Читать книгу Dem Kaiser die Welt - Sabine Schäfer - Страница 7
Оглавление13. Mai 1218
Der Wolf
Der Aufstieg war lang und anstrengend gewesen. Endlich ragte die Kaiserburg mit ihren Befestigungsmauern und den zwei Türmen über ihren Köpfen empor. Vor ihnen fiel der Hang in das Radautal hinab und gab den Blick frei auf das gesamte Harzvorland. Der Wald umschloss sie von allen Seiten, bedeckte die Hänge des großen Burgberges mit einem dichten Teppich aus Bäumen. Doch Gervasius von Tilbury hatte keinen Blick übrig für die Schönheit der ihn umgebenden Landschaft. Der Kaiser hatte per Boten nach ihm schicken lassen, weil er seiner Dienste als Notar bedurfte. Otto IV. war an der Ruhr erkrankt. Aus seiner Botschaft ging nicht hervor, wie es wirklich um ihn stand, doch Gervasius befürchtete das Schlimmste. Seit vier Tagen war er unterwegs. Die Nachricht hatte ihn inmitten seiner richterlichen Arbeit in Arles erreicht. Noch am selben Tag war er, zusammen mit dem von Otto gesandten Boten und seinem langjährigen Bediensteten Henri, aufgebrochen. Sie näherten sich jetzt der Burg von Osten. Gervasius reckte ungeduldig den Hals und konnte schließlich den Bergfried mit dem Rundturm und das Torhaus ausmachen. Auf dieser Seite des Berges war der Hang sehr steil. Die winkelförmige Ostburg war hauptsächlich zu Verteidigungszwecken angelegt worden.
»Seit wann weilt der Kaiser auf der Harzburg?«, erkundigte er sich bei dem Boten, der sich Arnulf nannte.
»Als man mich losschickte, befand sich seine Majestät noch auf der Feste Harliberg. Das war vor fast acht Tagen. Der Kaiser hatte da bereits beschlossen, zur Harzburg weiterzuziehen. Er müsste mit seinem Gefolge inzwischen angekommen sein«, erklärte der Bote, während er sein Pferd am Zügel führte.
Gervasius kannte die Harzburg aus eigener Anschauung. Vor drei Jahren war er auf Einladung Ottos hier gewesen, als Dank für sein Buch, das ›Liber de mirabilibus mundi‹, das er dem Kaiser gewidmet hatte. Er zog an der Leine, um sein Pferd zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Er ließ die Burgmauern nicht aus dem Blick, als könnte er dadurch sein Ziel schneller erreichen. Beinahe wäre er mit Henri zusammengestoßen, der unangekün-digt Halt gemacht hatte. Sein Diener versuchte sein Pferd zu beruhigen, das unterdrückt wieherte, stocksteif stand und sich nicht mehr vom Fleck bewegen lassen wollte.
»Was ist los, Henri?«
Dann bemerkte er den Wolf. Ein großes, schwarz-graues Tier. Es war einige Schritte entfernt zwischen den Bäumen aufgetaucht. Jetzt näherte es sich ihnen langsam. Es bleckte die Zähne und gab knurrende Laute von sich. Weißlicher Schaum quoll ihm aus dem Maul.
»Vorsicht! Er hat die Tollwut.«
Arnulf nestelte an der Innenseite seines Mantels herum. Die Augen des Wolfes waren von einem schwefeligen Gelb. Sie leuchteten vor dem dunklen Grün des Tannenwaldes. Gervasius spürte Schweiß auf den Handinnenflächen. Arnulf hatte unterdessen gefunden, was er gesucht hatte: einen armlangen Dolch. Mit festen Schritten ging er auf den Wolf zu. Die Muskeln des Tieres schienen sich in Erwartung des Kampfes anzuspannen. Es knurrte drohend. Arnulf riss den Arm mit dem Dolch in die Höhe. Der Wolf sprang ihm entgegen. Der Bote zielte genau, stieß den Dolch mit voller Kraft in den Hals des Tieres. Ein gurgelnder Laut ertönte. Der Wolf war nicht sofort tot. Er wollte nicht von Arnulf ablassen. Nur allmählich wich die Lebenskraft aus dem Tier, und es sank schlaff zu Boden. Gervasius und Henri rannten zu Arnulf, der mit blutbespritztem Gesicht vor dem toten Tier stand, den Dolch in der zitternden Hand. Henri musste ihm die Waffe entwinden. Sie führten ihn zu einem Baumstumpf, auf dem er sich niederließ.
»Danke. Ihr habt uns vermutlich das Leben gerettet, Arnulf.«
Der Bote starrte auf den Kadaver. »Er war krank und alt. Er wäre ohnehin bald verendet.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Ich jage viel. Seht ihn Euch an, Magister.«
Gervasius trat zu dem Kadaver und musterte das auf der Seite liegende Tier. Das Fell an Beinen und Bauch hatte die Farbe von nassem Sand, der Rücken war schwarz, an Lefzen und Kehle besaß es weiße Abzeichen, die nun rot gefärbt waren vom Blut der Halswunde. Das Fell wirkte räudig. Ein alter Wolf. Die ersten Fliegen surrten bereits um die geschlossenen Augen und das leicht geöffnete, schaumverklebte Maul, das eine Reihe noch immer scharfer Zähne entblößte. Als er die Zähne sah, spürte Gervasius, wie seine Knie weich wurden. Er musste sich setzen.
Die Sonne stand schon im Westen, als sie das Torhaus der Ostburg erreichten. Arnulf hämmerte gegen das massive Eichenholz des Tores. Daraufhin sprang eine kleine Fensterluke auf, durch die ein unbekanntes bärtiges Gesicht spähte. Sie mussten eine Zeit warten, bevor der Wachmann ihnen die schwere Pforte öffnete und sie in den Hof reiten konnten. Gervasius trieb sein Pferd an, um schneller zu den Stallungen zu kommen. Von seinem ersten Besuch her war ihm der Weg vertraut. Der Kaiser hatte in der Ostburg Quartier genommen, wie vor drei Jahren. Neben der älteren Ostburg gab es eine Westburg, die durch einen tiefen, in den Fels getriebenen Graben vom Rest getrennt war. Die Westburg war ganzjährig mit einer Burgmannschaft besetzt, deren Aufgabe es war, das Reichsvogteigeld als Lehen des Reiches einzutreiben. Die Ostburg beherbergte die Stiftskapelle, in der zwei Angehörige König Heinrichs IV. bestattet lagen. Dieser hatte die Festung vor mehr als hundertfünfzig Jahren erbauen lassen. Die Kapelle war im Zuge der Sachsenaufstände zerstört worden, wie der größte Teil der Burg. Doch man hatte alles wiederhergestellt, und jetzt residierte hier Otto IV, der sich noch als regierender Kaiser betrachtete, obwohl sein junger staufi-scher Rivale Friedrich bereits auf die Stimmen des größten Teils der Fürsten und Bischöfe zählen konnte. Die Ernennung Friedrichs II., den alle stupor mundi – Staunen der Welt – nannten, zum Kaiser war eine bloße Formalität. Sie hatten die Stallungen erreicht. Gervasius übergab sein Pferd einem Stallknecht. Dann überquerte er mit langen Schritten den Burghof. Für einige Momente gab er sich der Hoffnung hin, Otto könnte sich wieder von seinem Leiden erholen. Der Kaiser war erst dreiundvierzig, zehn Jahre jünger als er selbst. Der Weife hatte immer eine robuste körperliche Konstitution besessen. Warum sollte er diese heimtückische Krankheit nicht besiegen können? Er ließ Arnulf und Henri weit hinter sich und stieß die Tür zur Halle auf.
Der Bauch des kaiserlichen Kanzlisten war in den letzten drei Jahren noch kugeliger geworden, wie Gervasius feststellte, als sich die beiden Freunde zur Begrüßung in die Arme fielen.
»Magister Gervasius! Es tut gut, dich wiederzusehen! «
»Das Gleiche kann ich von mir behaupten, Johannes Marcus. Seit wann ist die Hofgesellschaft hier?«
»Wir sind erst heute am späten Vormittag eingetroffen. Dem Kaiser wurde sofort ein Lager im Turmzimmer bereitet. Er schläft nun, nachdem er vorher lange mit der Kaiserin um sein Seelenheil gebetet hat.«
»Wie geht es ihm?«
Das gutmütige runde Gesicht des Kanzlisten verdüsterte sich.
»Nicht gut. Aber du wirst das Elend bald mit eigenen Augen sehen und selbst über den Zustand des Kaisers urteilen können.«
Johannes Marcus hatte den Magister in der großen Halle in Empfang genommen, in der selbst bei diesem strahlenden Frühlingssonnenschein Fackeln an den Wänden und Unschlittkerzen in den riesigen Kandelabern unter der Balkendecke brannten, damit man überhaupt etwas erkennen konnte.
»Was genau ist passiert? Der Bote, Arnulf, weigerte sich, mir auch nur ein weiteres Wort zu verraten, das über den Inhalt des offiziellen Schreibens vom Kaiser hinausging.«
Der Kanzlist bot Gervasius einen Platz an einer der langen Tafeln an, die in mehreren Reihen vor einem steinernen Kamin angeordnet waren, dessen gewaltige Ausmaße die Halle beherrschten.
»Otto hat sich im April, wie jedes Jahr, zu einer Frühjahrskur auf die Burg Harliberg begeben. Sein Hofarzt verabreichte ihm großzügige Mengen eines reinigenden Arzneimittels, was zu einem sehr starken Durchfall führte, der den Kaiser sehr schwächte. Vielleicht war die Dosierung zu hoch, oder die Krankheit hatte bereits in ihm gesteckt und kam erst jetzt zum Ausbruch. Niemand weiß das so genau. Jedenfalls ist Otto etwas Derartiges noch nie widerfahren. Er kennt eigentlich kein richtiges Kranksein und glaubt nun, dass seine Zeit gekommen ist. Also hat er sich auf die Harzburg bringen lassen. Zum einen, weil sie nicht weit von der Feste Harliberg entfernt liegt, zum anderen, weil im Laufe der Jahre auf dieser alten Burg einige mächtige Könige und Kaiser weilten. An diesem ruhmreichen Ort will er auf den Tod warten.«
Wider Willen musste Gervasius lächeln.
»Das muss man dem Kaiser lassen, er hat ein echtes Gespür für Tradition. Ganz wie sein Vater und der Rest seiner legendären königlichen Verwandtschaft!« Er wurde wieder ernst. »Natürlich ist das kein Grund zum Fröhlichsein. Es muss wirklich schlecht um ihn stehen, wenn er sich tagsüber freiwillig hinlegt.«
Johannes Marcus, der ein eher heiteres Naturell besaß und sich nie lange mit Unerfreulichem aufhielt, wechselte kurzerhand das Thema.
»Und wie laufen die Dinge in Arles, mein Freund?«
»Ausgezeichnet. Man hat mich in der letzten Zeit mit einigen sehr bemerkenswerten Fällen betraut. Ich werde dir ausführlicher davon erzählen, wenn Gelegenheit dazu ist. Natürlich gab es auch Schwierigkeiten. Mein Schwager Uc de Castelnau hat erneut versucht, mir meine Besitzrechte an dem Haus streitig zu machen, die ich durch die Heirat mit seiner Schwester erworben habe. Er hat es nie verwunden, dass sein Vater ein repräsentatives Palais, das seit einem Jahrhundert im Familienbesitz war, seiner Tochter Catherine als Mitgift für die Ehe mit einem zugereisten Emporkömmling wie mir verwendet hat.«
Johannes Marcus winkte einen Diener heran und orderte eine Brotzeit für die Neuankömmlinge, zur Stärkung nach dem kräftezehrenden Aufstieg. Gervasius konnte es nicht lassen, sich bei dem Freund nach dem Verbleib seines Buches zu erkundigen. Hatte der Kaiser Zeit gefunden, es zu lesen? Oder war all seine Mühe vergebens gewesen?
Man konnte es dem Gesichtsausdruck des Kanzlisten entnehmen, dass ihm das Thema unangenehm war.
»Du kennst doch Otto … Ein Mann der Tat, aber keiner des Wortes und schon gar nicht einer, der liest. Ich habe mehrmals vorgeschlagen, das Buch zur Abendunterhaltung der Hofgesellschaft vorlesen zu lassen, aber Otto war dauernd mit anderen Dingen beschäftigt. Entweder musste er sich seiner Gemahlin widmen, oder der Tag war so aufreibend gewesen, dass er nichts mehr hören wollte außer dem Prasseln des Kaminfeuers und dem Knacken der knusprigen Bratenhaut, wenn er in einen saftigen Kapaunschenkel biss. Es tut mir leid.«
»Schon gut. Du hast es versucht«, gab Gervasius zurück, doch der Schmerz der Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er dachte daran, wie viele Stunden er damit verbracht hatte, die antiken und biblischen Autoritäten zu Rate zu ziehen, bevor er sich darangemacht hatte, die Geschichte der Welt von ihrem Anfang an nachzuerzählen. Für den dritten Teil, über die Wunder der Welt, hatte er jahrelang auf seinen zahlreichen Reisen alle bemerkenswerten Geschichten gesammelt, die die Menschen in fremden Landstrichen ihm über ihre Heimat anvertraut hatten: Legenden und Schauergeschichten, Lachhaftes und Unheimliches. Diese Geschichten waren zu einem Teil seines Lebens geworden, und das Buch war die Summa daraus.
»Mit Nachdruck hat Otto, immer wenn ich damit anfing, gesagt, er werde dein Buch nicht eher lesen, bis du ihm, wie versprochen, die dazugehörige Karte vorlegst. Irgendwann habe ich es aufgegeben.«
Die Karte. Seine Amtsgeschäfte als oberster Richter der Provence und die Angelegenheit mit Agnes hatten ihm wenig Zeit gelassen, mit diesem Unterfangen fortzufahren. Hätte er geahnt, wie wenig Zeit ihm zur Verfügung stand, hätte er dem Ganzen mehr Aufmerksamkeit gewidmet und könnte dem Kaiser nun wenigstens dieses eine Abschiedsgeschenk machen.