Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 12
Die Totenwache
ОглавлениеNachdem Johannes Marcus Gervasius den Wortlaut von Ottos Testament diktiert hatte, machte er sich zusammen mit dem Scholastikus Heinrich von St. Gereon auf den Weg nach Rom. Den beiden war der Auftrag erteilt worden, dem Papst die von Bischof Siegfried verfasste Absolutionsurkunde mit der Goldbulle zuzustellen und die Nachricht vom Tode Ottos zu überbringen. Gervasius blieb mit Agnes in der Harzburg zurück. Er ließ seinen Schützling in der Obhut der Hofdamen in der großen Halle und begab sich in die Wirtschaftsräume auf der Suche nach dem Marschall. Diesen fand er in der Küche, wo ihm der appetitanregende Duft von Braten und aromatischen Gewürzen in die Nase stieg. Überall dampfte es aus gewaltigen Töpfen. Durch das Feuer im Kamin verteilte sich eine dichte Wärme in dem großflächigen Raum mit der niedrigen Decke. Als Gervasius eintrat, war der gedrungene, rotgesichtige Burchhard gerade dabei, dem Küchenpersonal Anweisungen für die Vorbereitung der Abendmahlzeit zu geben.
»Verzeiht, dass ich Euch bei Eurem Tagwerk unterbreche, Burchhard, ich weiß, Ihr habt viel zu tun. Aber es ist mir ein Bedürfnis, mich unter vier Augen vom Kaiser zu verabschieden. Wie Ihr sicher wisst, war ich unterwegs, als es geschah.«
Burchhard streifte Gervasius nur flüchtig mit seinem Blick und erklärte, bereits wieder in Richtung der Bediensteten:
»Das geht nicht, werter Herr. Der Kaiser wird zu ebendieser Zeit zurechtgemacht, in der Weise, wie er es testamentarisch verfügt hat. Für die Nachspeise müsst ihr noch die Sahnecreme vorbereiten. Die in Würzwein eingelegten Pflaumen sind in der kleinen Vorratskammer neben dem Saal. Günther, ich möchte, dass die Haut des Wildschweins dieses Mal richtig knusprig ist! Wir haben fast die gesamte Kirchlichkeit des Reiches zu Gast! «
Doch Gervasius rührte sich nicht von der Stelle. Der Küchenjunge Günther, der Mundschenk Marius und die zwei Köchinnen, die eine abgezehrt und hager, die andere wohlbeleibt wie eine in die Jahre gekommene Gräfin, starrten ihn neugierig an, so dass der Marschall sich gezwungen sah, erneut das Wort an den Störenfried zu richten: »Ich habe keine Ahnung, wie lange das noch dauern wird. Am besten, Ihr macht Euch beim Truchsess Gunzelin kundig. Er hat jetzt die Befehlsgewalt über Burg und Hof.«
Nach einigem Suchen fand Gervasius Gunzelin von Wolfenbüttel in Begleitung mehrerer junger Ministerialen in einer Kammer der Kanzlei, wo er sich über eine Urkunde beugte. Gervasius trug kurz sein Anliegen vor.
»Sie haben gerade erst mit der Prozedur angefangen. Wir mussten die vom Kaiser geforderten Kleidungsstücke und Herr-scherinsignien in der ganzen Burg zusammensuchen und einiges auch kaufen lassen. Das Reinigen und Zurechtmachen kann noch bis zum frühen Morgen dauern … Aber wenn Euch so viel daran liegt, Euch selbst vom Kaiser und allein zu verabschieden, habe ich eine andere Idee: Es wurde noch nicht festgelegt, wer die Totenwache übernehmen soll. Wollt Ihr das tun, Magister Gervasius?«
»Wie lange werde ich wachen müssen?«
»Das Begräbnis ist für den kommenden Sonntag in St. Blasius in Braunschweig geplant. Die Reise dorthin wird noch einmal einen Tag in Anspruch nehmen. Bleiben ab morgen fünf Nächte mit dem Toten. Werdet Ihr das durchstehen?«
Gervasius nickte.
Gervasius war froh, dass sich die zwei Hofdamen der Kaiserin Maria bereit erklärt hatten, sich während ihres Aufenthalts auf der Burg um Agnes zu kümmern. So hatte er den Tag, außer zu den Mahlzeiten, fast ganz allein verbringen können. Nach dem Abendessen kam Gunzelin von Wolfenbüttel auf ihn zu.
»Der Kaiser ist jetzt in präsentablem Zustand, Magister. Ihr könnt Euch, wenn Ihr wollt, gleich in die kleine Halle begeben, wo man ihn aufgebahrt hat. Ab heute Abend ist es Eure Pflicht, jede Nacht über die Totenruhe des Verstorbenen zu wachen, mindestens bis zum Tagesanbruch.«
»Ich danke Euch, Gunzelin. Diese Pflicht werde ich sehr ernst nehmen.«
»Davon bin ich überzeugt. Und denkt daran: Außer für Euch ist der Ausgang zu der kleinen Halle ab heute für jeden anderen Burgbewohner verboten.«
Die schwere Tür zur kleinen Halle ließ sich nur mit Mühe aufziehen. Gervasius erinnerte sich daran, dass sie sonst immer bis zum Anschlag offen stand. Obwohl er sich nicht für furchtsam hielt, pochte sein Herz heftiger, als ihm lieb war. Draußen hatte es gerade zu dämmern begonnen, doch diesen Raum, der über etwa ein Drittel des Umfangs der großen Halle verfügte, hatte die Dunkelheit bereits erobert. Im gelben Schein der wenigen Fackeln, die an den hohen Wänden brannten, erkannte er sofort die auf dem Tisch liegende Gestalt. Die Tafel, die man in die Mitte des Raumes gerückt hatte, verschwand vollständig unter einem weißen Seidentuch. Die samtgepolsterten Stühle, die sonst um die lange Tafel standen, säumten nun in Reihen die Wände. Als Erstes fielen Gervasius die weiße Alba und der karminrote Krönungsmantel auf. Beides hatte Otto bei seiner Kaiserkrönung im Petersdom in Rom getragen. Der Mantel war eine Nachbildung des Umhangs, den Ottos Oheim, Richard Löwenherz besessen hatte. Der leuchtend rote Stoff war über und über mit Metallstickerei in Form der Herrschaftssymbole der Plantagenets, Löwen, Adlern, Halbmonden und Sternen, bedeckt. Am unteren Saum waren Christus und Maria, umgeben von weihrauchfassschwenkenden Engeln, dargestellt. Die Füße des Toten steckten in ebenfalls weißen Samtstiefeln, über die man goldglänzende Sandalen mit Sporen gezogen hatte. Den Kopf bedeckte eine edelsteinbesetzte Krone, für die der Kaiser, wie er von lohannes Marcus wusste, den stolzen Preis von dreißig Mark bezahlt hatte. Über die seidenen Handschuhe hatte man Otto Armspangen und einen Goldring mit einem dicken blutroten Rubin gestreift. Im kalten Kamin stand eine Schale, in der Weihrauch und andere getrocknete Kräuter glommen, um den Leichengeruch zu überdecken. Da alle Fensterläden geschlossen waren, war es trotzdem stickig im Raum. Daher öffnete Gervasius die Läden der beiden Fenster, die ihm am nächsten lagen, bevor er an der linken Seite des Kaisers stehen blieb. Jetzt konnte er das Gesicht des Toten von nahem betrachten. Man hatte ihn geschminkt. Die Haut war bleich, aber ebenmäßig. Die dunklen Ringe um die Augen waren abgemildert, die Lider geschlossen. Fast friedlich wirkte das Gesicht des ehemaligen Herrschers über die römische Christenheit. Wenn Gervasius nicht zu genau hinsah, konnte er die Illusion aufrechterhalten, Otto würde schlafen. Wenn man es recht bedachte, tat er das auch. Es war der große Schlaf, der jeden Menschen früher oder später ereilte und aus dem niemand mehr erwachte vor dem Tag des Jüngsten Gerichts.
»Es tut mir so leid, Eure Majestät, dass ich zu spät gekommen bin. Vergebt mir.«
Gervasius lauschte in die Stille, die den leblosen Körper umgab, als könnte er in ihr eine Antwort ausmachen. Dann zog er einen Stuhl in die Nähe des Tisches und ließ sich schwerfällig nieder. An der gegenüberliegenden Wand brannte eine Fackel mit leisem Knistern. Er konzentrierte sich auf den sonnengelben Umriss und den rotglühenden Kern mit dem bläulich leuchtenden Herzen. Die Flamme beanspruchte bald seine gesamte Aufmerksamkeit. Es gab nichts außer dieser Fackel und ihm. So verbrachte er die erste Nacht seiner Wache. Nur einmal riss ihn für wenige Augenblicke das Heulen eines Wolfes aus seiner Erstarrung.
Um die Mittagszeit traf der Graf von Wohldenberg aus Braunschweig ein, der von Otto beauftragt worden war, aus dessen Familienbesitz Geld für die Armen und sein Begräbnis mitzubringen. Beim Mittagsmahl berichtete er, dass des Kaisers Bruder, Pfalzgraf Heinrich, sich als geizig erwiesen und ihm nur eine kleinere Summe mitgegeben hatte, die gerade einmal für ein standesgemäßes Begräbnis ausreichte. Darüber empörten sich einige bei Tisch. Der Pfalzgraf hatte sich damit unter der Gefolgschaft seines Bruders keine Freunde gemacht. Die hohen Vertreter der römischen Kirche waren inzwischen allesamt abgereist. Abt Friedrich von Walkenried konnte gar nicht schnell genug in sein Kloster zurückkehren, war er doch erpicht darauf, mit seiner Erzählung von Ottos Tod fortzufahren, die später unter dem Titel ›De morte ottonis‹ bekannt werden sollte. Der Bischof von Hildesheim und Goswin von Halberstadt hatten sich ebenfalls am Tag nach Ottos Tod verabschiedet, jedoch zugesagt, bei dessen Beerdigung in Braunschweig in fünf Tagen anwesend zu sein.
Am frühen Abend zog sich Magister Gervasius erneut in die Stille der kleinen Halle zurück. Es war nicht leicht gewesen, trotz der immer noch angeschwollenen, schmerzenden Hand die Testamentsurkunde in Schönschrift zu verfertigen, aber es war ihm zu seiner Zufriedenheit gelungen, ohne auch nur einen Buchstaben zu verschmieren. In seinem letzten Willen hatte Otto bestimmt, dem jungen Friedrich II. die Reichsinsignien aushändigen zu lassen, allerdings nur für eine Gegenleistung, was nach Gervasius’ Meinung eine kluge Entscheidung war. Einen Teil des Schatzes sollte die Kaiserin erhalten. Die privaten Reliquien des Kaisers sollten an das mit seinem Vater verbundene Stift St. Bla-sius in Braunschweig gehen. Haupterbe war sein Bruder, der Pfalzgraf Heinrich, den er zusammen mit dem Truchsess Gunze-lin und den Braunschweiger Bürgern zu seinem Testamentsvollstrecker bestimmt hatte. Ebenfalls ein guter politischer Schachzug war Ottos Anweisung, das Reichsgut streng vom erblichen weifischen Hausgut aus dem Nachlass seines Vaters zu scheiden.
Als Gervasius nicht mehr sitzen konnte, stand er auf und umrundete mehrmals die lange Tafel mit großen Schritten. Dann ließ er sich erneut nieder und starrte weiter in die Flammen. Er wusste nicht, wie lange er so ausgeharrt hatte, als ein knarrendes Geräusch ihn zusammenzucken ließ. Es kam von der Tür. Jemand versuchte, die schwere Tür aufzustemmen! Wer würde es wagen, diesen verbotenen Ort aufzusuchen? Mitten in der Nacht? Sicher niemand von den Burgbewohnern. Die kannten die ungeschriebenen Gesetze der Totenwache. Schauergeschichten über Geister von Verstorbenen kamen ihm in den Sinn. Sein Blick wanderte zu dem Toten auf dem Tisch. Doch der lag still da. Gervasius erhob sich mit klopfendem Herzen. Der Spalt vergrößerte sich. Eine kleine weiße Hand erschien im Türrahmen; ihr folgte ein schlanker Arm in einem blaugrauen Ärmel. Dann stand sie in der Tür, mit einem schuldbewussten kleinen Lächeln in den Mundwinkeln.
»Herrgott, Agnes! Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt!«
»Verzeiht, Magister Gervasius. Darf ich trotzdem hereinkommen?«
»Na gut. Wahrscheinlich würdest du sowieso nicht auf mich hören, wenn ich dich jetzt wegschickte. Aber schließ die Tür wieder hinter dir! «
Agnes warf einen fast schüchternen Blick auf den Leichnam, dann streiften ihre Augen durch den Raum und blieben an Gervasius hängen.
»Mir könnt Ihr nichts vormachen, Magister Gervasius. Es geht Euch nicht gut. Gerade in diesem Moment seht Ihr aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen. Ihr solltet in diesem Zustand nicht so viel Zeit allein mit einem Toten verbringen, finde ich. Ich weiß, das ist anmaßendes Benehmen von einer unbedeutenden Oblatin aus einem kleinen Kloster. Doch Ihr habt mich schließlich hierhergeholt. Und ich bin sicher, es gibt etwas, das ich hier tun kann. Auch nach dem Tod des Kaisers. Es ist nicht alles vorbei, selbst wenn es Euch derzeit vielleicht so erscheint.«
»Und mir scheint, du würdest eine gute Beichtschwester abgeben.«
Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich habe nicht vor, Nonne zu werden. Die Welt ist zu bunt und aufregend, um sein ganzes Leben hinter Klostermauern zu verbringen. Darf ich Euch eine Frage stellen, Magister?«
»Warum nicht.«
»Wieso wart Ihr bei unserer Anreise so besorgt um meine Sicherheit?«
»Du wärst beinahe mit der Brücke in die Tiefe gestürzt! «
»Das ist keine Antwort.«
»Du bist eigensinnig… Also gut: Vor einigen Jahren, als der Kaiser auf dem Zenit seiner Macht stand, kannte ich eine adelige Dame, die mir viel bedeutet hat. Du erinnerst mich an sie.«
»War sie schön?«
»Sehr. Sie hatte das gleiche dunkle Haar wie du, denselben zarten Teint…« Er brach abrupt ab.
Man konnte dem Mädchen ansehen, dass ihm eine weitere Frage auf der Zunge brannte, aber der Blick des Magisters verbot ihr, sie auszusprechen. Also schwieg sie. Sie würde die Wahrheit eines Tages sowieso herausfinden.
Einige Augenblicke hing jeder seinen Gedanken nach. Dann versuchte Agnes es erneut:
»Warum erzählt Ihr mir nicht einfach, was Euch bedrückt? Ich werde es ganz bestimmt niemandem verraten! «
Die Hartnäckigkeit des Mädchens beeindruckte ihn.
»Ich fühle mich schuldig«, gestand er schließlich.
»Am Tod des Kaisers?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte ihm vor Jahren ein Versprechen gegeben, und durch seinen frühen Tod konnte ich es nicht mehr einhalten. Das heißt, ich war gerade dabei, alles in die Wege zu leiten, als er von uns ging.«
»Wovon sprecht Ihr, Magister?«
»Von der Karte, die die Ergänzung zu meinem Buch von den Wundern der Welt ist, welches ich damals dem Kaiser gewidmet habe.«
»Die Karte, bei deren Ausführung ich Euch unterstützen sollte?«
»Genau diese Karte. Und außerdem sollte ich ihm mein Leben erzählen nach unserer Rückkehr aus Ebstorf, wozu es nicht mehr kam.«
»Aber dann verstehe ich Euer Problem nicht. Des Kaisers sterbliche Hülle mag zwar nun ohne Leben sein, aber seine Seele im Himmel ist so lebendig wie wir. Sie wird verfolgen, was Ihr hier auf Erden tut, um Euer Versprechen einzulösen! «
Gervasius rieb sich das Kinn mit der gesunden linken Hand.
»Aus diesem Blickwinkel habe ich das Ganze noch nicht betrachtet. Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Anfang! «
»Ihr könnt die Karte trotzdem vollenden. Mit meiner Hilfe, wenn Ihr mögt. Und die Erzählung könnt Ihr gleich hier heute Nacht beginnen. Dann habt Ihr sogar zwei Zuhörer. Und noch vier Nächte Zeit.«
Erstmals erfasste Gervasius mit aller Deutlichkeit, dass ihm hier ein ebenbürtiger Geist gegenübersaß. Er seufzte. Er rieb sich das Gesicht. Dann lachte er zum ersten Mal seit Ottos Tod wieder.
»Du bist ein erstaunliches Mädchen, weißt du das?«
Agnes antwortete nicht, aber in ihren Augen erkannte er, dass das Lob angekommen war. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und faltete die Hände im Schoß.
»Ich höre«, sagte sie.