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Geteiltes Leid

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Philip erschien weder zur Abendmahlzeit nach der Vesper noch zum Abendgebet der Komplet. Philips Abwesenheit beunruhigte Gervasius. Wenn Philip nur nichts Dummes anstellte! Gervasius wartete bis zur Schlafenszeit ab. Alle Jungen hatten die schmale Stiege zum Dachboden erklommen. Außer Philip. Er fragte die anderen, doch niemand war dem Freund begegnet. Weder im Lavabo noch bei den Latrinen. Es war Zeit zu handeln. Er kletterte die Hühnerleiter hinab und verließ das Haus des Dekans. Draußen dämmerte es bereits. Die Sonne war an diesem Tag glühend rot hinter dem Epping Forest versunken. Jetzt waren von diesem farbenprächtigen Gemälde nur noch einige orangefarbene Schlieren über dem dunklen Schatten des Waldes übrig. Es war windstill, der Geruch reifer Äpfel wehte vom Obstgarten herüber. Seit Tagen hatte Gervasius dort das Fallobst in großen Körben gesammelt. Der Koch würde Most daraus herstellen und einen ganz vorzüglichen Apfelwein. Der Weg zum Haus von Giles de Chau-mont war nicht weit. Als er an der Tür des Domherrn klopfte, spürte er die Aufregung, die er den Abend über unterdrückt hatte, wie eine heiße Woge in sich aufsteigen. Er musste eine ganze Weile klopfen, bis sich die Tür einen Spalt öffnete und Giles de Chaumont ihm ein misstrauisches »Wer da?« entgegenblaffte.

»Ich bin’s, Bruder Giles, Gervasius von Tilbury.«

Die Tür öffnete sich bis zum Anschlag, und Bruder Giles zog ihn am Arm in das warme Haus.

»Was ist los, Gervasius? Was hast du dieses Mal angestellt?«

»Es geht um Philip, Bruder Giles! Er ist zur Schlafenszeit nicht auf unserem Dachboden erschienen. Ich mache mir Sorgen.«

»Glaubst du, er ist davongelaufen?«

»Ich glaube, er ist noch auf dem Gelände. Vielleicht in den Pferdeställen.«

»Warte hier! Ich ziehe mir etwas über, dann werden wir nachschauen gehen.«

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Giles bekleidet mit seiner Alltagstunika und einem Mantel wieder die Treppe heruntergepoltert kam. Zusammen eilten sie durch die kühle Luft zu den Stallungen. Das letzte Tageslicht war verschwunden und hatte einem Halbdunkel Platz gemacht. Die Ställe bestanden aus flachen Holzhütten. Von draußen hörten sie bereits das Wiehern der empfindsamen Vierbeiner, die bei der geringsten Veränderung ihrer Umwelt reagierten.

»Ist ja gut! «, redete Giles auf die Pferde in den Boxen der ersten Hütte ein, die unruhig von einem Bein auf das andere traten, als sie die fremden Menschen wahrnahmen. Die Hütte war schnell durchkämmt. Außer den Pferden war niemand dort. Auch in den anderen zwei Hütten hatten sie kein Glück.

Besorgnis zeigte sich in Bruder Giles’ Gesicht. »Wo könnte er noch sein, Gervasius? Denk nach! «

»Hmm. Pferde und Hunde sind das, was ihm am wichtigsten ist. Vielleicht ist er bei den Hundezwingern, aber um diese Zeit?«

»Einen Versuch ist es wert. Komm! «

Sie fanden ihn bei den Hunden. Er lag zusammengerollt inmitten der Meute im Zwinger. Der Anblick des schlafenden Freundes, den die Hundeleiber von allen Seiten wärmten, rührte Gervasius.

»Das ist unglaublich! «, rief Giles aus.

Der Klang seiner Stimme weckte einige der Hunde, und bald war die gesamte Meute auf den Beinen und kläffte die ungewohnten Besucher an. Philip, dem plötzlich die Wärme der Tiere fehlte, erwachte ebenfalls. Durch das Gitter starrte er sie an. Seine Augen waren gerötet, der Blick verschleiert.

»Ich habe den Brief zu Ende gelesen«, sagte Gervasius laut, um das Hundebellen zu übertönen. »Willst du nicht wissen, was der König dir zu sagen hat?«

Philip schüttelte den Kopf.

»Philip, komm jetzt aus dem Zwinger! «, verlangte Giles, dessen Stimme verriet, wie besorgt ihn die Situation machte.

Der Angesprochene zuckte die Schultern, tätschelte dann seelenruhig die drei Bluthunde zum Abschied und kletterte aus der Luke, die er ordentlich hinter sich verschloss. Sofort waren die Tiere ruhig. Sie wedelten sogar mit den Schwänzen, als Philip ihnen noch einmal zuwinkte.

In dieser Nacht sprach Philip kein Wort mehr. Er ließ sich widerstandslos zurück in das Schlafgemach bringen und legte sich am hintersten Ende des Bettes nieder, wobei er allen den Rücken zudrehte. Gervasius, den die Ereignisse ermüdet hatten und der daher sofort einschlief, konnte am nächsten Morgen nicht sagen, ob Philip geschlafen oder die ganze Nacht wach gelegen hatte. Man sah es ihm nicht an. Er war weiterhin ungewöhnlich blass, aber das war alles. Beim Frühstück nahm er so gut wie nichts zu sich, trank nur seine heiße Milch und starrte auf die Tischplatte, während der Chorherr Basilius mit sonorer Stimme aus dem Römerbrief las:

»Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du eben dasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil recht ist über die, die solches tun.«

Gervasius musste bei diesen Worten an den Brief Henrys II. denken, an den Teil, den Philip nicht mehr hatte hören wollen.

»Du hast recht mit dem König. Er ist ein guter Herrscher«, flüsterte er Philip zu, als sich alle von den Tischen erhoben und das Refektorium verließen. »Er bezahlt deine Ausbildung in Waltham und wird auch für zukünftige Kosten aufkommen, etwa, wenn du noch studieren willst. Die Ländereien deines Vaters werden ab jetzt von seinem Bruder verwaltet werden. Nach dem Tod deines Oheims fällt der Besitz an dich.«

Sie waren in die klare Herbstluft hinausgetreten, die kühl und angenehm auf ihrer Haut ruhte. Philip wandte ihm sein grimmiges Gesicht zu:

»Steht in dem Brief auch, wer genau meinen Vater so hinterhältig ermordet hat?«, presste er hervor, bei den letzten Worten zitterte seine Stimme.

»Nur, dass der Angriff unter der Führung von Guy de Lusig-nan und seinen Brüdern stattfand.«

»Guy de Lusignan«, wiederholte Philip langsam, als wollte er sich den Namen für immer einprägen.

»Er soll ein Grafensohn aus dem Poitou sein. Mehr ist dem Brief nicht zu entnehmen.«

»Ich werde ihn finden.«

»Willst du Rache nehmen?«

»Bei der Ehre meiner Mutter, das will ich. Wenn ich alt genug bin und ihm ein ebenbürtiger Gegner sein kann. Dann werde ich diesen Mörder herausfordern und besiegen.«

»Solltest du das nicht lieber Gott überlassen? Hast du eben bei der Lesung nicht zugehört?«

»Ich werde ihn finden«, beharrte Philip. »Irgendwann.«

Auf dem Weg zum Schulzimmer fing Bruder Giles Gervasius ab.

»Auf ein Wort, Gervasius.« Er blieb stehen und wartete.

»Wie geht es Philip? Er hatte Glück, dass er lebend aus dem Zwinger gekommen ist. Diese blutrünstigen Bestien hätten ihn ebenso gut zerfleischen können! «

»Nicht Philip«, antwortete Gervasius mit Überzeugung. »Sie lieben ihn.«

»Wie auch immer, es wäre gut, wenn du trotzdem in Zukunft ein Auge auf ihn haben könntest. Er scheint ziemlich unberechenbar in seinem Handeln. Wenn jemand nachvollziehen kann, wie er sich jetzt fühlt, dann bist du das.«

»Er ist mein Freund. Ich achte ohnehin auf ihn.«

In den ersten Wochen nach dem Erscheinen des Boten redete Philip wenig und verkroch sich häufig in den Ställen oder trieb sich an den Hundezwingern herum. Doch allmählich begann er sich zu öffnen, erzählte von seiner Mutter oder fragte Gervasius nach seinem Elternhaus.

»Dort, wo ich herkomme, wälzt sich der breite braune Fluss, die Themse, auf Lateinisch Thamis, direkt vor unserer Haustür vorbei. Er fließt bis zur Küste und dort ins Meer. Wenn er nach Tilbury kommt, ist er bereits durch London geflossen. Das habe ich mir früher gerne vorgestellt. Meine Kinderfrau Anne behauptete, London sei der gefährlichste und verderbteste Ort in England. «

Sie hockten im Gemüsebeet und ernteten Rüben, die sie in einen großen Korb warfen.

»Es muss aufregend sein. Stell dir vor: so viele Menschen und Häuser auf einem Fleck! Westminster soll riesig sein. Der Regierungssitz des Königs, wenn er in der Stadt ist. Vater sagt…«

Er unterbrach sich mitten im Satz und verstummte. Gervasius blickte taktvoll in die andere Richtung, während Philip sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte und dabei Erdkrümel über sein Gesicht verteilte.

»Mein Vater hat immer gesagt«, korrigierte er tapfer, »es gibt dort Menschen aus allen Teilen der Welt, sogar aus Asien und Afrika. Du kannst dort alles kaufen, was du dir vorstellen kannst. Du könntest auf einem Schiff anheuern und um die Welt segeln! «

»Die Leute in Tilbury sagen, London sei die Hölle auf Erden.«

»Ich denke eher, es ist das Paradies. Ich will dort leben, wenn ich groß bin.«

Gervasius riss mit Nachdruck eine dicke Rübe aus der Erde und warf sie in den Sack.

»Falls es in London Bedarf für Gelehrte gibt, werde ich mitkommen.«

Philip warf ihm einen dankbaren Blick zu.

»Vermisst du deine Mutter?«, fragte er dann leise.

»Jeden Tag. Aber seit ich weiß, dass sie ein Engel des Lichts ist, kann ich es besser ertragen.«

»Ich tue alles, um nicht an meinen Vater denken zu müssen. Aber es ist schwer. Sein Name liegt mir ständig auf der Zunge. Sein Bild lauert hinter jeder Ecke. Ich fürchte mich davor, dass die Erinnerung mich eines Tages unvorbereitet anspringt wie ein wildes Tier. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte.«

Sie arbeiteten schweigend weiter. Auch wenn sie nicht redeten, verstanden sie einander. Sie waren jetzt verbunden durch den Verlust, den beide erlitten hatten.

Dem Kaiser die Welt

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