Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 15
Waltham
ОглавлениеZwei Tage später erreichten sie Waltham Holy Cross, das aus dem Kollegium der zwölf Chorherren, der von ihnen betreuten Kirche und dem dazugehörigen Weiler bestand. Gervasius, der sich an Bruder Giles hatte festklammern müssen, um nicht vom Pferd zu fallen, war mehr als erleichtert, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Als er sich umsah, bot sich ihm ein erfreulicher Anblick. Der fischreiche Fluss Lea wand sich in Serpentinen durch das Umland mit seinen saftigen Weiden. Gleich hinter den bescheidenen, aber hübschen Wohnhäusern der Domherren begann eine große Wiese mit Obstbäumen. Unweit der Kirche entdeckte er einen akkurat angelegten Gemüsegarten, in dem eine Vielzahl von Gemüsesorten wuchsen, deren Namen er nur zum Teil kannte. Und gleich daneben befand sich ein Kräutergarten ähnlich großzügigen Ausmaßes. In Sichtweite begann der Wald. Er musste wieder an den letzten Abschnitt ihrer Reise denken, als sie durch den endlos erscheinenden Epping Forest geritten waren, ein weitläufiges Waldgebiet östlich von Waltham, dessen große alte Bäume ein geheimnisvolles Refu-gium ewigen Schattens geschaffen hatten. Als Giles ab und an dem Pferd erlaubt hatte, zur Erholung in eine langsamere Gangart zu fallen, hatte Gervasius sich wiederholt umgedreht, weil er ein Rascheln hinter sich hörte und aus den Augenwinkeln kleine Gestalten durch das Unterholz huschen sah. Er war sich sicher, dass es keine Tiere waren, die er kannte. Vermutlich überhaupt keine Tiere. Er hatte seinen Begleiter darauf aufmerksam gemacht. Giles hatte gelacht und ihm erzählt, dass in seiner Heimat Irland diese Wesen »das kleine Volk« genannt wurden.
»In England heißen sie Elfen oder Feen. Es gibt verschiedene Arten von ihnen. Diese Wesen sind weder Menschen noch Tiere.«
Aber was waren sie dann? Und warum schien es ihnen Freude zu bereiten, verängstigte Reisende zu verwirren? Darauf hatte auch Bruder Giles keine befriedigende Antwort gehabt.
»Die Welt ist voller rätselhafter Dinge, die wir nicht erklären können. Doch sie alle haben ihren Sinn im göttlichen Plan«, war alles, was er dazu angemerkt hatte. Gervasius jedoch hatte sich fest vorgenommen, mehr über diese schattenhaften Wesen herauszufinden. Wozu war schließlich eine Schule da?
Er nahm jetzt zum ersten Mal bewusst die Kollegiumsanlage mit der prächtigen steinernen Kirche wahr, an die sich mehrere Gebäude neueren Datums schmiegten und ein Viereck bildeten, in dessen Mitte sich ein Innenhof öffnete. Giles begrüßte freundlich zwei junge Männer, die bei ihrer Ankunft aus dem Gebäude gelaufen waren, und wies sie an, Gervasius’ Habseligkeiten in das Haus des Dekans zu tragen, das nur wenige Hundert Schritte von der Hauptanlage entfernt stand, ebenso wie die Häuser der anderen Domherren. Dann nahm er den Jungen an die Hand und führte ihn herum.
»Das viereckige Gebäude mit Innenhof ist der Kreuzgang, in dem sich auch das Dormitorium, der Kapitelsaal und das Refektorium befinden«, erklärte ihm Giles.
Er durfte einen Blick in die großzügig mit Reliquiaren und Wandgemälden ausgestattete Kirche werfen, in der es modrig und einschüchternd nach Weihrauch und Kerzenqualm roch. An den Wänden hingen wertvolle Tapisserien, die Messgefäße und Kerzenleuchter glänzten golden oder silbern. Vor dem mit Blattgold geschmückten Hochaltar, auf dem eine Reihe Lichter die Dunkelheit durchbrach und eine erleuchtete Insel bildete, hielt Bruder Giles inné und zeigte ihm eine Steinplatte zu ihren Füßen.
»Dies ist das Grab des ehrwürdigen Königs Harold Godwine-son, der vor vielen Jahren diese Kirche in Stein neu erbaute, nachdem er vor dem wundertätigen heiligen Kreuz gebetet hatte und dadurch von seiner Alterslähmung geheilt worden war.«
Er zeigte ihm die fein gearbeiteten Statuen aus schwarzem Purbeck-Marmor, die die zwölf Apostel darstellten. Sie trugen die Vorderseite des vergoldeten Hauptaltars. Dann ging er voran in die Ostkapelle. Hier befand sich das Holzkreuz mit der lebensgroßen Figur des Heilands, die aus einem glänzenden schwarzen Stein zu sein schien. Die beeindruckende Arbeit war teilweise mit Blattgold überzogen.
»Dieses heilige Kreuz hat Tovi der Stolze von Montacute in Somerset an diesen Ort gebracht, nachdem ein Schmied im Traum eine Vision hatte, die sie zu der Stelle geführt hatte, an der die Figur des gekreuzigten Heilands vergraben lag. Nachdem man den Fund erfolgreich aus dem Erdreich geholt hatte, traf Tovi schließlich die Entscheidung, dem Kreuz zu Ehren in dem weitläufigen Waldgebiet von Waltham, wo er eine Jagdhütte besaß, eine Kirche zu errichten, die damals ganz aus Holz bestand. Du wirst im Unterricht Genaueres darüber hören.«
Dann brachte Giles ihn in das Arbeitszimmer des Dekans, das sich ebenfalls im Hauptgebäude befand.
»Dekan, darf ich vorstellen: Dies ist Gervasius von Tilbury, Sohn Roberts von Tilbury. Seine Mutter Ada ist eine Geborene von Salisbury. Gervasius, dies ist unser Dekan: Geoffrey Rufus.«
Gervasius verbeugte sich vor dem hageren Mann mit den strengen Gesichtszügen. Sein Haar war dunkelbraun, der Bart ein mühsam gestutztes Gestrüpp drahtiger Haare, in das sich erste graue Fäden mischten. Die Augen lagen tief in den Höhlen, waren schwarz wie Kohlenstücke und, so stellte Gervasius es sich vor, glühten im Dunkeln wie diese.
»Nun, Gervasius von Tilbury, willkommen in unserem bescheidenen Kollegium. Da dein Vater für dich eine angemessene Summe zahlt, darfst du zusammen mit den anderen auswärtigen Schülern in meinem Haus leben. Trotzdem wirst du nicht viel von mir und meiner Frau sehen, denn den größten Teil des Tages wirst du in der Schule verbringen. Giles sagte mir, du kannst es gar nicht abwarten, ein Gelehrter zu werden. Lass dir von mir eins sagen: Es ist noch kein Magister vom Himmel gefallen. Vor den Lohn hat der Herrgott den Schweiß gesetzt. Du wirst hart arbeiten müssen, wenn aus dir einmal etwas werden soll. Glaub nicht, das wäre ein reines Vergnügen! «
Diese Worte dämpften Gervasius’ Begeisterung ein wenig. Doch Giles warf ihm einen ermunternden Blick zu, und seine angeborene Zuversicht gewann schnell wieder die Oberhand.
»Giles, du kannst den Jungen jetzt in den Unterricht bringen und vorstellen.«
Mit diesen Worten waren sie entlassen. Auf dem Weg durch den Kreuzgang sagte Giles: »Jetzt hast du unseren Dekan kennengelernt. Er gibt sich oft gröber, als er ist. Aber er ist ein guter Hirte für unsere kleine Herde, glaub mir.«
Gervasius nickte. Seine Aufmerksamkeit galt dem Ausblick durch die Fensterarkaden auf den Innenhof mit seinem großen Ziehbrunnen. Bruder Giles folgte seinem Blick.
»Ehrfurcht gebietend, nicht wahr? Solche prächtigen Brunnen haben sonst nur die Zisterzienser.«
Hinter dem Kapitelsaal war der Kreuzgang über das Viereck hinaus verlängert worden. In diesem Anbau befand sich der Schulraum. Giles klopfte an der schweren Tür, die den großen Raum vom Kreuzgang trennte. Als sie eintraten, blickten ihnen elf neugierige Augenpaare entgegen. Eins davon gehörte dem Lehrer, Bruder Zacharias, der sich gerade über die Wachstafel eines der Jungen gebeugt hatte, um dessen Versuche, das Alphabet aufzuzeichnen, zu überprüfen. Der Lehrmönch war ein kleines, dünnes Männchen. Auf seinem Kopf befand sich kein einziges Haar mehr. In sein Gesicht hatten sich tiefe Lachfalten eingegraben, und seine Augen blickten wohlwollend, aber bestimmt. Gervasius fühlte sich augenblicklich wohl in der Schulstube.
»Wir sprechen später darüber, Philip«, sagte Zacharias knapp zu dem blonden Jungen, der in Gervasius’ Alter zu sein schien. Der Junge legte die Tafel auf das Pult vor sich und blickte ihn mit unverhohlener Neugierde an. Dann zwinkerte er ihm zu. Bruder Zacharias bedeutete ihm und Giles, mit nach vorne zu seinem eigenen Pult zu kommen. Sie folgten ihm.
»Du bist also der neue Schüler. Gervasius, nicht wahr? Ich werde deinen Namen gleich in das Schulregister eintragen, damit alles seine Ordnung hat. Und woher stammst du?«
»Ich bin der Sohn des Robert von Tilbury.«
»Wo sind deine Sachen? Pergament, Wachstafel, Tinte?«
»Sein Vater hat für alles sehr großzügig gesorgt, Bruder Zacharias.«
»Nun, wenn das so ist. Dann bekommst du als Erstes das Alphabetbuch. Sobald du das Alphabet beherrschst, gibst du es mir zurück, verstanden?«
Gervasius betrachtete neugierig das große, mit vielen Zeichen beschriebene Pergamentblatt, welches auf einer dünnen Holzplatte festgeklebt war, die man zusammenklappen konnte wie ein Buch. Die Zeichen waren in schwarzer Tinte gemalt, am Anfang jeder neuen Zeile gab es eine Absatzmarkierung in leuchtend roter Tinte. Tatsächlich war das Rot so hell, dass es ihn an frisches Blut erinnerte. Das Alphabet. Allein das Wort besaß schon einen Wohlklang für ihn. Giles lächelte, als er sah, mit welcher Freude er das Buch entgegennahm.
»Dann wünsche ich dir viel Erfolg bei deinen Studien, Gervasius. Auf bald.«
Gervasius bekam einen Platz weiter hinten im Raum zugewiesen. Es war das einzige noch freie Pult. Behutsam legte er sein Alphabetbuch vor sich auf die Tischfläche und ließ sich auf dem alten Schemel nieder.
»Nun, Gervasius. Wir sprechen hier Französisch, weil auch die jüngsten Schüler verstehen sollen, worum es geht. Geschrieben und gelesen wird jedoch nur in Latein. Zuerst wirst du nicht wissen, was du da nachsprichst oder schreibst. Aber nach und nach wird dir der Klang der Worte vertraut werden, und du wirst auch ihre Bedeutung erfassen können.«
Bruder Zacharias blickte auffordernd zu dem blonden Jungen hinüber. »Philip, nimm deine Buchstabentafeln und setz dich zu Gervasius. Du kannst ihm die Buchstaben erklären, die du bereits gelernt hast.«
»Aber Bruder Zacharias, ich bin doch selbst erst beim F angelangt! «
»Das macht nichts. Die restlichen lernst du dann mit Gervasius gemeinsam. Er soll ja ein helles Köpfchen sein und sehr gelehrig.«
Philip nahm seine Tafel und seinen Schemel und setzte sich neben ihn.
»Hallo Vetter«, sagte er grinsend. Gervasius starrte ihn an.
»Wir sind verwandt?«
»Sehr entfernt. Mein Vater hat es mir erklärt, aber es war so kompliziert, dass ich es wieder vergessen habe.«
»Davon hat mir nie jemand etwas erzählt! «
»Wahrscheinlich weil es so kompliziert ist.«
»Ruhe jetzt! Darüber könnt ihr euch beim Essen unterhalten. Jetzt wird gearbeitet! Wir haben schon genug Zeit verloren! «
Philip schob ihm etwas lustlos eine Holztafel hin. »Du musst als Erstes das A mit dem Griffel nachfahren. Das ist der erste Buchstabe des Alphabets. A wie Adam. A wie Apfel. A wie Alphabet. Verstehst du?«
Gervasius nahm den Griffel und folgte der eingeritzten Spur, auf die der Zeigefinger von Philips schmutziger kleiner Hand deutete. Er brauchte nicht lange, um das Prinzip zu verstehen, und ging so in kürzester Zeit die ersten vier Buchstaben durch. B wie Belial, C wie Caesar und D wie Deus, Dieu, Gott. Es war noch einfacher, als er erwartet hatte. Philip starrte ihn bald nur noch fassungslos an, wenn er ihn bat, ihm den nächsten Buchstaben zu nennen. Gervasius war so vertieft in seine Aufgabe, dass er kaum wahrnahm, wie der Chor der anderen Schüler verstummte, die den von Zacharias vorgesprochenen Satz »Domine in adiutorium meum intende« nachsprechen sollten. Zacharias hatte staunend seinen neuen Schüler beobachtet und vergessen, den Satz, mit dem achtmal am Tag das Stundengebet eingeleitet wurde, zu wiederholen. Mit flinken Schritten war der Lehrer bei ihnen angelangt und betrachtete Gervasius, der gerade dabei war, auf der Wachstafel das vorgezeichnete E nachzuziehen.
»Jesus Christus! Bruder Giles hat keinesfalls übertrieben. Es ist ein Wunder. Kein einziger Schüler hat in all den Jahren, die ich nun schon in der Klosterschule unterrichte, in so kurzer Zeit so viele Buchstaben gelernt!« Der kleine Mönch bekreuzigte sich. »Es wird wohl eher so sein, dass Gervasius dir das Lesen beibringt, Philip. Das ist für alle segensreich, denn so habe ich mehr Zeit, um mich meinen anderen Schäfchen zu widmen.«