Читать книгу Antisemitismus und Islamophobie - Sabine Schiffer - Страница 19
2.2.2.6 Die Macht der Sprache: Projektion als Eigenentlastung
ОглавлениеEin Gegenüber bietet sich geradezu an, die Projektion der eigenen Wünsche ebenso zu verkörpern wie das Negative, das man lieber dem Anderen zuschreibt als sich selbst.104 Die markierte Gruppe der Juden war somit besonders prädestiniert dafür, immer wieder diese Rolle zu übernehmen. Darüber hinaus hat die Schaffung einer »Gegengruppe« den Effekt, dass durch den Verweis auf Missstände dort andere Probleme weniger in den Blick geraten und somit Systeme stabil gehalten werden, die sonst kritisiert werden könnten.105 Vorstellungen von vermeintlichen Charaktereigenschaften ganzer Gruppen, die von strukturellen Benachteiligungen ebenderselben ablenken, waren und sind Instrumente, die eigene Ohnmacht oder aber das Desinteresse an Veränderung zu kaschieren. Nicht von ungefähr keimte der Antisemitismus immer wieder in (wirtschaftlichen) Krisenzeiten besonders auf.
Diese Wegverweisung auf »Die dort« mittels Sprache war und ist gängiges Mittel der Politik. So erklärt Thomas Luckmann die wichtige Funktion von Vorurteilen und gesellschaftlichem »Wissen« allgemein als psychologische Entlastung und Legitimation von spezifischen, vor allem politisch und ökonomisch bedingten Abgrenzungsmechanismen.106 Das bedeutet gleichzeitig, dass an den Grundbedingungen für Ängste, Prekarisierung oder gesellschaftlichem Auseinanderdriften nichts geändert wird, weil diese in dem Zusammenhang in den Hintergrund treten und man sich mit Oberflächenphänomenen befasst.
Das Potenzial der Entlastungsfunktion ist beispielsweise auch dann gegeben, wenn die Abschottung vor den »Wirtschaftsflüchtlingen« von europäischen Regierungen als Selbstschutzmaßnahme ausgegeben wird. Dabei wäre eigentlich die Frage zu beantworten: Wer muss sich vor wem schützen? Kann angesichts der Weltwirtschaftsstruktur überhaupt zwischen legitimen Migrationswünschen (politischem Asyl) und illegitimen (Armut und Hunger) unterschieden werden? Gerade die ungerechte Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten der Vermarktung von Waren, welche die Weltwirtschaft nicht nach dem Gemeinwohlprinzip ordnet, ist für das enorme Gefälle und unzählige Tote, Kriege und Krisen verantwortlich. Von diesem System profitieren nur wenige, während ganze Kontinente hemmungslos ausgebeutet werden, Massen in die Not, den Suizid oder die Flucht getrieben werden. Der Zusammenhang zwischen dem Wohlstandsgefälle und Migrationsbewegungen wird aber weniger diskutiert als über den Umgang mit Migration selbst.
Das entlastende Gefühl des Berechtigtseins, um den Erhalt der eigenen Privilegien zu kämpfen, welches durch die Vorstellung einer Bedrohung »unserer« Ordnung genährt wird, hat auch immer wieder die moralisch durchaus anspruchsvollen Gemüter beruhigt. Eben entsprechend der Vorstellung, dass es mehr als legitim sei, Schutzmaßnahmen vor einer »Gefahr« zu ergreifen, bevor es eventuell »zu spät« sei. Ein Entlastungsgefühl kann aber auch dann vorliegen, wenn der Antisemitismus in seiner schlimmsten Ausprägung als ein ausschließlich deutsches Phänomen interpretiert wird. Auch das kommt einer Wegverweisung gleich, einer Projektion. Dies drängt sich durch den Kulminationspunkt der Shoah zwar auf, lenkt aber ab von den zugrundeliegenden eigenen, gleichen und ähnlichen Diskurs- und Denkmustern in Diskriminierungsdiskursen weltweit und verhindert damit Bewusstseinsprozesse für die Erkennung von Antisemitismus und rassistischen Strukturen allgemein.
Ganz so explizit und bösartig wie zu Zeiten des Nationalsozialismus kommen neue Formen von Rassismus außerhalb rechtsradikaler Diskurse heute nicht mehr daher. Der hohe Explizitheitsgrad antisemitischer und anderer gruppenstereotyper Alltagsdeutungen verstellt jedoch leicht den Blick auf die alten, teilweise banalen, lange tradierten und verfestigten Denkmuster, die in der NS-Zeit schließlich extrem zugespitzt verbalisiert, visualisiert und als Handlungsgrundlage genutzt werden konnten.
Trotz der heute erkannten, ungerechtfertigten Verunglimpfung von Juden und anderen Minderheiten wie den Sinti und Roma fanden die Behauptungen damals offensichtlich eine breite Akzeptanz. Es sollte als wichtiger Hinweis ernst genommen werden, dass der Verweis auf den nationalsozialistischen Antisemitismus von aktuellen Missständen – egal in welchem Stadium – ablenken kann. So macht die Analyse von Hajo Meyer, der als Junge 1938 Deutschland verließ, einen fatalen Mechanismus deutlich: Wird der Holocaust zum einzigen und ultimativen Kulminationspunkt des Bösen erklärt, dann erscheinen andere Diskriminierungen als harmlos – angesichts der somit sehr hoch angelegten Messlatte. So gelingt es nur wenigen, wie beispielsweise Paul Silverstein, die Diskriminierung maghrebinischer Jugendlicher in Frankreich wahrzunehmen und diese auch in Bezug zu deren Wahrnehmung anderer – vermeintlich privilegierter – Minderheiten zu setzen. 107