Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 21
Thomas Becket
ОглавлениеDie Dinge nahmen wieder ihren gewohnten Lauf. Gervasius beherrschte inzwischen alle Buchstaben des Alphabets und durfte mit eigener, frisch geschnittener Feder und schwarzer Tinte aus Dornenrinde auf Pergamentresten das Schönschreiben von einfachen lateinischen Wörtern üben. Am Anfang verschmierte die Tinte unter seinen ungeübten Fingern das Geschriebene noch bis zur Unleserlichkeit, doch nach einigen Versuchen gelangen ihm erste ansehnliche Buchstabenketten. Bruder Zacharias benutzte für ihre Übungen die Texte der Psalmen und Hymnen, die sie ohnehin vom Stundengebet kannten. So lernten sie die Bedeutung der Worte, deren Klang ihnen bereits vertraut war. Außerdem durfte Gervasius, als der fähigste Schüler, früher als vorgesehen mit den Grundregeln der lateinischen Grammatik beginnen. Denn die Kenntnis der Vokabeln allein half einem Lateinschüler wenig, wenn er nicht das Deklinieren und Konjugieren beherrschte.
Der Dezember brachte kühles, meist sonniges Wetter und den ersten Frost. Über Nacht legte sich Raureif über Wiesen, Weiden und die winterharten Kräuter und Gemüsesorten des Küchengartens. Die Bäume, ihres Laubes beraubt, streckten kahle Zweige wie dünne Hexenfinger anklagend in die kalte Luft. Wenn die Jungen tagsüber fröstelnd zum Lavabo liefen, um sich vor der Mahlzeit zu waschen, stand ihr Atem in einer weißen Wolke vor ihren Mündern. Die Tage vergingen rasch mit den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Die Kirche musste geschmückt, ein Krippenspiel einstudiert werden. Die Weihnachtschoräle mussten geübt und die Liturgie wiederholt werden. Bruder Zacharias las ihnen die immer wieder anrührende Geschichte der Geburt Jesu vor. Aus der Küche wehten ihnen zu allen Tageszeiten verlockende Düfte entgegen. In der Vorweihnachtszeit war das Essen besonders schmackhaft und reichhaltig und daher die Vorfreude auf das Christfest bei den Bewohnern von Waltham besonders groß. Und dann war er endlich da, der Tag der Geburt des Gottessohns, der sein Leben für die Menschen gegeben hatte: Die Messen waren sehr feierlich. Das, was sonst zur Gewohnheit erstarrt zu sein schien, erhielt in der friedvollen Atmosphäre des Christfestes einen neuen Sinn. Am Abend wurde ihnen ein großes Festmahl mit mehreren Gängen aufgetragen. Man saß länger als üblich am Tisch. Es fand keine Lesung statt. Philip und Gervasius nutzten die seltene Gelegenheit, sich ausführlich auszutauschen.
»Ich frage mich, was mein Vater zu dieser Jahreszeit tut. Die Felder benötigen keine Zuwendung, die meisten Dienstboten haben ein paar Tage frei, um mit ihren Familien das Christfest zu begehen. Ich bin hier in Waltham, und Mutter ist an einem Ort, wo es immer hell ist. Ich hoffe, er leidet nicht zu sehr an der Einsamkeit.«
»Mein Vater hält sich, soviel ich weiß, mit dem königlichen Hof in der Normandie auf. König Henry II. wollte Weihnachten in Alençon verbringen. Aber manchmal ändert er seine Pläne urplötzlich, und dann müssen alle doppelt arbeiten, um seinen Wünschen doch noch entsprechen zu können.«
»Du meinst, dein Vater ist mit dem König persönlich bekannt?«
»Er ist seit einigen Jahren am Hof des Plantagenets. Er gehört zu den Rechtsberatern Henrys II. Du glaubst nicht, wie viele Tage im Jahr sie unterwegs sind! Der König reist mit seinem Hof von Burg zu Burg, von Schloss zu Herrenhaus, durch das ganze Land, hält Gericht und hört sich die Bitten seiner Untertanen an. Wenn ich groß bin, werde ich auch am Hof leben, jagen und den Liedern der Troubadoure lauschen.«
Philip erzählte ihm Anekdoten vom Königshof, der schönen Königin Eleanor und ihren Söhnen, die er von seiner Mutter aufgeschnappt hatte.
Dann waren die Feiertage zu Ende, und der Alltag kehrte wieder in Waltham ein. Trotzdem erwartete sie auch am vorletzten Tag des Jahres ein sehr reichhaltiges Mahl. Die Reste von den üppigen Banketten der Weihnachtszeit mussten schließlich verwertet werden. Im Refektorium brannte ein Feuer im großen Kamin. Zur Vorspeise gab es dampfende Hühnerbrühe mit Gemüse, danach gebratenen Kapaun mit gebackenen Kohlrüben. Gervasius genoss die Wärme des Kaminfeuers im Rücken und das wohlige Gefühl der heißen Suppe in seinem Magen. Im Hintergrund ertönte die dunkle Bassstimme des Domherrn Walter, der aus dem Markusevangelium las. Alle fuhren zusammen, als die Tür zum Refektorium aufsprang. Ein Bote kam hereingestürzt. Sein Mantel war aus feinem scharlachfarbenen Stoff, was darauf hindeutete, dass er von einem hohen Herrn geschickt worden war. Er blieb schwer atmend vor dem Dekan stehen und stellte sich als Albert von Evesham vor, der in seiner Eigenschaft als Bediensteter des Erzbischofs von Canterbury erschienen war. Geoffrey Rufus, der es überhaupt nicht schätzte, wenn man ihn beim Essen störte, wartete mit missmutigem Gesichtsausdruck darauf, dass der Bote endlich sein Anliegen vorbrachte. Auch die Blicke der anderen Anwesenden richteten sich nun auf den Mann. Jetzt hatte Albert von Evesham die Aufmerksamkeit aller Chorherren, Schüler und Bediensteten.
»Der Erzbischof ist tot! Man hat ihn heimtückisch ermordet«, brachte er endlich heraus.
Die darauffolgende Stille hielt nur wenige Augenblicke. Sie wurde abgelöst von einem gewittergleichen Ausbruch von Entsetzensrufen, Nachfragen, Trauerbekundungen und lautstark geäußerten Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Mitteilung.
»Es ist wahr! «, bekräftigte Albert von Evesham seine Aussage mit erhobener Stimme und verschaffte sich so erneut Gehör.
»Vier Männer des Königs haben sich gewaltsam Zutritt zur Kathedrale von Canterbury verschafft und dort dem Leben des ehrwürdigen Erzbischofs Thomas Becket ein vorzeitiges Ende gesetzt.«
»Das kann nicht sein«, murmelte Philip leise neben Gerva-sius. »Das würde Henry niemals tun. Sie waren zwar zerstritten, aber ermorden lassen würde der König seinen ehemaligen Freund ganz sicher nicht! «
Wieder brach Unruhe aus. Jeder wollte seine Meinung zu der Angelegenheit kundtun, und erst nach einer geraumen Weile war der Aufruhr einem allgemeinen betretenen Schweigen gewichen. Dem Boten war ein Platz an der Tafel in der Nähe des Dekans angeboten worden. Albert von Evesham machte sich hungrig über Kapaun und Kohlrüben her und trank innerhalb kürzester Zeit drei Becher besten Weins, während der Rest der Tischgesellschaft, der bereits die Mahlzeit beendet hatte, ihm ungeduldig dabei zusah. Man ließ dem Mann gerade genug Zeit, sich satt zu essen, dann wurde er erneut mit Fragen bestürmt.
Dem Großteil der Anwesenden war der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen dem früheren Kanzler Thomas Becket und seinem König Henry II. bekannt. Auch Gervasius hatte von der Auseinandersetzung gehört. Der König selbst hatte dem Ermordeten sein Amt verschafft. Doch nach kurzer Zeit wurde offenbar, dass Becket sein geistliches Amt ernster nahm, als der König oder sonst jemand es erwartet hatte. Er schlug sich ganz auf die Seite der Kirche und verteidigte fortan nur noch deren Ansprüche. Es ging dabei vor allem um die Sonderbehandlung von Geistlichen vor Gericht. Während der König darauf bestand, dass verbrecherische Gottesmänner sich, wie der Rest der Menschheit, vor einem weltlichen Gericht für ihre Verbrechen zu verantworten hätten, wollte Thomas Becket durchsetzen, dass nur ein kirchliches Gericht ein Urteil in solchen Fällen sprechen dürfte. Der Streit schwelte jahrelang vor sich hin, flammte schließlich heftig auf und entwickelte sich zu einer Feuersbrunst, die den Erzbischof aus England vertrieb und ihn dazu zwang, auf dem Kontinent Schutz zu suchen. Keine der beiden Parteien war bereit, nachzugeben, und doch versuchte man mehrfach, sich offiziell wieder zu versöhnen. Allerdings hatte Henry dem »Verräter« jedes Mal den Friedenskuss verweigert, welcher ein endgültiges Verzeihen seinerseits symbolisiert hätte. Wegen des Streites hatte Henry IL im Juni des Jahres seinen fünfzehnjährigen Sohn Henry, statt wie üblich vom Erzbischof von Canterbury, vom Erzbischof von York zum König krönen lassen. Danach war es zu erneuten Verhandlungen gekommen, und Becket war so unvorsichtig gewesen, nach Canterbury zurückzukehren.
»Es geschah vor zwei Tagen. An den Tagen davor hatte der Erzbischof – Gott sei seiner Seele gnädig – noch Exkommunikationen gegen seine Gegner ausgesprochen, die es gewagt hatten, ihn nach seiner Rückkehr offen anzufeinden. Das Volk dagegen hatte ihm einen großartigen Empfang bereitet. Die Namen der Mörder sind mir nicht bekannt. Doch der König wird wissen, wem er den Auftrag gegeben hat.« Der Bote schaute herausfordernd in die Runde, doch niemand reagierte.
Philip schüttelte stumm den Kopf. Er wusste, dass er nicht offen seinen Unmut äußern durfte, schließlich war er nur ein Kind. Später, nach dem letzten Stundengebet des Tages, auf dem Weg von der Kirche zum Haus des Dekans, kam er auf das Thema zurück.
»Wie kann dieser Mann es wagen, dem König die Schuld an der Tat zu geben? Henry II. hat einen aufrechten Charakter; er würde nie jemanden heimtückisch ermorden lassen! «
Gervasius spürte, wie aufgebracht sein Freund war, und bemühte sich um Ausgleich.
»Ich weiß zu wenig über den König, um das beurteilen zu können. Doch ich glaube auch nicht, dass er die Tat beauftragt hat. Für so dumm halte ich ihn nicht. Die Sache wird sich sicher bald aufklären. Was ich nicht verstehe: Warum hat Henry seinen ältesten Sohn jetzt schon zum König krönen lassen?«
»Mein Vater sagt, es war die Absicht des alten Henry, seine Ländereien möglichst frühzeitig unter seinen Söhnen aufzuteilen, um die Nachfolge zu sichern. Aber so richtig nachvollziehen kann ich diese Entscheidung auch nicht. Es heißt, der junge König besäße mehr Stolz, als gut für ihn sei, und hielte sich für etwas Besseres als sein eigener Vater, weil dieser nur von einem Herzog abstammt, während er selbst Sohn eines Königs ist. Das Verhältnis zwischen den beiden wird durch den Tod des Erzbischofs nicht besser geworden sein.«
»Wieso das?«
»Der junge Henry wurde zwei Jahre lang im Hause Beckets erzogen, bevor dieser nach Frankreich fliehen musste. Er soll ein herzliches Verhältnis zu seinem Ziehvater gehabt haben.«
Auch nachdem Albert von Evesham am Tag nach Neujahr die Rückreise nach Canterbury angetreten hatte – das Festessen am Silvesterabend hatte er sich nicht entgehen lassen –, legte sich der Aufruhr, der durch die Nachricht vom Tode Beckets in Wal-tham ausgebrochen war, nicht sogleich. Noch Wochen später erhitzte die Frage nach der Schuld des Königs die Gemüter. Bei der ersten Messe im Frühjahr brachte der Cellerar von einem Londoner Händler in Erfahrung, was weiter geschehen war. Henry IL hatte, kurz nachdem er von der Tat erfahren hatte, mit einem Teil seiner Ritter ein Schiff nach Irland bestiegen, um in diesem noch größtenteils heidnischen Land seine Macht weiter auszudehnen. Nach erfolgreicher Eroberung verzögerte schlechtes Wetter mit heftigen Stürmen seine Rückkehr um mehrere Monate. In der Zwischenzeit hatte sich um den Schrein des gemeuchelten Erzbischofs bereits ein reger Kult entwickelt. Der Mann, der sich gegen den mächtigen König gestellt und dafür mit dem Leben bezahlt hatte, wurde vom Volk wie ein Heiliger verehrt. Thomas Becket war zum Märtyrer geworden.