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Blutsbande

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Das nächste Jahr begann mit milden, fast frühlingshaften Temperaturen. Der Januar war wärmer als jeder Januar, an den Gerva-sius sich erinnern konnte. Doch der milde Anfang war trügerisch. Ihm folgte ein Kälteeinbruch im Februar, der die Menschen umso härter traf, weil niemand auf ihn vorbereitet war. Der Dorfweiher von Waltham fror zu, und sogar der sonst so muntere Fluss Lea lag erstarrt unter einer mächtigen Eisschicht. Gervasius sorgte sich um die Frühjahrssaat, Philip um die Hunde. Man hatte notdürftige Käfige aus Draht und Kanthölzern gebaut, die man in einer der Scheunen aufstellte, um die Hunde vor dem Erfrieren zu bewahren. Die Scheune hatte keine Fenster und ließ daher die Kälte nicht ein. Es war zwar nicht warm, aber doch warm genug, dass die Tiere überleben konnten. Philip sah häufig nach der Meute. Alle Zeit, die er erübrigen konnte, verbrachte er mit ihnen. Sein Lieblingshund Euripides, ein kräftig gebauter Bluthund mit glänzendem schwarzen Fell, hatte sich einen Holzsplitter in die Pfote getreten. Die Stelle war entzündet und schwoll an. Philip fragte Gervasius, der sich in den letzten Jahren Kenntnisse in Pflanzenheilkunde angeeignet hatte, vor dem Schlafengehen auf dem Dachboden um Rat.

»Hast du überprüft, ob der Splitter vollständig entfernt ist? Die Entzündung ist durch den Fremdkörper entstanden.« Gervasius flüsterte, um die anderen nicht zu stören.

»Es ist schwierig, Euripides so lange festzuhalten. Wenn ich die Pfote nur berühre, jault er herzzerreißend. Außerdem fängt er an zu beißen«, erwiderte Philip ebenso leise.

»Dann ist es wohl das Beste, dem guten Euripides erst einmal ein schwaches Schlafmittel einzuflößen, damit wir uns die Pfote genauer anschauen können. Ich werde dir etwas von dem Beruhigungsmittel abfüllen, das Bruder Basilius aus einem Kräutergemisch herstellt.«

Am nächsten Tag bei der Hauptmahlzeit schob Gervasius Philip eine kleine Flasche aus dunkelbraunem Glas zu.

»Morgen Nachmittag komme ich mit in die Scheune.«

Philip zwinkerte ihm zu und ließ beiläufig die Phiole in die Innentasche seiner Tunika gleiten.

Gervasius hatte Respekt vor den Hunden. Ihm war es ein Rätsel, wie Philip mit diesen unberechenbaren Geschöpfen so entspannt umgehen konnte. Er beobachtete aus sicherer Entfernung, wie sein Freund das durchsichtige Beruhigungsmittel in den Trinknapf tröpfelte und dann mit Wasser auffüllte. Kaum stand der Napf im Einzelzwinger, soff Euripides ihn auch schon leer.

»Durst hast du heute, Euripides. Sehr gut«, lobte Philip und tätschelte den kräftigen Nacken des Tieres. Die beiden rangelten eine Weile, dann wurden Euripides’ Bewegungen immer langsamer. Der Hund legte sich hin und war innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen.

Die Jungen schlichen heran und öffneten die Käfigtür. Philip drehte das vom Schlaf schwere Tier mühsam auf den Rücken. Gervasius kroch mit gemischten Gefühlen näher. Was, wenn der Trank nicht stark genug war und Euripides aufwachte, während sie an seiner Pfote herumdokterten? Der Hund gab im Schlaf ein leises Knurren von sich. Gervasius zuckte zusammen.

»Der träumt nur«, beruhigte ihn Philip.

Die Unterseite der Pfote war stark angeschwollen. Gervasius musste das Tier wohl oder übel anfassen, um die Pfote nach den Überresten des Splitters abzutasten. Er tat es mit leicht zitternder Hand. Es dauerte nicht lange, da spürte er etwas Festes, Längliches.

»Ich hab den Splitter«, verkündete er. »Gib mir die Pinzette!«

Philip reichte ihm das metallene Instrument. Gervasius atmete tief durch und stocherte dann so lange in der Wunde herum, bis er den Splitter erwischt hatte. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Zwinkerte der Hund, oder bildete er sich das nur ein? Rasch zog er den Splitter heraus.

»Lass uns den Käfig verlassen, bevor dein Freund aufwacht.«

Er kletterte hastig aus dem Zwinger. Philip besah sich noch kurz die Pfote und folgte ihm dann.

»Vergiss nicht die Tür zu verriegeln! «

»Das mache ich doch immer.«

Gervasius hielt noch immer die Pinzette umklammert. Jetzt fiel ihm auf, dass seine Hände zitterten.

»Jesus, Maria und Josef! Danke Herr, dass du ihn hast schlafen lassen.« Er bekreuzigte sich.

Philip betrachtete ihn grinsend. »Danke! Du bist ein echter Freund. Du hast Euripides gerettet! «

»Gern geschehen«, murmelte Gervasius, dem der Gefühlsausbruch Philips ein wenig peinlich war. Doch er war zufrieden mit sich. Immerhin hatte er seine Angst besiegt.

Philip bestand darauf, dass sie »Blutsbrüder« wurden. Das hatte er von einem der älteren Jungen, Eblis de Roucy, aufgeschnappt, dessen Eltern weitläufige Besitzungen in der Normandie besaßen. Eblis hatte die ersten sieben Lebensjahre jenseits des Kanals verbracht und schwärmte nun Philip von den dortigen Sitten vor. Unter den Jungen seines Dorfes sei es üblich gewesen, mit dem besten Freund einen Pakt zu schließen, der dann mit dem Blut beider besiegelt wurde. Gervasius war von der Idee wenig begeistert. Warum sollte er sein kostbares Blut vergießen, da sie doch ohnehin Vettern waren?

»Wir sind doch sowieso verwandt. Wollen wir uns die Sache mit dem Blut nicht sparen und stattdessen mit Messwein aus der Kapelle anstoßen?«

»Das ist nicht das Gleiche! Es ist ganz einfach. Ein kleiner Schnitt in die Hand mit dem Messer. Dann legen wir kurz die Wunden übereinander, und unser Blut vermischt sich.«

Philip griff schnell nach dem Messer und brachte sich kurz entschlossen unter der Tischplatte einen Schnitt bei. Gervasius, der neben ihm saß, bemerkte, wie ein hellrotes Rinnsal aus dem Arm des Freundes kroch. Die Intensität der Farbe überraschte ihn. Er hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen. Kurz darauf stieß Philip ihn an, und er nahm vorsichtig unter dem Tisch das Messer entgegen. Mit einem zögerlichen Streich ritzte er die unversehrte Haut seines Armes auf. Der Schnitt begann sofort zu bluten.

»Jetzt!«, zischte er Philip zu. Unter der Tischplatte pressten sie ihre Verletzungen aufeinander. Dann trennten sich ihre Arme wieder, und jeder wischte sich unauffällig das Blut am Ärmel ab. Vor Unterrichtsbeginn rannte Gervasius noch schnell zu Basilius’ Gewächshaus und pflückte einige Stängel eines blutstillenden Krautes. Die Hälfte legte er auf seine eigene Wunde, den Rest gab er an Philip weiter.

Die Hochstimmung Philips über ihre Blutsbrüderschaft hielt nicht lange an. Es gab, außer den Dingen, die sie im Unterricht lernten, wenig, womit er sich beschäftigen wollte. Bald langweilte ihn der immer gleiche Alltag so sehr, dass er darüber nachdachte, nach London wegzulaufen.

»Wie willst du in einer Stadt wie London überleben?«

»Ich werde warten, bis der König wieder nach Westminster kommt, dann werde ich ihn bitten, mich als Mitglied seines Hofes aufzunehmen. Er hat ein Interesse an mir. Das hat er in seinem Brief deutlich zum Ausdruck gebracht.«

»Aber der König wird nicht in London bleiben. Sie werden weiterziehen. Sie werden den Kanal überqueren und sich lange in der Normandie und in Anjou aufhalten.«

»Dann werde ich mit ihnen ziehen. Zumindest bis ich so alt bin, alleine in London leben zu können. Ich werde mich zum Ritter ausbilden lassen, reiten und kämpfen lernen. Und jagen. Ich werde mit Falken jagen und mit Hunden.«

»Willst du nicht wenigstens warten, bist du das Lateinische richtig beherrschst und die antiken Autoritäten lesen kannst?«

Philip blickte ihn beinahe mitleidig an. »Gervasius, ich bin nicht wie du. Das Lesen und Schreiben, und das Nachdenken darüber, bereiten mir keine Freude. Für mich ist es nur eine lästige Pflicht. Ich liebe Dinge, die man anfassen kann, wie Hunde und Pferde. Ich will Abenteuer erleben. Die Welt erobern. Das alles kann ich im Gefolge des Königs.«

Darauf hatte Gervasius keine Antwort. Er hoffte nur, dass noch viel Wasser die Lea hinunterfließen würde, bis Henry IL wieder in London eintraf. Vielleicht hatte Philip bis dahin seine Meinung geändert. Sein Wunsch wurde erfüllt, auf eine Art, die er sich niemals hätte vorstellen können.

Mitte März wurde es allmählich wärmer. Tauwetter setzte ein und verwandelte das Gelände um Waltham in Morast. Ständig blieb man mit den Füßen im tiefen Matsch stecken. Mit Pferden kam man kaum schneller voran. Und mit Fuhrwerken gar nicht mehr, da die Räder sich sofort im dicken Schlamm festfuhren. Erst als der Monat, der nach dem heidnischen Kriegsgott benannt worden war, sich seinem Ende zuneigte, wurden die Straßen besser, und die Welt konnte wieder nach Waltham kommen. Ein erster Markt wurde auf einem Stück Brachland außerhalb des Dorfes abgehalten. Die Händler brachten außer Vieh, Pferden, Stoffen und Töpferwaren auch Neuigkeiten vom Hof der Plantagenets mit nach Waltham: Der junge König Henry hatte heimlich im Schutz der Dunkelheit das Lager seines Vaters in Chinon in der Normandie verlassen, um auf die Seite des Erzfeindes überzuwechseln. Der Grund dafür war, dass sein Vater ihm nicht die Herrschervollmacht einräumte, die ihm, wie er meinte, zustand. Am 8. März war er am Hof des französischen Königs Ludwig VII. in Chartres eingetroffen, wo man ihn mit offenen Armen empfing. Ludwig versprach dem ältesten Sohn des Mannes, der ihm Eleanor von Aquitanien ausgespannt hatte, ihn künftig in seinem Bestreben um mehr Macht zu unterstützen. Schließlich hatte Henry IL seinen Sohn im letzten Jahr erneut durch Routrou, den Erzbischof von Rouen, in Winchester krönen lassen und damit seinen Anspruch auf Herrschaftspartizipation nochmals bestätigt. Der ältere Henry hatte den Flüchtigen verfolgt, um ihn von diesem Schritt abzuhalten, doch war der junge Henry schneller gewesen. Darüber, wer von den beiden Königen im Recht war, teilten sich die Meinungen. Die einen hielten die Ansprüche des jungen Königs für gerechtfertigt. Die anderen warfen ihm Treulosigkeit und Ungehorsam gegenüber dem Vater vor, der alles tat, um die Zukunft seiner Söhne abzusichern. Zu den Letzteren gehörte Philip.

»Wie kann er seinen Vater nur derartig im Stich lassen? Blut ist doch dicker als Wasser! «

Gervasius war der Meinung, dass er zu wenig über die Beteiligten wusste, um sich ein Urteil darüber erlauben zu können.

»Ich schätze, unter diesen Umständen wird Henry nicht so schnell wieder nach London kommen, wenn er jetzt den Konflikt mit seinem Sohn austragen muss.«

Philip zuckte trotzig die Schultern. »Ich kann warten.«

Gervasius strich gedankenverloren über die dünne Narbe, die er von ihrem Pakt zurückbehalten hatte. Das war schon eine seltsame Sache mit dem Blut. Hatte sich etwas zwischen ihnen verändert? Wenn ja, dann nicht zum Besseren. Brüder stritten häufig, das hatte er von den anderen Jungen mitbekommen. Seit sie durch ihr Blut verbunden waren, gab es vermehrt Spannungen zwischen ihnen, ähnlich wie bei den Plantagenets.

Dem Kaiser die Welt

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