beschäftigen. Auch für dich ist es nicht gut.«

»Aber es gibt sie doch, nicht wahr?«

»Nun, ich denke schon. Mir sind sie bereits mehrfach erschienen. Immer, wenn ich alleine oder mit nur wenigen Begleitern bei Tag den Wald durchquerte.«

»Nachts habt Ihr sie noch nie gesehen?«

Giles schüttelte den Kopf. Dann setzte er zögerlich hinzu: »Es gibt eine alte Frau im Ort, die kennt viele Geschichten über Feen und andere Wesen. Sie heißt Alma und wohnt in der alten Mühle. Aber das hast du nicht von mir, verstanden?«

Gervasius wusste, was zu tun war. Allerdings brachte seine neue Klarheit auch neue Schwierigkeiten mit sich. Wie sollte er am hellen Tag zur Mühle kommen, ohne dass jemand es bemerkte? Immerhin lag der Weiler Waltham Holy Cross eine halbe Meile entfernt. Er kam zu dem Ergebnis, dass seine Abwesenheit niemals unentdeckt bleiben konnte, daher brauchte er eine überzeugende Ausrede für sein Fernbleiben vom Unterricht: Er würde unpässlich sein. Doch welche Krankheit sollte er vorschützen? Wenn er Zahnweh angab, würden sie ihn zu dem Quacksalber im Dorf schicken, der den schmerzgeplagten Kranken noch mehr Qual zufügte, indem er ihnen den Zahn mit einer Zange aus dem Kiefer brach. Es wäre besser, ihn plagte ein Leid, das man ihm weder ansehen noch unmittelbar kurieren konnte. Bauchweh. Doch wovon wurde es verursacht? Hatte er etwas Falsches gegessen? Alle aßen die gleichen Speisen, aber er hatte heimlich im Obstgarten Kirschen gepflückt und sich damit den Magen verdorben. Das war gut. Das würde man ihm glauben. Am nächsten Morgen in der ersten Unterrichtsstunde stand er fast widerstrebend von seiner Abschreibarbeit auf und ging zögerlich zum Lehrer, wobei er leidend das Gesicht verzog und sich den Bauch hielt.

»Bruder Zacharias, ich glaube, ich bin krank.«

Der Domherr blickte ihn aus seinen klugen Augen wachsam an. »Warum glaubst du das, Gervasius?«

»Weil mein Bauch schmerzt und ganz hart ist.«

Bruder Zacharias’ Miene wurde besorgter. »Hast du etwas gegessen, das du nicht hättest essen sollen, Junge?«

Gervasius sah betreten auf seine Schuhe.

»Nun rede, Junge, du hältst den Unterricht auf! «

»Es waren wohl die Kirschen aus dem Obstgarten, die mir nicht bekommen sind.«

Jetzt folgte eine Belehrung über den Ungehorsam. Hatte man ihnen nicht immer wieder gesagt, dass sie nicht einfach irgendwelche Früchte wahllos in sich hineinstopfen sollten? Gervasius ließ den Ausbruch des braven Zacharias geduldig über sich ergehen und wartete auf die Entscheidung des Lehrers, die dann auch prompt erfolgte.

»Du begibst dich wieder auf dein Lager, ruhst ein wenig und fastest vorerst. Heute Nachmittag schicke ich dir Bruder Euse-bius. Er wird dir eine selbstgebraute Kräutertinktur verabreichen, die deinem Magen Erleichterung verschaffen wird und dich schnell wiederherstellt. Und jetzt geh! «

Während des Gesprächs hatte Gervasius aus den Augenwinkeln Philip beobachtet, in dessen Gesicht sich eine Mischung aus Bewunderung und Neid zeigte. Ihm konnte er nichts vormachen. Auch wenn sie sich erst seit wenigen Monaten kannten, wusste der Freund doch genau, dass er etwas im Schilde führte. Vielleicht würde er es ihm später erklären, wenn er das Geheimnis des kleinen Volkes gelüftet hatte.

Jetzt machte er sich, begeistert und beschwingt von seiner eigenen List, auf den Weg zum Haus des Dekans. Er ging schleppend und benahm sich so auffällig wie möglich. Falls ihm jemand begegnete, würde das seine Behauptung stützen, er hätte den ganzen Tag in der Dachkammer im Bett verbracht.

Kurz darauf verließ er das Haus durch den Hintereingang und schlich über die Kuhweide hinter dem Haus, die zum Fluss Lea abfiel. Dort angekommen, folgte er dem Treidelpfad in Richtung Dorf. Die alte Mühle befand sich etwa eine Meile vor dem Beginn der eigentlichen Ortschaft, was ihm entgegenkam, weil es ihm so erspart blieb, durch das Dorf laufen zu müssen und Zeugen seiner Geheimniskrämerei zu begegnen. Endlich erhob sich vor ihm das halb verfallene Mühlengebäude. Das alte hölzerne Mühlrad stand bewegungslos im Wasser. Der Fluss staute sich an dieser Stelle zu einem kleinen Teich. Gervasius kämpfte sich zwischen Gestrüpp und hochaufgeschossenem Unkraut hindurch zur Eingangstür. Obwohl diese nur noch schief in den Angeln hing, klopfte er, bevor er eintrat. Es erwartete ihn ein Halbdunkel, das die Unordnung im Raum zuerst weitestgehend seinem Blick entzog.

»Wer da?«, hörte er aus dem Zentrum des Raumes eine knarrende Stimme, die der alten Alma gehören musste. Er näherte sich vorsichtig und erblickte die gekrümmte Gestalt der Alten in einem hohen Lehnstuhl.

»Mein Name ist Gervasius von Tilbury, Madam. Ich komme von der Schule in Waltham. Bruder Giles hat mir erzählt, Ihr wüsstet etwas über… die Wesen, die man das kleine Volk nennt.«

Er machte noch einige Schritte auf Alma zu. Jetzt konnte er ihr Gesicht erkennen, das über und über mit Falten bedeckt war. Die Haut war braun und wettergegerbt, das weiße Haar zu einem unordentlichen Zopf gebunden. Es waren die Augen, die ihn in ihren Bann zogen: Sie waren von einem leuchtenden Blau, oder besser, das unversehrte Auge. Denn eines der Augen war halb geschlossen und das, was man von ihm sehen konnte, war milchig trüb.

»Das kleine Volk, sagst du? Es gibt viele verschiedene Arten: die Draks, die Elfen, die Gnome… «

»Ich habe im Wald von Epping Wesen gesehen, die Menschen ähnelten, doch waren sie kleiner. Und ihre Arme und Beine wirkten ungewöhnlich kurz, wohingegen der Kopf zu groß geraten schien.«

»Setz dich hierhin, Junge. Willst du etwas Suppe?«

»Nein danke. Ich bin nicht hungrig. Sagt, was wisst Ihr über diese Wesen, die ich gesehen habe?«

»Über diese Wesen weiß ich auch nicht viel. Es könnten Gnome gewesen sein. Oder auch Draks. Hast du sie in der Nähe des Flusses gesehen?«

»Nun, der Fluss war nicht in Sichtweite. Erst als wir den Wald verließen, ist er mir wieder aufgefallen.«

»Ich kann dir etwas über Draks erzählen, wenn du willst. Sie leben auf dem Grund von Flüssen und Teichen.«

»Woher wisst Ihr das, Madam?«

Alma lächelte, wobei sie ihr ausgedünntes Gebiss vorführte.

»Sie haben mich entführt und sieben Jahre lang bei sich behalten, als Amme für ihren Nachwuchs. Das war vor vielen Jahrzehnten, als ich noch jung und schön war. Ja, ich war einmal eine Schönheit. Doch das hat mich nicht vor diesem Schicksal bewahrt.«

Sie deutete auf den Innenraum der Mühle, den Dreck, die Unordnung.

»Was fehlt Euch denn, Madam?«

»Es ist die Einsamkeit, die mich hier umgibt und mich ungeschützt meinen Erinnerungen ausliefert.«

»An die Draks?«

»An die Draks, an die Plünderungen und an die Männer. «

»Wie habt Ihr denn geatmet, auf dem Grund des Flusses?«

Die Alte kratzte sich an der Stirn. »Es ist so lange her, Junge. Ich erinnere mich nicht. Alles, was ich noch weiß, ist, dass sie mir am Ende der sieben Jahre einen Beutel mit Goldmünzen umgehängt haben. Das Gold war so viel wert, dass ich mit meinem neuen Mann, den ich kurz nach meiner Rückkehr kennengelernt hatte, die Mühle des Dorfes kaufen konnte. Mein Mann war viele Jahre lang hier Müller, bis er vom Mühlstein erschlagen wurde. Und jetzt sitze ich hier ganz allein.«

»Ich… ich muss gehen, Madam. In der Schule warten sie schon auf mich.«

»Ach, bleib doch noch ein bisschen, Junge! «

Gervasius sprang auf. »Es geht wirklich nicht, Madam, verzeiht. Lebt wohl.«

Bevor Alma noch etwas erwidern konnte, hatte er sich durch den Türspalt geschoben und war davongelaufen.

Dem Kaiser die Welt

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