Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 14

Tilbury

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Am Nordufer der Themse, wenige Meilen südöstlich von London, liegt der kleine Ort Tilbury. Die Ansiedlung, erzählte man sich, sollte auf den heiligen Cedd zurückgehen, der vor vielen Hunderten von Jahren an dieser Stelle sein berühmtes Münster hatte errichten lassen. Doch niemand wusste, wo diese Kirche gestanden haben könnte. Mittlerweile stand hier das von Normannen errichtete Gotteshaus St. Mary mit seinem Kirchhof voller verwitterter alter Grabsteine und einem Gutshof mit Wirtschaftsgebäuden und den Wohnhäusern für die Bediensteten. Vom Hof aus hatte man einen spektakulären Blick auf den Fluss, vor dessen Springfluten man sich erst seit einigen Jahren mit Deichen wirksam zu schützen wusste.

Im kalten Januar des Jahres 1163 wurde an diesem wenig wirtlichen Ort ein Junge geboren, den man auf den Namen Ger-vasius taufte. Seine Eltern, Angehörige des normannischen Adels, hatten sich in Tilbury niedergelassen, aus Gründen, von denen das Kind erst später erfuhr. Der Junge Gervasius wuchs wohlbehütet auf dem kleinen Hof in der Nähe des breiten Flusses Themse auf und entwickelte schon früh eine Liebe zum Wasser. Die Küste war nur wenige Meilen entfernt. Sobald er laufen konnte, nahmen seine Eltern ihn dorthin mit. Das Meer beeindruckte ihn besonders. Diese unendliche, meist dunkelgraue Fläche aus Wasser, diesem unberechenbaren, trügerischen, ständig im Wandel begriffenen Element. Er war ein für sein Alter großes, freundliches Kind, das früh sprechen lernte und gleich begann, Fragen zu stellen. Etwa danach, was sich hinter den Wassermassen der See befände. Man sagte ihm, das Frankenland. Zwar konnte er sich nichts unter dem Begriff vorstellen, doch wurde mit dem Lernen dieses Wortes eine Art Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach fremden Landstrichen, in ihm geboren.

Er war das einzige Kind seiner Eltern. Seine Mutter war mit König Henry IL verwandt. Diese Tatsache sollte dem Jungen in seinem späteren Leben einige Türen öffnen. Zuerst hatte er eine Amme, dann eine Kinderfrau. Seine Mutter Ada war häufig krank und konnte daher nicht viel Zeit mit ihm verbringen. Sein Vater Robert war ein wortkarger Mann, mit schwarzem Haar und eisblauen Augen. Von seiner Kinderfrau erfuhr er, dass in seines Vaters Adern keltisches Blut floss, zumindest mütterlicherseits. Der normannische Vater seines Vaters hatte sich in eine halbheidnische Irin verliebt, die bei dessen Geburt gestorben war. Sie nannten seinen Vater einen schönen Mann, der aber außer seiner kränklichen Angetrauten keine andere ansehe, was sie bedauerlich fanden.

Zuerst war seine Welt begrenzt auf den Hof mit den Wirtschaftsgebäuden. Die Stallungen für Schweine, Pferde und Kühe kannte er bald so gut wie sein Schlafzimmer. Er rannte gerne vor Vergnügen quiekend den Hühnern und Katzen hinterher, die überall auf dem Gelände herumliefen, und bedachte sie mit Namen. Er durfte beim Melken zuschauen und Hühnereier aufsammeln. Und er stellte Fragen, die seine Kinderfrau Anne manchmal überforderten: Warum denn bei den Kühen Milch aus den Eutern käme und wieso Hühner Eier legten. Er streichelte Kälber und Fohlen, wenn Anne es ihm erlaubte. Als er fünf war, durfte er in Begleitung bis zum Ufer der Themse gehen, deren Wassermassen träge in Richtung Meer flössen und in ihm jedes Mal wieder den Wunsch nach fremden Orten weckten, ein frühes Fernweh. Im Frühling und Sommer pflückte er Blumen, die seine Kinderfrau ihm dann benennen musste. Wenn sie den Namen einer Pflanze nicht kannte, überraschte ihn das sehr. Wie konnte man erwachsen werden, ohne alles zu wissen über diese Welt? Ihm würde das nicht widerfahren, nahm er sich vor. In den ersten Jahren seines Lebens war er das einzige Kind in seiner Umgebung. Erst als er fünf geworden war, nahm Anne ihn manchmal mit in die Häuser der anderen Bediensteten, in denen es Kinder gab. Jungen und Mädchen mit dünnen Armen und laufenden Nasen. Sie hatten meist schmutzige Gesichter und starrten ihn aus großen Augen ängstlich an. Auch war ihre Kleidung nicht so sauber und ordentlich wie seine. Er erkundigte sich bei Anne danach, und sie erklärte ihm, das komme, weil er ein »Herr« sei und diese Kinder seine Untergebenen.

»Aber warum gibt es Herren und Diener, Anne?«

»Weil Gott, unser aller Herr, das so eingerichtet hat. So steht es in der Heiligen Schrift, sagen die Priester.«

»Was ist die Heilige Schrift?«

»Man nennt sie auch die Bibel. Es ist das Buch, in dem die Gesetze Gottes stehen, die Leidensgeschichte Jesu und die Schöpfungsgeschichte, also die Geschichte der Entstehung der Welt. Aber solche Dinge lässt du dir besser von deinem Vater oder deiner Mutter erklären. Die wissen mehr darüber als ich.«

Seine Mutter, die er gelegentlich in ihrem abgedunkelten Zimmer im oberen Stockwerk des Gutshauses besuchen durfte, wagte er nicht mit seinen Fragen zu bestürmen, da er fürchtete, es würde sie zu sehr anstrengen. Sein Vater erklärte anfangs noch geduldig alles, was er wissen wollte. Doch dann verschlechterte sich der Gesundheitszustand seiner Mutter sehr, und Robert von Tilbury hatte keine Zeit mehr, den ungeheuren Wissensdrang seines sechsjährigen Sohnes zu stillen. Man ließ einen Arzt aus London kommen, der sich mit dem Leiden der Mutter auskennen sollte. Sie bekam verschiedene Tinkturen und Kräutersude verabreicht, wurde zur Ader gelassen und gebadet. Doch es nützte alles nichts. Ada wurde immer hagerer im Gesicht und am Körper knochig. Ihre Brüste verschwanden fast völlig, und ihre Augen sanken in den Schädel. Das schöne flachsblonde Haar wurde stumpf und dünn. Es war, als würde sie innerlich verhungern. Der Arzt musste zugeben, dass Adas Krankheit mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht beizukommen war. Jetzt helfe nur noch Beten, erklärte er schließlich, bevor er seine Tasche packte mit all den Flaschen und Tiegeln, in denen sich eine Medizin befand, die nicht wirkte, jedenfalls nicht bei Gervasius’ Mutter, und abreiste. Der Vater schimpfte auf die Unfähigkeit des Arztes, bevor er einen Domherren aus dem nur zwei Tagesreisen entfernten Kollegiatsstift Waltham kommen ließ, der für die Gesundung seiner Gattin beten sollte, oder für deren Seelenheil, falls das Gesundbeten nichts mehr nützte.

Der Stiftsherr war ein hünenhafter rotblonder Mann in einer härenen Kutte, der sich Giles de Chaumont nannte. Er überragte sogar Gervasius’ Vater. Bruder Giles behandelte den Jungen freundlich, und dieser nutzte die Gelegenheit, dem Mann Gottes all die Fragen zu stellen, die ihm in Tilbury bisher niemand beantwortet hatte. Als er dies eines Abends bei der Mahlzeit tun wollte, wurde er von seinem Vater zurechtgewiesen.

»Lass Bruder Giles wenigstens in Ruhe essen, Gervasius, und löchere ihn nicht unaufhörlich mit deinen Fragen! «

Doch Bruder Giles betrachtete den Jungen mit Wohlwollen und lobte ihn gar für seinen Wissensdurst. »Lasst nur, Sir Robert. Es ist ein Zeichen von Begabung und Verstand, dass das Kind schon so früh beginnt, sich für die Zusammenhänge der Welt zu interessieren. Ich glaube, er wird eines Tages einen guten Gelehrten abgeben.«

Gervasius wusste nicht, was das Wort Gelehrter bedeutet, aber es hörte sich an wie etwas unendlich Erstrebenswertes.

»Wie wird man ein Gelehrter, Bruder Giles?«

»Indem man zuerst das Lesen lernt und viele gebildete Werke liest, vor allem aber die Bibel, die Mutter aller Bücher. Dann auch das Schreiben lernt, um Werke aus anderen Bibliotheken kopieren zu können, die der eigenen Bibliothek nützlich sein können. Und schließlich das Disputieren und Dozieren, um sich mit anderen Magistern über das angeeignete Wissen austauschen und es gegebenenfalls an Schüler weitergeben zu können.«

»Vater, wann kann ich lesen lernen?«

Robert von Tilbury seufzte. »Ich weiß nicht, Gervasius. Ich habe zurzeit andere Sorgen.«

Das verstand Gervasius und insistierte daher nicht länger, sondern aß stumm seine Suppe weiter. Nach dem Essen schickte der Vater ihn in seine Kammer. Er hatte noch wichtige Dinge mit Bruder Giles zu besprechen. Als Gervasius die Stiege zum oberen Stockwerk hinaufkletterte, folgten ihm die tiefen Stimmen der beiden Männer wie eine kirchliche Litanei. Er hörte sie noch auf seinem Lager, sie begleiteten ihn bis in den Schlaf.

Am anderen Morgen hatte der Vater eine wichtige Mitteilung zu machen. Nach dem Frühstück zitierte er ihn in sein Studierzimmer, in dem Bruder Giles bereits wartete. Der Vater bot ihm einen Platz auf einem der hohen Lehnstühle vor dem Kamin an, doch Gervasius wollte lieber stehen bleiben.

»Nachdem ich lange mit Bruder Giles darüber gesprochen habe, bin ich zu einem Ergebnis gekommen: Du wirst ihn morgen zu seinem Kollegium in Waltham begleiten. Er möchte, dass du in die dortige Schule eintrittst, wo du nicht nur lesen und schreiben lernen wirst, sondern auch alles andere, was für einen angehenden Gelehrten wichtig ist. Wie gefällt dir das, mein Sohn?«

»Kann ich das denn nicht auch hier in Tilbury lernen, Vater?«

Robert von Tilbury schüttelte den Kopf. »Nein, dazu musst du nach Waltham gehen. Dort wird es dir sicher gefallen. Es gibt außerdem mehrere Jungen in deinem Alter dort. Und es ist nur zwei Tagesreisen entfernt von Tilbury. Du kannst also zu Besuch kommen, wenn du willst.«

Seine Freude über die Gelegenheit, einen neuen Ort kennenzulernen und lesen lernen zu dürfen, wurde getrübt von der Aussicht, Vater und Mutter verlassen zu müssen. Er wusste, dass er ohnehin keine Wahl hatte. Seine Kinderfrau Anne half ihm, seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Viel war es nicht. Eine kleine geschnitzte Holzfigur der heiligen Maria, die ihm seine Mutter geschenkt hatte. Eine Muschel, die er an einem der schönen Tage am Meer mit seinen Eltern gefunden hatte. Wenn man sie ans Ohr hielt, konnte man das Rauschen des Ozeans hören. Seine Kleidung, bestehend aus einem Winter- und einem Sommermantel, mehreren Tuniken und Unterkleidern. Er verabschiedete sich von Anne, die ein paar Tränen vergoss, als sie ihn in die Arme nahm.

»Pass auf dich auf, kleiner Mann. Vergiss die dumme Anne nicht völlig.«

»Du bist doch nicht dumm, Anne! Von dir habe ich so vieles gelernt. Grüß mir die Tiere, wenn ich weg bin.«

Als er dann über den langen Korridor mit den knarrenden Holzdielen zum Krankenzimmer seiner Mutter gehen wollte, hielt der Ruf seines Vaters ihn auf: »Wo willst du hin, Gerva-sius?«

»Ich will mich von Mutter verabschieden.«

»Bruder Giles ist gerade bei ihr. Du kannst da jetzt nicht hinein. Komm, wir gehen eine Weile auf den Hof.«

Der Junge lief hinter einer der Katzen her, doch diese wollte sich nicht von ihm verabschieden. Er tätschelte die Schweine und die Pferde. Warf den Hühnern eine Handvoll Körner hin. Dann ging er mit dem Vater zum Ufer der Themse. Gemeinsam blickten sie hinab auf den sich träge an ihnen vorbeischiebenden Fluss, der so breit war, dass man ihn für einen See halten konnte. Der Vater strich ihm über das dunkle, strubbelig nach allen Seiten abstehende Haar, sagte jedoch nichts. Gervasius verstand das. Ihm selbst schnürte die Angst vor dem Abschied die Kehle zu.

Kurz bevor sie aufbrachen, durfte er dann doch noch in das Zimmer der Mutter. Es war sehr dunkel im Raum. Zuerst hatte er Mühe, überhaupt etwas zu erkennen. Schließlich gelang es ihm, ihre Gestalt auf dem Bett auszumachen. Sie lag mit geschlossenen Augen bewegungslos unter der Decke.

»Mutter!«

Für einen Moment befürchtete er, sie würde ihm nie wieder antworten. Zitternd berührte er ihre Hand. Da flatterten ihre Lider, und der Mund verzog sich zu einer Andeutung von einem Lächeln.

»Gervasius, mein Junge.«

»Ich wollte mich verabschieden, Mutter. Heute gehe ich mit Bruder Giles nach Waltham, um dort ein Gelehrter zu werden.«

Das Lächeln wurde deutlicher. »Ich weiß, mein Kind. Du wirst deinen Weg machen. Ich werde beim Herrn ein gutes Wort für dich einlegen. Leb wohl.«

Gervasius klammerte sich kurz an die Hand der Kranken, hätte sich zu gerne in ihre Arme geworfen, was ihm aber verboten worden war, weil es sie zu sehr anstrengen würde.

»Bis bald, Mutter!«

»Gott sei mit dir, Gervasius.«

Die Stimme der Mutter verebbte in einem Flüstern. Er zog hastig die Tür hinter sich zu und sprang mit großen Schritten die Stufen hinab. Etwas in ihm wusste, dass er die Tür vor dem Tod geschlossen hatte.

Dem Kaiser die Welt

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