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Der Kranke

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Am frühen Abend war der Kaiser erwacht. Nachdem der Leibarzt ihn untersucht hatte, durfte Gervasius zu ihm. Ein Ministeriale geleitete den Magister durch dunkle, mit Truhen gesäumte Korridore und über eine enge Wendeltreppe mit steilen Stufen zu dem Kranken. Otto hatte offenbar nach ihm gefragt. Im Turmzimmer glomm trotz der Frühlingswärme ein schwaches Feuer im Kamin. Davor hatte man das Bett des Kaisers gerückt, der in Tücher und Pelze gewickelt dalag, als würde er frieren. Seine gesamte Erscheinung war winterlich. Es schien dem Magister, als hätte sich ein strenger, lähmender Frost dieses Mannes bemächtigt, den er als leidenschaftlich und kraftvoll kannte. Sein Körper war abgemagert und ruhte starr auf dem Lager. Seine Haut war weiß wie Schnee, die Ringe unter den Augen tief. Sie blickten ihn von weit entfernt an, als wären sie überzogen mit einer dicken Eisschicht, durch die Otto nur mit Mühe hindurchzusehen vermochte.

»Magister Gervasius! Mein lieber Freund, setzt Euch auf diesen Stuhl dort«, brachte er schließlich mit matter Stimme hervor.

Gervasius trat näher an das Bett heran und ergriff die Hand des Kaisers, um sie zu küssen. Dann zog er den Stuhl näher zum Bett und nahm Platz.

»Danke, dass Ihr mich empfangt, Eure Majestät.«

»Ich muss Euch dafür danken, dass Ihr gekommen seid, verehrter Magister. Mein Bedürfnis, Euch zu sehen, war groß.«

»Ich freue mich ebenso über das Wiedersehen, kaiserliche Hoheit. Lasst mich Euch nochmals meinen Dank aussprechen dafür, dass Ihr meine Ansprüche an dem Palais in der Stadt Arles bestätigt habt. Das hat mir viel bedeutet.«

»Euer Haus in der Provence, natürlich. Wie ergeht es Euch dort?«

»Sehr gut, Eure Majestät. Das Land ist reich an allen erdenklichen Naturschönheiten und die Stadt eine der prächtigsten und ältesten im Süden des Frankenreiches.«

»Das hört man gerne. Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, diesen Landstrich zu bereisen, als ich noch in der Lage dazu war.«

Die Hoffnungen, die Gervasius auf eine schnelle Genesung des Kaisers gesetzt hatte, schwanden mit jedem Wort, das dieser von sich gab. Auch der Geruch nach Fäkalien, der trotz des Verbrennens von Weihrauch und anderem Räucherwerk noch im Raum hing, trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Dennoch, oder gerade deswegen, beschloss er, Zuversicht auszustrahlen.

»Erlaubt mir, offen zu Euch zu sein, Eure Kaiserliche Hoheit. Meines Erachtens solltet Ihr Euch nicht so schnell geschlagen geben. Noch ist nicht alles verloren. Zwar seid Ihr geschwächt, aber doch noch lange nicht besiegt.«

Ein müdes, aber dankbares Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Herrschers aus.

»Ich schätze Eure Offenheit, Gervasius von Tilbury, habe sie immer geschätzt. Auch wünschte ich, Ihr hättet recht. Doch mein Körper teilt mir in seiner eigenen Sprache etwas anderes mit. Den Inhalt Eures Buches kenne ich noch nicht. Erinnert Ihr Euch an das Versprechen, dass Ihr mir gabt, eine mappa der Welt dazu zu erschaffen? Ohne diese Karte wollte ich das Buch nicht lesen, und dabei bin ich geblieben. Wie steht es nun mit der Karte, Magister, habt Ihr sie inzwischen vollendet?«

Betreten senkte Gervasius den Kopf.

»Ich wünschte, ich könnte mit Ja antworten, Majestät«, erklärte er bedauernd. »Mein Richteramt nimmt meine Zeit sehr in Anspruch, daher ist es mir bisher nicht gelungen, die Karte ausführen zu lassen. Sie befindet sich noch im Stadium der Konzeption. Die Idee allerdings kann ich Eurer Kaiserlichen Hoheit in aller Ausführlichkeit erläutern, wenn Ihr es wünscht.«

Während der Kaiser für einen Moment nachsann, versuchte Gervasius, in diesem kranken Mann den hochgewachsenen, aufbrausenden Herrscher wiederzuerkennen, der er auf dem Höhepunkt seiner Macht gewesen war. Noch vor sechs Jahren hatte eine glänzende Zukunft vor Otto IV. gelegen. Die Hoffnungen der europäischen Welt hatten auf dem Lieblingsneffen des englischen Königs Richard Löwenherz und dem Sohn Herzog Heinrichs des Löwen geruht, der mit starker Hand und entschiedener Vorgehensweise Frieden und Einheit in die zerstrittenen Territorien des Reiches gebracht hatte.

»Eine Idee hilft mir nicht. Die Karte möchte ich in ihrer ganzen Pracht vor mir sehen. Gleich hier könnt Ihr mit der Ausführung beginnen. Ausreichend Zeit habt Ihr ja nun. Es werden Euch alle dafür benötigten Materialien zur Verfügung gestellt werden. Ihr könnt in der Bibliothek der Burg arbeiten, dort gibt es genügend Licht. Außerdem wünsche ich, da ich vermuten muss, dass mir nicht mehr allzu viele Tage zur Verfügung stehen, dass Ihr mir, solange Ihr auf der Burg weilt, Euer Leben erzählt, mitsamt all den wundersamen Episoden, die Ihr in Eurem ›Liber de mirabilibus mundi‹ aufgeführt habt. Rekapituliert Euer Leben, damit handelt Ihr auch einen guten Teil meines Lebens ab, da wir viele gemeinsame Erinnerungen haben. Wollt Ihr das für mich tun, alter Freund?«

Gervasius musste an die ereignisreiche Zeit am Hofe der Plantagenets denken, an die prunkvolle Krönung in Rom und an all die Hoftage, bei denen er dabei gewesen war. Vor Rührung überwältigt, konnte er nur nicken, spürte er doch, wie Tränen in seine Augen traten.

Der Kaiser räusperte sich seinerseits und verlangte in seiner alten befehlsgewohnten Manier: »Dann werdet Ihr, so Gott will, gleich morgen früh nach der Morgenandacht mit dem Erzählen beginnen! «

Die Abendmahlzeit fand ohne den Kaiser in der großen Halle statt. Neben Johannes Marcus, dem Boten Arnulf und weiteren Mitgliedern von Ottos Hof nahm auch die Kaiserin an dem Essen teil. Gervasius erinnerte sich von der Hochzeit im Jahre 1214 an Maria von Brabant als ein ernsthaftes junges Mädchen, mager und blass, das immer ein wenig kränklich wirkte. Das Schönste an ihr waren ihre großen dunklen Augen gewesen, die von solcher Tiefe waren, dass man fürchtete, in ihnen zu ertrinken. Jetzt war aus dem jungen Mädchen eine ebenso ernste junge Frau geworden, die immer noch das kastanienfarbene Haar streng nach hinten gekämmt unter ihrer Haube trug, jedoch deutlich gesünder wirkte als ihr Gatte. Auch hatte sie sich inzwischen eine schlichte, würdevolle Haltung angeeignet, die entweder der Gewöhnung an ihre Stellung als Kaiserin entsprang oder dem Leid durch die Erkrankung ihres Mannes zuzuschreiben war. Während die Vorspeise, eine kräftige Hühnerbouillon, aufgetragen wurde, sprach man über die bevorstehende Ankunft des Abtes Friedrich von Walkenried, der auf die Bitte des Kaisers anreiste und am nächsten Tag erwartet wurde.

»Als der ehrenwerte Abt von der schweren Krankheit meines Gatten erfuhr, ließ er ihm roten Wein und Früchte bringen, was wirklich liebenswürdig von ihm war. Den Kaiser hat das sehr berührt und dazu veranlasst, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, er möchte ihn doch persönlich besuchen kommen. Jetzt, so kurz vor dem Ende, will er sich mit der Kirche aussöhnen, gegen die er, wie er in den letzten Tagen selbst zugegeben hat, zu oft gesündigt hat.«

Es gefiel Gervasius nicht, dass die Kaiserin das baldige Ableben ihres Mannes als unabänderlich hinnahm. Er jedenfalls war noch nicht bereit, Otto einfach aufzugeben. Während die Kaiserin sich weiter über die neue Frömmigkeit ihres Gatten ausließ, wandte Gervasius seine Aufmerksamkeit dem neben ihm sitzenden Johannes Marcus zu, der sich mit gesenkter Stimme nach privaten Dingen erkundigte, von denen die übrigen Anwesenden nicht unbedingt etwas wissen mussten.

»Ich weiß, dass du die Gräfin geliebt hast. Mir musst du nichts vormachen. Und was ist mit dem Mädchen? Lebt sie noch immer in dem Kloster bei Lüneburg?«

Gervasius nickte, nicht erpicht darauf, über diese für ihn so verstörende Angelegenheit zu sprechen, die drohte, sein geruhsames Leben in Arles völlig auf den Kopf zu stellen. Erst im letzten Jahr hatte er von Agnes erfahren, die als Oblatin in einem Benediktinerinnenkloster aufgewachsen war.

»Und so soll es bleiben?«

Der Hauptgang wurde aufgetragen. Schweinebraten mit Klößen und brauner Tunke. Johannes hob seinen Trinkbecher und ließ sich Burgunder nachschenken. Gervasius tauchte seine Hände in die Schale mit Zitronenwasser, die der Diener ihm hinhielt, bevor er antwortete:

»Ich war dort, um mich davon zu überzeugen, dass es ihr an nichts fehlt. Es ist ein hübsches kleines Kloster, eingebettet in eine sanft hügelige, grüne Landschaft. Alles ist in bester Ordnung. Ich hielt es noch nicht für an der Zeit, das Mädchen in Schrecken zu versetzen und ihm so unerwartet den Boden unter den Füßen wegzuziehen.«

Johannes Marcus nahm einen Schluck Wein und betrachtete ihn skeptisch.

»Ich glaube, es ist eher so, mein lieber Gervasius, dass du noch nicht bereit bist, diesen Schritt zu tun. Agnes kann damit sicher viel besser umgehen.«

Gervasius seufzte. »Ich bin älter geworden, Johannes, und Veränderungen zu akzeptieren fällt mir von Jahr zu Jahr schwerer. Für solche Dinge braucht es Zeit, die ich bisher nicht erübrigen konnte. Ich muss mir erst darüber klar werden, wie es weitergehen soll. Doch zuvor müssen wir diese Sache hier« – er deutete in Richtung Turmzimmer – »gemeinsam durchstehen. Ist es bei dir nicht auch so?«

»Du hast recht, Gervasius. Auch ich habe Pläne, die bisher in der Schublade geblieben sind. Aber jetzt braucht Otto uns mehr denn je … Auf die Gesundheit des Kaisers! «

Den letzten Satz hatte er lauter ausgesprochen, damit ihn auch die übrigen Anwesenden hörten, und dabei seinen Becher erhoben. Die anderen taten es ihm gleich.

»Auf des Kaisers Gesundheit!«, kam es von allen Seiten zurück.

Dem Kaiser die Welt

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