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Stabat Mater

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An einem Tag Ende November – sie feierten gerade die Mittags-hore, und Gervasius ging wie gewohnt dem Priester zum Altar des Heiligen Kreuzes voraus – öffnete sich die vordere Eingangstür. Diese war allein den Dorfbewohnern vorbehalten, die den Gottesdienst besuchen wollten. Ein Schwall kalter Luft wehte in das Innere der Kirche. Eine schlanke, dunkle Gestalt in einem langen Umhang trat herein. Ihr Umriss zeichnete sich scharf gegen das milchige Licht ab.

Der unbekannte Besucher verschwand für einige Augenblicke, wurde eins mit der herrschenden Dunkelheit. Dann waren seine Schritte auf dem Steinfußboden zu hören. Etwas am Gang des Mannes kam Gervasius bekannt vor. Dann hatte der Besucher den Altarraum erreicht und richtete das Wort an den Priester, der zufällig Giles de Chaumont war.

»Entschuldigt mein unhöfliches Unterbrechen des Gottesdienstes, Bruder Giles, aber ich muss sofort zu meinem Sohn. Es geht um Leben und Tod! «

Gervasius’ Herzschlag setzte für einen Moment aus. An der Stimme hatte er seinen Vater erkannt.

Vor Überraschung glitt Gervasius das Weihrauchfass aus der Hand. Es landete mit einem lauten Scheppern auf dem Steinfußboden. Erst jetzt erkannte Robert von Tilbury seinen Sohn.

»Gervasius! Du musst sofort mit mir kommen. Deiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie sagt, ihre Zeit ist gekommen. Sie hat nach dir verlangt! «

Gervasius achtete nicht auf die Verblüffung der um ihn Stehenden. Rasch riss er sich das kostbare Messgewand über den Kopf. Achtlos drückte er es dem neben ihm stehenden Philip in die Arme.

Vor dem Eingang der Kirche standen zwei Pferde. Sie wurden von einem Knappen des Vaters gehalten, den Gervasius aus Tilbury kannte. Der Vater fing die Zügel seines Rappen und saß auf. Der Knappe half Gervasius hinter seinem Vater auf das Pferd.

Robert von Tilbury gab dem Rappen die Sporen. Der Knappe Julius folgte ihnen auf seinem eigenen Pferd. Er hatte Mühe, mit seinem Herrn mitzuhalten. Dieser sprengte davon, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Gervasius spürte, dass es ernst war. Würde er noch mit seiner Mutter sprechen können? Den Vater zu fragen, wagte er nicht. Der war zu grimmig darauf bedacht, schnell ans Ziel zu gelangen. Die Hufe der Pferde trommeiten auf den winterharten Boden. Erdklumpen und Grasbüschel stoben in alle Richtungen. Ein eisiger Wind riss an ihren Kleidern. Die Landschaft flog an ihnen vorbei. Gervasius hatte sich noch nie mit einer solchen Geschwindigkeit fortbewegt. Er fühlte sich, als wäre er ein Geschoss, das blitzartig durch die Luft geschleudert wird. Dann hatten sie das Waldgebiet von Epping erreicht. Den Aufenthaltsort des kleinen Volkes. Sie waren so schnell, dass Gervasius es für klüger hielt, sich nicht umzudrehen. Stattdessen achtete er auf Geräusche. Versuchte die Anwesenheit der scheuen Wesen zu erspüren. Doch da war nichts. Die dumpfen Aufschläge der Pferdehufe auf dem Waldboden übertönten alles. Der Lärm hatte sie vermutlich vertrieben. Er hatte keine Zeit, enttäuscht zu sein. Sie ließen den Wald so schnell hinter sich, wie sie ihn erreicht hatten. Die entlaubten Bäume machten abgemähten Feldern und frostüberzogenen Weiden Platz, über die sein Vater das Pferd mit halsbrecherischer Geschwindigkeit jagte. Gervasius wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich anzukommen. Die Mutter wiederzusehen. Lebendig. Sie musste leben. Bei ihm bleiben. Und alles würde gut sein.

Und dann waren sie tatsächlich am Ziel. Der Vater ritt in den umzäunten Hof des Gutes. Mit zitternden Knien rutschte Gervasius vom Pferderücken.

»Komm, Junge, beeil dich!«

Sein Vater rannte bereits zur Freitreppe. Die Zügel des Pferdes hatte er wortlos dem Knappen zugeworfen.

Gervasius lief die Freitreppe hinauf. Durch die Tür in die riesige Diele mit den hohen Decken. Die vertraute Diele, in der er an kalten Tagen wie diesem gespielt hatte. Mit Beklommenheit in der Brust folgte Gervasius dem Vater. Den vertrauten und gefürchteten Weg zum Krankenzimmer der Mutter. Die Stufen der Stiege schienen höher zu sein als sonst. Anne hockte auf einem Schemel. Sie schluchzte. Der Arzt stand neben dem Bett. Er beugte sich über die reglose Gestalt und schloss ihre Augenlider. Das ehemals wachsbleiche Gesicht der Mutter war jetzt grau. War diese Figur auf dem Bett dort wirklich Ada von Tilbury? Der Ausbruch seines Vaters riss ihn aus seiner Betrachtung.

»Nein! Nein, das kann nicht sein! «

Die Stimme des Vaters war heiser und erstickt. Er beugte sich nun ebenfalls über die bewegungslose Frau. Der Arzt trat beiseite. Sein Vater gab einen Laut von sich und fiel auf das Bett. Umarmte die Gattin, die sich nicht rührte.

Gervasius spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.

»Wir sind zu spät gekommen! «, brachte Robert von Tilbury schließlich hervor. »Dabei wollte sie sich unbedingt von dir verabschieden. Aber Gott hat anders entschieden. Es tut mir leid, Sohn.«

Gervasius sank neben ihm auf die Bettkante. Der Vater strich ihm über das vom Ritt zerzauste Haar. Sie blieben stumm nebeneinander sitzen, jeder verloren in seinen eigenen Gedanken, während um sie die frühe Novembernacht hereinbrach. Sie verließen die Kammer erst, als Annes Stimme sie zum Abendessen nach unten rief.

Das Begräbnis wurde für den kommenden Sonntag angesetzt. In den verbleibenden drei Tagen durfte er den Vater zu vielen seiner Amtsgeschäfte im Umkreis des Gutshauses begleiten. Dafür war er dankbar, wartete doch in der kleinen Stube unter dem Dach immer noch dieser starre Körper, der einmal seine Mutter gewesen war, darauf, der Erde zurückgegeben zu werden. Er verriet es niemandem, auch nicht Anne, die immer in der Nähe war, aber er verspürte in der Gegenwart der Leiche seiner Mutter so etwas wie Beklemmung. Sosehr er sie im Leben geliebt hatte, so fürchtete er sich vor dem, was nach ihrem Tod von ihr übrig war. Soweit es ihm gelang, dieses Unbehagen zu unterdrücken, fühlte er sich in Tilbury gut aufgehoben. Es war fast wie früher, bevor er zur Schule in Waltham gekommen war, doch er wusste, dass diese Zeit jetzt für immer vorbei war. Ohne seine Mutter, auch wenn sie das ganze letzte Jahr nur noch in der Dachkammer als Kranke im Hintergrund anwesend gewesen war, gab es hier keinen Platz mehr für ihn und keinen Grund, zu bleiben. Er liebte seinen Vater, doch dieser war ein Einzelgänger und behielt seine Gefühle und Pläne für sich. Er hatte nie jemanden an sich herangelassen, außer seiner Mutter. Und Anne sollte bald einen Knecht aus dem Nachbardorf heiraten, wie sie ihm mit einem eigentümlichen kleinen Lächeln im Gesicht verraten hatte, was bedeutete, dass auch sie aus Tilbury fortgehen würde.

Zur Beerdigung hatte der gesamte Hausstand seine besten Kleider angezogen. Jetzt stand Gervasius auf dem winzigen Kirchhof von Tilbury, umringt von allen Bediensteten und einigen Verwandten der Mutter, die er vorher noch nie gesehen hatte, und beobachtete stumm, wie schwere, kalte Erde in das quadratische Loch geschaufelt wurde, in dem ihr Körper von nun an ruhen sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihr das gefallen würde. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass sie keine Schmerzen hatte und nicht mehr leiden musste. Trotzdem war da dieses Entsetzen darüber, dass sie nicht mehr da war. Der Gemeindepriester von Tilbury hielt eine Rede auf Latein, die Gervasius nicht verstehen konnte. Er nahm sich vor, nach seiner Rückkehr nach Waltham noch härter zu arbeiten, um schon bald Latein verstehen und lesen zu können.

Am Tag nach dem Begräbnis brachte sein Vater ihn zurück. Von Tilbury Abschied zu nehmen, fiel ihm nicht schwer. Waltham war längst zu seinem zweiten Zuhause geworden, und in Zukunft würde es sein erstes Zuhause sein. Dieses Mal ritt Robert von Tilbury langsamer als auf dem Hinweg. Gervasius hatte also die Gelegenheit, sich mehrfach umzuschauen, als sie den winterlichen Wald durchquerten. Doch es war, als hätte er sich alles nur eingebildet. Es zeigte sich kein einziger Angehöriger des kleinen Volkes. Wenn er sich umblickte, sah er nur kahle Äste und das braune Laub, das von den Hufen des Pferdes aufgewirbelt wurde. Ahnten sie vielleicht, dass er und sein Vater trauerten, und ließen sie deshalb in Ruhe? Oder waren sie im Winter anderswo? So brennend war sein Wunsch, die Wahrheit über diese Wesen zu erfahren, ohnehin nicht mehr, musste er feststellen. Der Tod der Mutter hatte alles andere unwichtig werden lassen. Das Entsetzen über den Verlust begleitete ihn wie sein eigener Schatten.

Es zeigte sich bald in Form von bedrückenden Bildern in den Alpträumen, die ihm die langen Nächte zur Qual werden ließen. Regelmäßig wachte er schreiend aus einem solchen Traum auf, in dem die toten Augen der Mutter anklagend auf ihm ruhten.

Nach einer solchen Nacht, in der er seine Entsetzensschreie nicht hatte unterdrücken können, sprach ihn Philip an. Sie standen frierend nebeneinander im Lavabo, um sich vor der ersten Mahlzeit des Tages die Hände und das Gesicht zu waschen. Das Lavabo war eine Einrichtung, die Gervasius vor allem in seinen ersten Tagen in Begeisterung versetzt hatte. Es handelte sich um ein offenes Gebäude mit einem achteckigen Dach über einem riesigen steinernen Becken mit sechzehn Stellen, aus denen ein Wasserstrahl herausschoss. Das Wasser kam aus einer unter dem Dach befindlichen Zisterne und floss ununterbrochen in das mit Figuren und Blattwerk verzierte Becken. Noch war es nicht so kalt, dass die Leitung zufror, aber das sei in besonders harten Wintern bereits vorgekommen, hatte man ihnen erzählt. An diesem wunderbaren Ort konnten sich sechzehn Menschen gleichzeitig das kostbare Nass ins Gesicht spritzen.

Philip drehte sich zu ihm, nachdem er sich die Tropfen von den Händen und aus dem Gesicht geschüttelt hatte.

»Gervasius, wenn du Hilfe brauchst, dann sag Bescheid.«

»Danke, Philip, aber es geht mir gut.«

»Ein Blinder mit Krückstock kann erkennen, dass es dir nicht gut geht! Ganz zu schweigen von jemandem, der jede Nacht miterlebt, wie du aus deinen schrecklichen Träumen erwachst und dabei schreist, als würde man dich lebendig am Spieß rösten wie einen Märtyrer.«

»Es tut mir leid, dass ich euer aller Schlaf störe. Manchmal gelingt es mir, die Schreie zu unterdrücken, doch nicht jedes Mal. Vielleicht sollte ich den Dekan bitten, mir einen anderen Schlafplatz zuzuweisen.«

»Du solltest dich mit einem Erwachsenen beraten. Mit Bruder Giles zum Beispiel.«

In Gervasius’ Magen machte sich das sinkende Gefühl bemerkbar, das ihm so vertraut geworden war. Er kam sich vor wie ein wildes Tier, welches in eine von Menschen gebaute Falle geraten war. Er konnte weder vor noch zurück. Es gab keinen Ausweg.

»Wie sollte Bruder Giles mir helfen können?«

Philips Gesichtsausdruck war ernster als üblich.

»Er weiß mehr über diese Dinge als du oder ich. Und er wird sicher für deine und die Seele deiner Mutter beten.«

Gervasius versuchte, das Gefühl in seinem Inneren nicht zu beachten, doch je mehr er sich darum bemühte, desto stärker wurde es. Philip hatte recht, so konnte es nicht weitergehen. Er brauchte Hilfe.

»Ich werde darüber nachdenken. Danke für deine Besorgnis, Philip.«

Sein Vetter war noch nicht zufrieden. Einige Augenblicke schien er mit sich zu kämpfen.

»Sind wir wieder Freunde?«, brachte er schließlich heraus.

Darum ging es also. Gervasius musste unfreiwillig grinsen. Er klopfte dem Freund auf die Schulter.

»Natürlich sind wir Freunde. Das ist doch alles längst vergessen. Wegen solcher Kleinigkeiten sollte man sich nicht streiten.«

»Da hast du recht. Und jetzt lass uns gehen. Sonst bekommen wir noch Ärger.« Philip zog ihn am Gewand ins Freie.

Außer ihnen hielt sich niemand mehr im Lavabo auf. Die Mehrzahl der Domherren und Schüler saß längst im Refektorium bei heißem Haferbrei mit Honig. Während der Tischlektüre wurde von ihnen erwartet, dass sie schweigend dem Vorleser lauschten, doch später, im allgemeinen Aufbruchsgetümmel am Ende der Mahlzeit, nahm Philip die Gelegenheit wahr, Gervasius seiner Freundschaft zu versichern, indem er ihm anbot, mit ihm im Epping Forest auf die Suche nach dem kleinen Volk zu gehen.

»Das ist wirklich nett von dir. Doch ich habe inzwischen eingesehen, dass es Wichtigeres gibt, als solchen Fabelwesen hin-terherzujagen.«

»Aber du hast sie doch mit eigenen Augen gesehen! «

»Das dachte ich zumindest. Vielleicht war es nur ein Trugbild meines Geistes. Ich habe sie auch nur einmal gesehen, obwohl ich den Wald insgesamt viermal durchquert habe.«

»Ich habe bereits einen Plan ausgearbeitet. Das Abenteuer willst du dir entgehen lassen?«

»Du weißt, ich kann mir keine weitere Verfehlung leisten. Sonst werden sie mich von der Schule verweisen, und das kann ich meinem Vater nicht antun.«

Gervasius hatte ein schlechtes Gewissen, den Enthusiasmus seines Freundes zu enttäuschen, doch sein Entschluss stand fest. Keine eitlen Pläne mehr, um seine kindische Neugier zu befriedigen. Nein, ab jetzt wollte er nur noch hart arbeiten. Damit seine Mutter, die vielleicht vom Himmel auf ihn herabsah, stolz auf ihn sein konnte. Das war das Einzige, was er noch für sie tun konnte. An Philips Gesichtsausdruck konnte er ablesen, wie enttäuscht dieser war, obwohl er sich alle Mühe gab, das zu überspielen.

Dem Kaiser die Welt

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