Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 16
Horae
ОглавлениеNicht nur das Alphabet war ihm schnell vertraut, auch an die langen Schultage gewöhnte er sich bald. Die Stunden des Tages waren eingeteilt in immer gleiche Abschnitte. Die Schulstunden wurden regelmäßig unterbrochen von den Stundengebeten und den Mahlzeiten: Morgens, noch vor dem Frühstück, sangen sie die Laudes, das Morgenlob, mittags die Mittagshore oder Sext. Dem Vesper oder Abendlob folgte die Hauptmahlzeit des Tages, und kurz vor dem Schlafengehen hatten sie dem Nachtgebet oder Completorium beizuwohnen. Die Domherren mussten sich sogar noch einmal um Mitternacht in die Kirche bemühen, um die Mitternachtsmette, die Nocturnes, anzustimmen. Dies blieb den jungen Schülern erspart, wofür alle dankbar waren.
Gleich am zweiten Tag hatte Bruder Zacharias ihn über die Regeln aufgeklärt, denen jedes Mitglied der Gemeinschaft zu folgen hatte. Von einem der älteren Schüler, Thibaut, hatte er sie zuerst auf Latein vorlesen lassen und dann für alle ins normannische Französisch übersetzt:
»Obwohl wir kein Kloster sind, sondern nur eine weltliche Gemeinschaft von Stiftsherren, folgen auch wir der Regel des Benedikt, die da lautet: Der Prophet sagt, siebenmal des Tages singe ich dein Lob. Diese geheiligte Siebenzahl erfüllen wir dann, wenn wir zur Zeit der Laudes, der Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet die Pflichten unseres Dienstes erfüllen. Zur Nachtzeit sagt aber derselbe Prophet: Um Mitternacht erhob ich mich, um dich zu preisen. Zu diesen Zeiten wollen wir unserem Schöpfer lobsingen.«
Geschlafen wurde im Haus des Dekans in einer Kammer auf dem Dachboden. Dies galt für die externen Schüler. Diejenigen, deren Weg ins Kollegium bereits vorbestimmt war, durften im Refektorium schlafen. Zu diesen Bevorzugten gehörten Thibaut, der, wie er und Philip, Anglonormanne war, und noch zwei ältere Jungen, Aeilred und Walther, die angelsächsischer Abstammung waren. Es waren insgesamt sieben Jungen zwischen sieben und zehn Jahren, die sich die breite Schlafstatt teilten. Da gleich unter ihnen der Dekan sein Schlafzimmer hatte, konnten sie diesen häufig schnarchen hören. Und manchmal hörten sie auch seine Frau, die merkwürdige Geräusche von sich gab. Eine Art Stöhnen, und manchmal leise, unterdrückte Schreie. Gervasius nahm an, dass die Frau des Dekans krank war, ähnlich wie seine Mutter. Doch wenn er sie im Haus antraf, hatte sie immer eine gesunde Gesichtsfarbe und wirkte insgesamt recht robust mit ihrer stämmigen Figur und den flammenroten gewellten Haaren.
Bei Tagesanbruch wurden alle geweckt. Der Dekan selbst holte die Jungen jeden Morgen aus dem Bett und scheuchte sie in die Kirche. Erst nach der Laudes durften sie sich waschen, damit sie bei der Mahlzeit sauber waren. Kurz darauf begann der Unterricht. Morgens ging es ans Schreiben und Lesen, nachmittags wurde gesungen. Gervasius gefiel der erste Teil des Schultages deutlich besser als der zweite. Am Nachmittag ertappte er sich häufig dabei, wie er mit den Gedanken anderswo weilte, während er versuchte, den richtigen Ton zu treffen und beim Ave Maria nicht unangenehm aufzufallen. Die Worte konnte er auswendig. Was ihm Schwierigkeiten bereitete, war die Tonhöhe. Gervasius war ein lausiger Sänger, ganz im Gegensatz zu Philip, dem das Singen leichter zu fallen schien als das Lesen. Er hatte eine so schöne Stimme, dass der Chorleiter ihn häufig bat, bei den Stundengebeten in der Kirche ein Solo zu singen.
Auch an diesem Morgen, am Ende der Laudes, durfte Philip beim Hymnus des ›Tedum‹ seine Singstimme vorführen. Nachdem er den letzten Satz gesungen hatte, klatschten alle, die Schüler, die Stiftsherren, der Primicerius, sogar der Dekan. Philips Gesicht verfärbte sich rot vor Stolz. Beim Frühstück, einem in Milch gekochten Haferbrei mit Apfelstücken, fragte Gerva-sius Philip nach der Frau des Dekans.
»Sie muss krank sein, so wie sie immer stöhnt. Aber man sieht ihr gar nichts an«, flüsterte er Philip zu.
Sein Vetter verbiss sich mühsam ein Kichern.
»Dich scheinen sie noch nicht über die Bienen und die Blumen aufgeklärt zu haben. Die Frau ist nicht krank. Ganz im Gegenteil. Sie durchlebt in dem Moment ein wahres Hochgefühl. So jedenfalls hat es mir mein Vater beschrieben.«
»Was soll das für ein Hochgefühl sein, bei dem man herzerweichend stöhnen muss?«
»Das verstehst du noch nicht. Es ist eine Prozedur, die sich Beischlaf nennt, wobei der Mann sich auf die Frau legt und seinen Samen in sie einpflanzt. Dabei sind sie nackt.«
Gervasius starrte Philip entgeistert an. Je mehr dieser ihm erklärte, desto weniger verstand er. Was für Samen? Und wieso nackt?
»So genau kann ich dir das auch nicht sagen, aber sobald ich alt genug bin, werde ich das auch tun mit den Frauen, da kannst du sicher sein. Dann erfährst du es aus erster Quelle.«
Auch dies befriedigte Gervasius’ Neugierde nicht. Aber es gab Wichtigeres, mit dem er sich zu beschäftigen hatte, besonders das Lesenlernen. Mit dem Alphabet war er inzwischen durch. Bruder Zacharias war voll des Lobes für diesen Jungen, der als Einziger das gesamte Alphabet innerhalb einer Woche gelernt hatte. Jetzt war er von der Holztafel, die es einem so leicht machte, die Formen der Buchstaben nachzufahren, zum Schreiben auf einer Wachstafel übergegangen. Philip war mit dem Alphabet noch nicht einmal zur Hälfte durch. Gervasius konnte bereits viele Worte lesen und einige einfache sogar schreiben.
Als sie am Ende des Tages nach dem Abendlob durch den Kreuzgang in Richtung Refektorium gingen, kam Philip überraschend wieder auf das Thema vom Morgen zurück.
»Ich habe mir überlegt, wie wir mehr herausfinden können. Mir ist da etwas eingefallen! « Dabei grinste er so spitzbübisch, wie nur er es fertigbrachte.
»Was hast du denn vor?«
»Das wirst du schon sehen. Wenn Fortuna uns hold ist, oder so Gott will – das kannst du dir aussuchen –, wird es noch heute Nacht passieren.« Mehr war aus Philip nicht herauszubekommen. Statt der Bibelvorlesung eines der Domherren zu lauschen, war Gervasius daher während des gesamten Abendessens damit beschäftigt, auszutüfteln, wie Philip an dieses Wissen gelangen wollte.
Sie gingen wie üblich zu Bett, und Gervasius war noch immer ahnungslos. Philip hatte auch in der Stunde, die die Schüler nach dem Essen zur freien Verfügung hatten, kein Wort über seinen Plan verloren. Er hatte im Kräutergarten zwischen den Salatpflanzen gehockt und Schnecken beobachtet, die er zu fangen gedachte, um sich eine eigene Schneckenzucht anzulegen. Gervasius wäre gern in die Bibliothek gegangen, doch das war ihm, solange er noch nicht richtig lesen konnte, verboten worden. Also hatte er sich die Pflanzen beguckt, die im großzügig angelegten Klostergarten wuchsen, und war dann wieder zu Philip gestoßen, der dabei war, eine der dickeren Schnecken in einer kleinen Holzkiste zu verstauen, deren Deckel er mit Löchern versehen hatte. Zufrieden wischte er sich die Hand an seinem Gewand ab. Die Schnecke hatte darauf eine Schleimspur hinterlassen.
»Das wäre geschafft. Komm! Die Glocke läutet bereits. Es ist Schlafenszeit.« Bei den letzten Worten lächelte er vieldeutig.
»Also sag schon, was du vorhast! «, drängte Gervasius ihn auf dem Weg zum Pfarrhaus.
»Wir legen uns wie üblich schlafen und warten, bis die Glocke zur Nocturnes läutet, dann geht es los. Wir müssen nur aufpassen, dass wir die anderen nicht aufwecken.« Damit musste sich Gervasius vorerst zufrieden geben.
Die Zeit, bis das mitternächtliche Läuten ertönte, zog sich endlos in die Länge und es kam ihm vor, als wären Jahre vergangen, als sein Vetter sich beim Klang der Glocken zu rühren begann und aus dem Bett kletterte. Er folgte ihm, so leise er konnte. Zu seinem Erstaunen machte Philip keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Er ließ sich stattdessen in der Mitte der Kammer, unweit des Bettes, auf allen vieren nieder. Dann machte er sich mit einer Metallstange, die er irgendwo im Kloster entwendet haben musste, an einem der Dielenbretter zu schaffen. Offenbar war das Brett bereits locker, denn es ließ es sich umstandslos anheben. Nur quietschte es dabei verräterisch. Philip hielt atemlos inne. Gervasius spähte durch die Dunkelheit hinter sich zum Bett. Dort rührte sich etwas. Alexander, der zwei Jahre älter war, gab eine Art Röcheln von sich und drehte sich auf die andere Seite. Dann atmete er wieder ruhig. Er half Philip, das Brett ganz von seinem Platz zu entfernen. Vorsichtig legten sie es auf den Boden neben sich. Jetzt begriff Gervasius endlich, was Philip vorhatte.
»Das kannst du doch nicht machen!«, flüsterte er seinem Freund zischend zu.
Der hatte einen Blick nach unten geworfen und lachte jetzt leise in sich hinein.
»Du wolltest es doch wissen. Jetzt brauchen wir nur noch auf das Ende der Messe zu warten, dann kann es losgehen.«
Gervasius drängte sich neben Philip und schaute seinerseits in das Schlafzimmer des Dekans. Zuerst erkannte er gar nichts. Dann, als sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, entdeckte er den rotgelockten Kopf der Frau, die, wie er wusste, Roswitha hieß. Etwas an der Art, wie sie dort halb auf dem Bauch lag und schlief, berührte eine Seite in ihm, von der er bisher nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Doch der Moment verging rasch. Was blieb, war das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, und die Angst, dabei auch noch erwischt zu werden.
Endlich hörten sie die schweren Schritte des Dekans auf der Holztreppe. Dann betrat er den Raum und entledigte sich seiner Kutte. Als er lag, gab er ein grunzendes Geräusch von sich und griff hinüber zu seiner Frau. Roswitha wurde davon wach, grunzte ihrerseits zur Begrüßung und zog sich dann erstaunlich behände und gar nicht schlaftrunken das Hemd über den Kopf. Nun war auch sie nackt. Der Dekan wälzte seinen mageren Körper auf die weiße, gerundete Gestalt, und dann fing er an, sich auf Roswitha zu bewegen, in einem stetigen Rhythmus, der immer schneller wurde. Nach kurzer Zeit setzte das Stöhnen ein. Es kam aus ihrem Mund.
Gervasius taten vom langen Hocken in der gleichen Position die Knie weh. Er musste sich bewegen. Als er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, gab das Dielenbrett unter ihm ein ächzendes Geräusch von sich. Gervasius erstarrte. Auch von Philip kam kein Laut. Es war, als hätte dieser das Atmen eingestellt. Gervasius blieb, wo er war. Er traute sich nicht von der Lücke weg, da er fürchtete, dass das Brett unter ihm wieder knarren könnte. Sägemehl rieselte durch den Spalt nach unten. Dort hatte der Dekan seine Tätigkeit unterbrochen und den Kopf zur Decke gedreht. Gervasius hoffte, dass die Dunkelheit ihre Umrisse verbarg. Geoffrey Rufus starrte genau zu ihnen hinauf und lauschte einige Augenblicke lang in die Stille. Gervasius betete stumm zu Gott und versprach, so etwas nie wieder zu tun, wenn nur der Dekan sie nicht bemerkte. Der Dekan starrte noch immer mit grimmigem Blick an die Decke, als wollte er einen Dämon bannen. Doch dann wandte er sich wieder seiner Frau zu, die fragend zu ihm aufsah.
»Was ist, Liebster?«
»Nichts. Vermutlich bloß eine Maus«, grummelte der Dekan, offenbar verstimmt über diese Unterbrechung, die ihn aus dem Takt gebracht hatte. Er sank wieder auf Roswitha und nahm seine rhythmische Bewegung erneut auf. Kurz darauf stöhnte die Frau wieder, als wäre nichts gewesen.
Die Bewegungen des Dekans wurden schneller und fieberhafter. Dann gab das Oberhaupt des Kollegiums von Waltham einen unterdrückten Schrei von sich und die Frau ein letztes Stöhnen, das eher wie ein Seufzen klang. Der Dekan rollte von seiner Angetrauten, drehte sich auf die Seite und fing sofort an zu schnarchen. Das Ganze hatte nur wenige Augenblicke gedauert.
Gervasius und Philip tauschten in der Dunkelheit einen Blick, in dem sich Erleichterung mit Unverständnis mischte. Dann landete das Dielenbrett fast geräuschlos an seinem Platz, und die zwei Jungen zogen sich in ihre Schlafstatt zurück. Den Rest der Nacht schlief Gervasius wie ein Stein.