Читать книгу Ich weiß was du getan hast - Stefan Zeh - Страница 11

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Jennifer Weihn war nervös. Sie hatte ein Vorstellungsgespräch bei einer angesagten Werbeagentur in Stuttgart. Sie hatte sich dort bereits vor dem Abitur als Grafikdesignerin beworben und zu ihrer großen Überraschung eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhalten. Das Unternehmen war nicht das einzige, das sie angeschrieben hatte. Es waren zig Bewerbungen rausgegangen. Aber trotz ihrer guten Noten im Abschlusszeugnis erhielt sie fast nur Absagen. Umso größer ihre Freude, als sie eines Morgens das Einladungsschreiben in ihrem Briefkasten vorfand.

Jenny, wie Freunde sie nannten, hatte sich umfangreich über die Firma informiert, im Internet recherchiert und sogar dort angerufen, um etwas zu finden, das ihr einen Vorteil verschaffte. Sie hatte etliche Bücher aus der Bücherei besorgt, um für etwaige Fragen gewappnet zu sein. Hatte sich Notizen gemacht, ein passendes Outfit besorgt, war die wichtigsten Antworten nochmal im Kopf durchgegangen. Ihr Vater erklärte sich bereit mit ihr zu üben, was sie dankend annahm, aber ihrem Vater gegenüber zu sitzen, war ein völlig anderes Gefühl, als einem Personalchef.

Jenny konnte sich in Vorstellungsgesprächen gut verkaufen. Obwohl sie erst drei oder vier gehabt hatte, war das Feedback durchweg gut und sie erhielt beinahe immer eine Zusage. Trotzdem war sie unruhig. Das Gespräch war ihr wichtig. Sie wollte die Stelle. Grafikdesignerin zu werden war ihr großer Traum. Schon als Kind. Sogar in ihrer Freizeit arbeitete sie gerne am PC, entwarf Bilder für die Schülerzeitung und hatte ihrem Vater bei einem Projekt für seinen Chef geholfen. Sie hatte sogar einen Entwurf für das Logo der Schule erstellt und dieser war als bester ausgewählt worden. Sie konnte also auf viel Erfahrung zurückblicken und würde diese in dem Gespräch auch zum Ausdruck bringen. Vorausgesetzt, sie vergaß nicht die Hälfte. Die erste Viertelstunde war die Schlimmste. Danach ging es. Trotzdem war der erste Eindruck nicht unerheblich und sie wollte auf keinen Fall so wirken, als wäre sie völlig durch den Wind. Aber genau so fühlte sie sich.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Noch über eine halbe Stunde Zeit. Eigentlich kein Grund, sich zu beeilen. Aber langsamer laufen konnte sie nicht.

Jenny war 18 Jahre und hatte lange, blonde Haare, die ihr bis zur Taille reichten, mit vereinzelt orange-roten Strähnchen. Sie besaß die dazu passenden hellblauen Augen und ein sehr hübsches Gesicht. Sie trug eine beigefarbene Stoffhose und einen Blazer über einem schwarzen Oberteil. Um den Hals trug sie eine silberne Kette mit einem Opal, der ihre Augenfarbe aufgriff. Ihr gutes Aussehen war in vielen Situationen nützlich, allerdings wollte sie in dem Gespräch mit ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten und nicht nur mit ihrem Äußeren überzeugen.

Sie bog in die Eierstraße ein. Den Weg hatte sie sich vorab bei Google Maps angeschaut und eingeprägt. Es dürfte kein Problem werden, die Firma zu finden. Rechts von ihr befand sich die Matthäuskirche. Diesen Teil von Stuttgart kannte sie überhaupt nicht. Sie war zwar ein oder zweimal mit der U-Bahn vorbeigefahren, aber nie ausgestiegen. Sie bog in die Dornhaldenstraße ein und fand auf Anhieb das Gebäude. Sie warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr. Immer noch 25 Minuten. Sollte sie schon mal hochgehen? Oder lieber noch etwas draußen warten? Sie wusste, es gab nichts Schlimmeres, als zu spät zu einem Vorstellungsgespräch zu kommen, meinte aber sich dunkel zu erinnern, dass es auch einen schlechten Eindruck machte, viel zu früh zu kommen. Und sie war definitiv zu früh. Sie blieb also vor der Tür stehen und wartete einen Moment.

Es war ein angenehm warmer, wenn auch trüber Maitag. Nach dem eisigen Winter hätte man annehmen können, die Temperaturen würden Mitte Mai noch bescheiden ausfallen, aber mit 20 Grad war es schon sehr mild, obgleich das Wetter im Moment wenig einladend war.

Sie ging im Kopf nochmals die Standardfragen durch. Sie hatte sich vorab jede einzelne Frage aus den Ratgebern auf einem Block notiert und sich eine pfiffige Antwort überlegt, die nicht zu abgedroschen klang. Auf einige Fragen war es schwierig, überhaupt etwas Überzeugendes zu finden, das nicht auch jeder andere bringen würde. Aber letztendlich gelang es ihr, gute Antworten vorzubereiten, von denen sie wusste, wie sie sie rüber bringen würde. Wenn sie nur nicht so nervös wäre! Dabei konnte sie es doch. Sie hatte es ein dutzend Mal im Kopf durchgespielt. Es konnte nichts schief gehen. Sicher war sie allerdings nicht. Aber ihr war klar, wenn sie weiter hier draußen stand und die Fragen durchexerzierte, machte sie sich nur verrückt.

Die Werbeagentur befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes und machte auf Jenny einen ansprechenden Eindruck. Die Mitarbeiter, die sie zu Gesicht bekam, waren alle noch relativ jung und wirkten weder gestresst noch überfordert. Ganz im Gegenteil, das Betriebsklima schien entspannt. Sie sah einen jungen Mann, der bei einer Frau, höchstens Ende 30, saß und sich leise plaudernd über etwas auf dem Bildschirm unterhielt. Eine andere Frau bereitete Kaffee zu und sprach aufgeregt mit einer Kollegin.

„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“, lächelte sie die junge Frau hinter dem Empfangstresen an. Sie nannte ihren Namen und ihr Anliegen, worauf die Empfangsdame ein kurzes Telefonat führte und sie dann freundlich bat, ihr zu folgen. Sie führte Jenny in einen Nebenraum mit einem flachen orange-farbenen Sofa und bat Jenny, Platz zu nehmen, der Chef würde gleich kommen. Jenny hängte ihre Jacke an den bereits ziemlich vollen Garderobenständer und wartete. Die Wanduhr tickte leise, sie hörte Stimmen aus dem Nebenraum, wo vermutlich momentan ein weiteres Vorstellungsgespräch geführt wurde. Sie sah sich um. Vor ihr stand ein breiter Glastisch mit einer kunterbunten Obstschale darauf, an der Wand hingen mehrere Poster von Covern verschiedener Zeitschriften, an denen die Werbeagentur vermutlich mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu dem Raum, in dem sie zuvor gewesen war, waren die Wände hier gerade und nicht unter einer Dachschräge. Sie holte ihr iPhone heraus. Sie hatte vier ungelesene Whatsapp-Nachrichten. Aber egal. Die würde sie nachher noch lesen können. Sie wollte auf keinen Fall durch Anrufe oder vibrierende Nachrichten unangenehm auffallen, also aktivierte sie den Flugmodus und steckte das iPhone wieder in ihre Handtasche.

Zehn Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Ihre Nervosität wuchs. Auf der Hinfahrt in der U-Bahn war es mit der Unruhe noch einigermaßen gegangen. Vor dem Gebäude wurde es stärker und jetzt, unmittelbar vor dem Gespräch, war es am schlimmsten. Sie hoffte, sie würde bald rein gebeten. Die Zeit kam ihr endlos vor, obwohl der Termin gerade einmal fünf Minuten über der Zeit lag. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Flasche Mineralwasser und ein Orangensaft. Die Empfangsdame hatte ihr angeboten, sich zu bedienen, aber sie war zu nervös, sie konnte nichts trinken. Wenn sie sich einschenkte, würde sie bestimmt in der Sekunde aufgerufen werden. Ihre Gedanken schweiften zur Schule. Es war unglaublich, wie schnell die Zeit am Ende vorbeigegangen war. Jenny hatte sich nie wirklich vorstellen können, wie es sein würde, wenn ihre Schulzeit tatsächlich beendet war. Das war quasi ihr gesamtes, bisheriges Leben. Zumindest der Teil, an den sie sich erinnern konnte. Nun war es vorbei. Sie war immer überzeugt gewesen, es müsste ein gutes Gefühl sein. Nicht mehr ihre ganze Zeit verschwenden, auf sinnlose Fächer zu lernen, sich auf nervtötende Prüfungen vorzubereiten, Hausaufgaben zu machen und sich durch einschläfernde Physikstunden durch zu schlagen. In dieser Hinsicht war sie froh. Und vermutlich wäre sie glücklich, wenn da nicht dieses andere Ereignis gewesen wäre. Dieses Ereignis, das ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Das sie noch immer schmerzte, wenn sie daran dachte. Was mochte nur passiert sein? Sie stellte sich diese Frage immer und immer wieder. Oft lag sie nachts wach und konnte keinen Schlaf finden. Sie dachte an ihr letztes Gespräch und ihre letzten Worte. Dachte an den Tag, wo sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber es gab keinen Hinweis auf das, was folgte. Oder wenn doch, dann fand sie ihn nicht. Vielleicht war es nie ein Zufall gewesen. Sie bekam es nicht aus dem Kopf. Sobald es um sie herum still wurde, dachte sie wieder daran. Es ließ ihr einfach keine Ruhe. Diese quälende, unbeantwortete Frage: Was war passiert? In diesem Moment wurde die Tür zum Nebenzimmer geöffnet. Die Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. Ein junger Mann mit glatten, braunen Haaren und Bart trat aus der Tür. „Frau Weihn?“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.

„Ja.“ Sie lächelte ebenfalls und erhob sich.


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