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II. Die Rolle der Polizei
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1. Die Polizei hat eine Doppelfunktion, sie wird präventiv und repressiv tätig:
– | präventiv zur Verhinderung von Störungen der öffentlichen Sicherheit (wozu insbes. auch Straftaten gehören) und Ordnung, zB durch Streifengänge, allgemeine Observationen etc. Dieser Teil ihrer Tätigkeit ist in den Polizei- und Sicherheitsgesetzen der Länder geregelt. |
– | repressiv zur Aufklärung bereits begangener Straftaten. Hierfür sind die Vorschriften des Strafprozessrechts (insbes. StPO, GVG) einschlägig. |
Das Weisungsrecht der StA gegenüber der Polizei gem. § 161 I StPO iVm § 152 GVG bezieht sich nur auf die repressive Tätigkeit (Beispiel: Anordnung der Festnahme des Täters). Streitig ist das Verhältnis zwischen repressiver und präventiver Tätigkeit, wenn sich beide Bereiche überschneiden. In Teilen des Schrifttums wird die Ansicht vertreten, dass bei Bestehen eines Anfangsverdachts hinsichtlich der Begehung einer Straftat ein Rückgriff auf die Normen der Gefahrenabwehr immer ausgeschlossen ist[8]. Die herrschende Ansicht stellt darauf ab, ob der Schwerpunkt des polizeilichen Eingreifens auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr (dann Polizeirecht) oder der repressiven Tätigkeit (dann Strafverfahrensrecht) liegt[9]. Im Falle der Anordnung einer Geiselbefreiung wurde deshalb angenommen, dass der Schutzaspekt zugunsten der Geisel überwiegt, sodass insoweit der Schusswaffengebrauch nicht durch die StA angeordnet werden darf[10]. Ebenso überwiegt der präventive Bereich, wenn eine bestimmte Vernehmungstechnik angeordnet wird, um einen mutmaßlichen Kindesentführer zur Preisgabe des Verstecks zu bewegen (Fall Gäfgen, dazu auch Rn 182, 208, 447 u. 744). In jüngster Zeit hat sich der BGH jedoch der Meinung angeschlossen, dass beide Aufgabenbereiche gleichberechtigt nebeneinander stehen, sodass es bei einer sog. Gemengelage ausreicht, dass die Maßnahme entweder durch eine polizeirechtliche oder eine strafprozessuale Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist[11]. Der Sache nach läuft das auf ein Wahlrecht der Polizei hinaus, das jedoch die Gefahr heraufbeschwört, dass die Polizei die den Beschuldigten und mittelbar alle Bürger schützenden prozessualen Normen unterlaufen kann (so zB im Falle der Durchsuchung [Rn 399] die richterliche Anordnungsbefugnis nach § 105 StPO [Rn 402]). Die Rspr meint, einer missbräuchlichen, bewussten Umgehung strafprozessualer Voraussetzungen bzw der Aushöhlung von Beschuldigtenrechten auf dem Wege der Anerkennung von Beweisverwertungsverboten (u. Rn 700) entgegenwirken zu können. Das überzeugt jedoch nicht, denn die dort befürwortete vage Abwägungstheorie (u. Rn 705) ermöglicht de facto jedes kriminalpolitisch für opportun gehaltene Ergebnis.
Beispiel nach BGHSt 62, 123[12]: Die Polizei ermittelt gegen A wegen Verdachts des Heroinhandels (strafbar nach BtMG). Eine Telefonüberwachung des bereits als „Beschuldigten“ geführten A ergab, dass A an einem bestimmten Tag Rauschgift von den Niederlanden nach Deutschland transportieren sollte. Dies wollte die Polizei für einen Zugriff auf A nutzen. Es erschien ihr notwendig zu verhindern, dass Betäubungsmittel in erheblichem Umfang in Deutschland in Umlauf gerieten; zugleich waren die Beamten an der Sicherung etwaiger Beweise für ein Strafverfahren gegen A interessiert. Da der noch in Marokko befindliche Hintermann/Mitbeschuldigte nichts von den Ermittlungen erfahren sollte, wurde die Verkehrspolizei eingeschaltet, die das mit polizeilichem Peilsender versehene Fahrzeug des A unter der Legende einer Verkehrskontrolle inspizieren sollte. Die Einholung eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses wurde „in Fortsetzung der üblichen Praxis“ für nicht erforderlich gehalten. Als A an einer Baustelle die vorgeschriebene Geschwindigkeit überschritt, wurde er angehalten und der Wagen mit Hilfe der Kriminalbeamten und unter Einschaltung eines Drogenspürhundes durchsucht. Es wurden 8 kg Kokain gefunden. Nunmehr wurde A vorläufig festgenommen. Im gesamten weiteren Verfahren machte A von seinem Aussageverweigerungsrecht gem. § 136 StPO ( Rn 178) Gebrauch. War der Einsatz rechtmäßig? Kann das gefundene Rauschgift im Strafverfahren gegen A als Beweismittel herangezogen werden?
Lösung: Nach wohl herrschender und überzeugender Ansicht ist bzgl der Frage, ob sich die Rechtmäßigkeit des polizeilichenVorgehens aus dem Polizeirecht oder dem Strafprozessrecht ergibt, auf den Schwerpunkt der polizeilichen Tätigkeit abzustellen. Hier sollte zwar auch verhindert werden, dass Betäubungsmittel in erheblichem Umfang in Deutschland in Umlauf gerieten, vorrangig ging es aber um die Aufklärung der Rauschgiftdelikte. Es gelten deshalb die strafprozessualen Regeln (§§ 102 ff StPO). Für die vorprogrammierte Durchsuchung hätte es gem. § 105 StPO einer richterlichen Anordnung bedurft (vgl Rn 402). Ihr Fehlen könnte sich auf die Verwertung des beschlagnahmten Rauschgifts als Beweismittel durch Annahme eines Beweisverwertungsverbotes auswirken ( Rn 700). Demgegenüber stufte der BGH das Vorgehen, das „jedenfalls auch“ der Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr diente, als eine vom Polizeirecht (hier § 37 I Nr 1, 3 HessSOG) gedeckte Maßnahme der Gefahrenabwehr ein, die keinem Richtervorbehalt unterliegt. Dass A auch bereits Beschuldigter iSd StPO war, sodass auch die unter Richtervorbehalt stehenden §§ 102, 105 StPO ein Vorgehen gegen ihn ermöglicht hätten, stehe der Rechtmäßigkeit dieser doppelfunktionalen Maßnahme nicht entgegen, denn die polizeilichen und die strafprozessualen Eingriffsermächtigungen seien gleichwertig. De facto kann die Polizei nach dieser Ansicht wählen, welchen Weg sie gehen will. Hier habe sich die Polizei für das polizeirechtliche Vorgehen entschieden, um die laufenden Ermittlungen nicht vorzeitig offenbaren zu müssen (sog. legendierte Kontrolle). Dass die auf präventiv-polizeilicher Grundlage rechtmäßig gewonnenen Beweismittel im Strafverfahren verwendet werden dürfen, ergibt sich nach Ansicht des BGH aus der speziellen Regelung des § 161 III 1 StPO, die nach den Grundsätzen des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ die Verwendung präventiv erlangter Erkenntnisse im Strafverfahren auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen der StPO gestattet, sofern es um die Strafverfolgung von Taten geht, aufgrund derer eine solche Maßnahme nach der StPO hätte angeordnet werden dürfen (Verdacht einer schweren Straftat). Insofern werde also nur auf die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Beweisgewinnung abgestellt (Rn 362). Ein (selbstständiges) Beweisverwertungsverbot (Rn 704) komme nicht in Betracht, denn die gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme sei nicht etwa gezielt gewählt worden, um den Richtervorbehalt zu umgehen. Die Durchsuchung sei also rechtmäßig und der Tatnachweis könne mittels des gefundenen Rauschgifts geführt werden. Im Ergebnis duldet der BGH damit eine – vom Gesetzgeber gebilligte[13] – strukturelle Umgehung des Richtervorbehalts ebenso wie den hieran im Fall noch angeschlossenen Verstoß gegen § 136 I 1 StPO mit dem Gebot, den Tatvorwurf bereits in der ersten Vernehmung vollständig offenzulegen, und eine Verletzung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und -vollständigkeit (§§ 163 II 1, 168b I StPO). Grundsätzlich muss sich aus den Akten ergeben, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden sind und welchen Erfolg sie gehabt haben. Das ist hier unterblieben. Dies stellt einen Verstoß gegen den fair-trial-Grundsatz dar, der nach Ansicht des BGH dann nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führt, wenn innerhalb angemessener Zeit die Vorgänge nachträglich aktenkundig gemacht und der Verteidiger und der Beschuldigte informiert werden.
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2. Die Beamten des Polizeidienstes (Ermittlungspersonen der StA und sonstige Polizeibeamte) werden nicht nur auf Wunsch der StA tätig, sondern auch aus eigenem Antrieb, sofern sie entsprechende Wahrnehmungen machen (zur privaten Kenntniserlangung s.o. Rn 149), uU bewirkt durch eine Anzeige, die auch direkt bei der Polizei angebracht werden kann (§ 158 I StPO). Gem. § 163 I 1 StPO ist es ihre Aufgabe, von sich aus Straftaten zu erforschen. Dabei hat die Polizei alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhindern (§ 163 I 1 StPO).
Lange Zeit war umstritten, in welchem Umfang die Polizei zu diesem Zweck Maßnahmen treffen durfte, für die keine ausdrücklichen gesetzlichen Befugnisse existierten, da § 163 StPO aF nur eine Aufgabenzuweisung, aber keine Eingriffsbefugnis enthielt.
Das Problem hatte sich inzwischen allerdings nicht unerheblich entschärft, weil weite Bereiche der von der Polizei gewünschten und durchgeführten Maßnahmen speziell geregelt worden sind, so die sog. Rasterfahndung, bei der bestimmte existierende Dateien nach kriminalistischen Gesichtspunkten maschinell ausgewertet werden (§§ 98a–98c StPO), die Observation durch Bildaufnahmen und sonstige technische Mittel (§ 100h StPO), die längerfristige Beobachtung (§ 163f StPO), die Online-Durchsuchung (§ 100b StPO), der sog. Lauschangriff, bei dem das nichtöffentlich gesprochene Wort abgehört und auf Tonträger aufgenommen werden darf (§§ 100c, 100e, 100f StPO), der Einsatz Verdeckter Ermittler (§§ 110a ff StPO), die sog. Schleppnetzfahndung, bei der Daten vorübergehend gespeichert und ausgewertet werden, die bei Grenzkontrollen und Kontrollstellen nach § 111 StPO anfallen (§ 163d StPO) und die Errichtung und Auswertung eines länderübergreifenden staatsanwaltlichen Verfahrensregisters (§§ 492 ff StPO).
Mit dem StVÄG 1999 hat der Gesetzgeber eine Ermittlungsgeneralklausel geschaffen (§§ 161 I, 163 I StPO). Die StPO folgt zwar auch weiterhin dem Prinzip der Einzeleingriffsermächtigung für grundrechtsrelevante Ermittlungsmaßnahmen, jedoch erscheint eine abschließende gesetzliche Beschreibung und Regelung aller im Einzelfall denkbaren Ermittlungsmaßnahmen angesichts der sich ständig ändernden Erscheinungsformen der Kriminalität und immer neuer Aufklärungsmöglichkeiten kaum möglich. Eine Generalklausel für Maßnahmen, die weniger intensiv in die Grundrechte des Bürgers eingreifen, war daher unverzichtbar. Die §§ 161 I, 163 I StPO erteilen der StA sowie ihren Ermittlungspersonen ausdrücklich das Recht (sie sind „befugt“), die erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen selbst vorzunehmen. Die Vorschrift kann aber keinen Ersatz für eine verfassungsrechtlich oder strafprozessual erforderliche Einzeleingriffsermächtigung für „tiefer“ in Grundrechte eingreifende Maßnahmen darstellen. Da nach dem Willen des Gesetzgebers schon für eine längerfristige Observation des Beschuldigten, eine Durchsuchung oder eine Beschlagnahme eine Einzeleingriffsermächtigung angezeigt ist, können nur solche Grundrechtseingriffe als von §§ 161 I, 163 I StPO gedeckt angesehen werden, die in ihrer verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Bedeutung unterhalb der Schwelle derartiger Ermittlungshandlungen liegen. Dies kann zB bei der Einholung von Erkundigungen im Umfeld einer gesuchten Person oder bei einer kurzfristigen Überwachung des Beschuldigten der Fall sein[14].
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In welchen rechtlichen Grenzen die von der Polizei präventiv gewonnenen Daten im Rahmen der repressiven Strafverfolgung genutzt werden dürfen, ist bis heute noch nicht endgültig geklärt. Nach herrschender Ansicht ist im Prinzip der generelle Transfer der polizeilichen Daten in das Strafverfahren aus allgemeinen Erwägungen unbegrenzt möglich. Angesichts der häufigen Untrennbarkeit des präventiven vom repressiven Vorgehen dürfte dies zwar weitgehend zutreffen, kann aber andererseits von vornherein nur unter dem Vorbehalt gelten, dass mit dem „Ausweichen“ auf das Polizeirecht keine speziellen Eingriffsvoraussetzungen der StPO umgangen werden dürfen[15]. Dies bestätigt die heutige (partielle) gesetzliche Regelung. Gemäß dem Grundsatz des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ dürfen nach § 161 III 1 StPO die aufgrund anderer Gesetze gewonnenen personenbezogenen Daten, sofern sie aus Maßnahmen resultieren, die nur beim Verdacht bestimmter Straftaten zulässig sind, ohne Einwilligung des Betroffenen nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme auch nach den Regeln der StPO angeordnet werden darf[16] (s. Rn 362, 415). Für den speziellen Bereich präventiv-polizeilicher Erkenntnisse aus einem Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung bei nicht offenen Ermittlungen in oder aus Wohnungen bestimmt § 161 IV StPO, dass eine Verwendung im Strafverfahren nur zulässig ist, wenn das AG die Rechtmäßigkeit der Maßnahme festgestellt hat[17]. Näher zu Präventivstrategien Rn 479.
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Die gesetzliche Regelung geht davon aus, dass der Polizei nur das Recht und die Pflicht des ersten Zugriffs zukommt und sie den Vorgang anschließend unverzüglich der StA weiterleitet, die daraufhin die Leitung des Ermittlungsverfahrens übernimmt, § 163 I, II 1 StPO. Die Realität ist hingegen dadurch gekennzeichnet, dass in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle (insbes. in den weniger wichtigen) die Polizei die Ermittlungen selbstständig bis zur Anklagereife führt und erst dann die Sache an die StA weiterleitet, zumal die StA häufig weder über die personellen Ressourcen noch über die fallbezogenen Informationen verfügt, um ihrer Aufgabe als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ ausreichend nachzukommen[18].
§ 6 Die Polizei als Helfer der Staatsanwaltschaft › III. Zwangsrechte der Polizei