Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 25
Reisepläne
ОглавлениеOstern war vorüber. Philip und so mancher andere in Waltham war froh, die Fastenzeit endlich hinter sich gebracht zu haben. Es gab wieder Handfesteres zu den Mahlzeiten als Suppe und dünnen Getreidebrei. Das Fastenbrechen wurde eingeläutet mit einem mehrgängigen Mahl, in dem eine Köstlichkeit mit der anderen um die Wette eiferte. Hasenrücken hatte sich durchzusetzen gegen Hirschkeule und gefüllte Täubchen. Spanferkel buhlten mit Fasanenbrüstchen um die Gunst der Chorherren und Schüler. Nach der Zeit des Darbens gab es keinen am Tisch, der nicht voller Inbrunst den fleischlichen Genüssen zusprach. Erst als der Nachtisch gereicht und die Bäuche gefüllt waren, hörte man wieder der Tischlesung zu oder begann flüsternd Unterhaltungen, die nicht für fremde Ohren bestimmt waren. Zeuge einer solchen Unterhaltung wurde unbeabsichtigt Philip, der sich zufällig beim Hinausgehen hinter dem Dekan und Bruder Giles wiederfand. Beide waren so vertieft in ihr Gespräch, dass sie den neugierig lauschenden Knaben nicht wahrnahmen. Philips Interesse war bei der Nennung des Wortes »London« erwacht. Vielleicht bot sich ihm hier eine Gelegenheit, seine Pläne schneller in die Tat umzusetzen als erwartet.
Philip fand Gervasius erwartungsgemäß in Bruder Basilius’ Kräuterbeet.
»Du wirst nicht glauben, was ich heute beim Essen gehört habe: Der Dekan und Giles wollen im Mai nach London reisen! «
Gervasius rupfte weiter Unkraut aus. »Und?«
»Was und? Sie wollen in London Stoffe kaufen für die neue Ausstattung der Kapelle des Heiligen Kreuzes und noch anderes erledigen. Sie werden drei Tage dort sein! «
»Das wird sicherlich eine nette Abwechslung für die beiden.«
»Nicht nur für die beiden. Ich werde sie begleiten! «
Gervasius warf mehrere ausgerissene Unkrautbüschel in den Hanfsack neben sich. »Und wie willst du es anstellen, dass sie dich mitnehmen?«
»Keine Ahnung. Ich werde sie wohl einfach fragen.«
»Na dann viel Glück.«
»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie dich mitnehmen werden. Aber versuch es.«
»Das werde ich auch! Ich gehe jetzt sofort zum Dekan.«
Mit diesen Worten verließ Philip den Garten. Gervasius schüttelte kurz den Kopf und ging wieder an die Arbeit.
Abends auf dem Dachboden musste Philip zugeben, dass sein Flehen bei Geoffrey Rufus auf taube Ohren gestoßen war. Aber er gab sich nicht so schnell geschlagen.
»Ich werde es bei Bruder Giles versuchen. Der ist zugänglicher als der Dekan. Bei Geoffrey Rufus denke ich manchmal, er mag Menschen nicht besonders. «
Philip fing Bruder Giles vor dem Frühstück ab, als dieser auf dem Weg zum Refektorium war. Gervasius beobachtete von weitem, wie Philip mit einem gewinnenden Lächeln das Wort an ihn richtete. Giles hörte zu, zuerst mit wohlwollender Geduld, dann kritisch blickend und schließlich ablehnend den Kopf schüttelnd. Es bestand kein Zweifel daran, wie Giles’ Antwort lautete. Es war Zeit für Gervasius einzugreifen.
Am Nachmittag überquerte er die mit Schneeglöckchen, Narzissen und anderen Frühblühern weiß und gelb gesprenkelte Wiese, die die Häuser der Chorherren vom Hauptgebäude mit Refektorium und Kapitelsaal trennte. Es war Ende April, und die Natur erwachte überall zu neuem Leben. An Bäumen und Sträuchern wurden die ersten grünen Triebe sichtbar. Die Vögel gaben sich derartige Mühe mit ihren Lobeshymnen auf den Frühling, als könnten sie ihn durch ihren Gesang dazu überreden, früher als üblich seine segensspendende Wirkung zu entfalten. Gervasius freute sich auf die Blütezeit der Obstbäume. In Gedanken versunken klopfte er bei Giles an die Haustür. Dieses Mal war der Empfang, den Giles ihm bereitete, freundlicher als in jener Nacht, in der sie Philip gesucht hatten.
»Gervasius! Was für eine Überraschung. Komm herein! «
»Danke, Bruder Giles. Ich will auch nicht lange stören. Es ist nur eine Kleinigkeit, um die ich Euch bitten möchte …«
Der Chorherr bot ihm einen Sessel vor dem kalten Kamin an, setzte sich selbst auf einen Schemel gegenüber und rieb sich seine rotblonden Bartstoppeln.
»Lass mich raten: Es geht um Philip.«
Gervasius tat erstaunt. »Woher wisst Ihr das, Bruder Giles?«
»Er hatte ebenfalls eine winzige Bitte, die ich ihm erfüllen sollte, was mir aber nicht möglich war.«
»Es ist Philips größter Wunsch. Er braucht etwas, worauf er sich freuen kann. Ihr würdet ihn damit glücklich machen.«
Giles seufzte. »Es ist schön, dass du dich so um deinen Freund sorgst, aber wir können ihn nicht mitnehmen. Für einen Jungen von elf Jahren ist es zu gefährlich in dieser Stadt.«
»Es gibt doch sicher Jungen in unserem Alter, die dort leben. Und überleben.«
»Seit dem Tod des Grafen von Salisbury steht Philip auf gewisse Weise unter der Obhut des Königs. Wir möchten uns nicht vor Henry II. verantworten müssen, wenn Philip etwas zustößt.«
»Ihr habt selbst gesehen, wie er mit den Hunden umgeht. Er ist furchtlos. Und ihm geschieht nie etwas.«
»Das mag bisher so gewesen sein, aber in London gehen Banden um, die Leute auf offener Straße überfallen, ausrauben und kaltblütig hinschlachten.«
»Ihr solltet bedenken, Bruder Giles, was geschehen wird, wenn ihr Philip diesen Wunsch nicht erfüllt.«
Giles erhob sich und starrte in den leeren Kamin. »Und was wäre das, Gervasius?«
»Er wird auf eigene Faust versuchen nach London zu kommen. Was ihn bisher abgehalten hat, ist allein die Tatsache, dass sich Henry wegen der Auseinandersetzungen mit dem jungen König jetzt kaum in Westminster aufhalten wird. Aber wenn Ihr ihn nicht mitnehmt, wird es ihn trotzdem nach London ziehen. Er langweilt sich hier zu Tode …Verzeiht, Bruder Giles. Mir geht es natürlich nicht so. Ich bin gerne in Waltham.«
»Du glaubst also, er wird sonst auf jeden Fall weglaufen?«
»Da bin ich sicher. Und dann ist er wirklich in Gefahr, als Kind ganz allein in London. Ist es da nicht besser, er tut es in Eurer Begleitung?«
»Deine Argumentation ist zwingend. Ich werde darüber nachdenken und mich mit Geoffrey Rufus beraten. Mehr kann ich nicht versprechen.«
»Eines noch, Bruder Giles: Für den Fall, dass Ihr und der Dekan Euch dazu entschließt, Philip doch mit nach London zu nehmen, könnt Ihr es so aussehen lassen, als hätte alleine seine Bitte genügt?«
Der Chorherr betrachtete ihn erneut aufmerksam, nickte dann aber. »Das lässt sich machen, Gervasius.«
Die Entscheidung erreichte sie beide am nächsten Tag nach dem Frühstück. Der Dekan persönlich stand unvermittelt vor ihnen, als sie sich vom Tisch erhoben. »Auf ein Wort, Philip und Gervasius. In meiner Kammer neben dem Kapitelsaal. Sofort.«
War seine Rechnung nicht aufgegangen? Gervasius war verwirrt. Würde der Dekan nun ihnen beiden eine Standpauke halten? Er beobachtete, wie sich die hochaufgeschossene Gestalt von Geoffrey Rufus zwischen den Chorherren und Schülern hindurch einen Weg zum Ausgang bahnte. Die Stimme des Dekans hatte nicht freundlich geklungen, aber das waren sie gewohnt. Philip sah – im Gegensatz zu ihm – aus, als würde er sich erneut Hoffnungen machen.
Sie traten hinaus in den hellen Aprilsonnenschein. Die Luft war noch kühl, doch allein die Tatsache, dass die Sonne die Wolkenschicht durchbrochen hatte, verbesserte ihre Laune. Die Vögel veranstalteten ein lautstarkes Konzert, und die ersten Insekten surrten ihnen um die Nase. Die Kammer des Dekans hatte einen eigenen Eingang. Philip betätigte den bronzenen Türklopfer in Form einer Groteskenfratze mit herausgestreckter Zunge. Metall schlug dumpf auf schweres Eichenholz. Ein gedämpftes »Herein« erreichte ihre Ohren.
Drinnen wurde die Finsternis, die von den winzigen Fenstern herrührte, nur durch wenige Kerzen erhellt. Gervasius konnte erkennen, dass der Dekan auf einem massiven Hochlehner hinter seinem Arbeitstisch auf sie wartete. Er bat sie, ihm gegenüber in zwei mit dunkelgrünem Samt bezogenen Polsterstühlen Platz zu nehmen. Gervasius war noch nie hier gewesen und nahm alle Einzelheiten aufmerksam in sich auf. Im Schein der wenigen Kerzen, die auf einer mit Metallbeschlägen verzierten Truhe standen, entdeckte er, dass die Wände des Raumes fast vollständig mit bestickten Wandbehängen bedeckt waren. Kriegs- und Jagdszenen wechselten sich ab mit Geschichten aus dem Leben Jesu. Der Tisch des Dekans war mit Pergamentrollen und gesiegelten Urkunden übersät. In einem offenen Regal stand ein Dutzend ledergebundene Handschriften, sein Privatbesitz. Die allen Bewohnern von Waltham zugänglichen Bücher befanden sich in der Bibliothek des Scriptoriums. Philip schien von dem Raum ebenfalls angetan. Er starrte gebannt auf die großformatige Tapisserie mit Jagdszenen, die an der Wand rechts neben ihm hing. Der Dekan folgte seinem Blick.
»Wunderbar, nicht wahr? Eine Darstellung aller bekannten Jagdarten. Die Jagd mit Hunden, mit Falken. Auf Dammwild, auf Füchse, auf Reiher, auf Hasen. Der Beginn der Jagd, signalisiert durch das Blasen der Jagdhörner. Die Hetzjagd mit den Hunden. Und schließlich das Ausweiden der erlegten Beute. Du interessierst dich für diese hehre Kunst, Philip von Salisbury?«
»O ja, Herr Dekan. Ich habe auch bereits Erfahrung mit dem Abrichten von Hunden.«
»Dann gibt es eine Leidenschaft, die wir teilen. Doch ihr beide seid nicht hier, um mit mir über die Jagd zu plaudern. Bevor ihr zurückkehrt an eure Schulpulte, wollte ich euch wissen lassen, dass wir beschlossen haben, euch beide nach London mitzunehmen.«
Philip hielt es vor Freude kaum noch auf seinem Stuhl. Gerva-sius blieb stumm. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Nach einer Weile fragte er: »Ihr wollt, dass ich auch mitreise, Herr Dekan? Warum?«
»Nun, das liegt doch auf der Hand. Du bist Philips bester Freund und für dein umsichtiges, vorbildliches Verhalten bekannt. Wenn man von der Sache mit Alma im vergangenen Jahr absieht. Es wird uns sehr helfen, wenn du Philip begleitest und ihn vor unüberlegten Handlungen bewahrst, während wir mit unseren geschäftlichen Angelegenheiten befasst sind. Oder willst du etwa nicht mitkommen?«
Die Augen von Philip waren bittend auf ihn gerichtet.
»Nein, natürlich werde ich mitkommen. Das ist eine gute Gelegenheit, endlich London kennenzulernen.«
»Darf ich noch eine Frage stellen, Herr Dekan?«
»Natürlich Philip.«
»Warum habt Ihr Eure Meinung geändert?«
Gervasius hielt die Luft an.
»Ich habe mich an deine Leistungen im Chor erinnert. Dein ›Tedeum‹ zum Abschluss der Laudes rührt mich jeden Morgen wieder zu Tränen. Eine so reine Stimme wie die deine hatten wir lange nicht mehr in unserer Mitte. Das wollte ich belohnen. Schade nur, dass der Stimmbruch sie zerstören wird, so sicher wie das Amen in der Kirche.«
In Philips Gesicht mischte sich Freude über das Lob mit Beunruhigung über den drohenden Stimmbruch.
Gervasius atmete aus.