Читать книгу Ich weiß was du getan hast - Stefan Zeh - Страница 16

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Kathrin und Kern befanden sich auf dem Weg zum Albrecht-Magnus-Gymnasium, an dem Larissa Kreuzner gearbeitet hatte. Kern bog an der Oberen Ziegelei in die Sommerrainstraße ab. Ihm war anzusehen, dass er keine besonders gute Laune hatte. Kathrin war es bereits aufgefallen, als er heute morgen das Präsidium betrat und sein „Morgen“ nach einem „auf keinen Fall ansprechen“ klang. Kathrin vermutete, dass es mit seiner Frau Sandra zusammenhing. Es gab wohl in letzter Zeit häufiger Krach. Worum es genau ging, wusste Kathrin nicht. Kern erwähnte nur, dass sie ihm Vorhaltungen machte, weil er zu viel arbeitete, ständig unterwegs war und sich - ihrer Meinung nach - mehr um seine Arbeit als um seine Familie kümmerte. Kathrin konnte ihren Ärger nachvollziehen. Geregelte Arbeitszeiten sahen anders aus. Es kam nicht selten vor, dass es 21 Uhr und später wurde, bis sie und Kern das Gebäude verließen. Neben den vielen Befragungen von Zeugen und Recherchen fiel auch allerhand Papierkram an, insbesondere, wenn sie es mit einem aktuellen Mordfall zu tun hatten. Markus Kern und seine Frau Sandra waren, soweit Kathrin wusste, schon seit über 25 Jahren verheiratet. Kern hatte nie besonders viel von seinem Privatleben preisgegeben, daher wollte Kathrin ihn nicht löchern und ging davon aus, dass es alles in allem gut lief. Aber in letzter Zeit hatte sich etwas verändert. Kern war öfters schlecht gelaunt, wirkte sehr unausgeglichen und neigte zu Wutausbrüchen. Kathrin konnte seine Lage verstehen, fand es aber nicht gut, dass er seine Laune an Kollegen ausließ. Weder sie, noch andere aus ihrem Team konnten etwas für die Arbeitszeiten oder seine privaten Probleme. Dennoch beschloss Kathrin, das Thema nicht anzusprechen und sich stattdessen auf den Fall zu konzentrieren.

„Dort vorne ist es.“ Sie zeigte auf das Gebäude, das sich gegenüber dem Sommerrainer Bahnhof befand. Auf der rechten Seite lag eine kleine Bushaltestelle, neben einer Wendeplatte. Kern bog links ab und fuhr an der Bäckerei Treffinger vorbei. Er parkte den Wagen in einer kleinen Lücke und schaltete den Motor aus.

„Schon merkwürdig, dass uns schon wieder ein Mordfall hierher führt“, bemerkte Kern brummig und stieg aus.

„Allerdings“, stimmte Kathrin ihm zu. „Dabei wirkt hier alles so friedlich.“ Sie folgten dem Weg, der am Albrecht-Magnus-Gymnasium entlang führte, und kamen zu einem großen, von einem blauen Zaun umgebenen Pausenhof. Kathrin schaute sich um. Im oberen Stockwerk sah sie mehrere Schüler, die ihren Blick nach vorne gerichtet hatten. Eine junge Frau spähte neugierig aus dem Fenster und beobachtete sie. Am oberen Teil des Gebäudes war eine große graue Inschrift, die den Namen des Gymnasiums nannte und eine Skulptur, die vermutlich besagten Albrecht Magnus darstellte. Auf dem Hof war niemand zu sehen. Offensichtlich war gerade Unterrichtszeit.

Sie und Kern gingen durch die große rote Doppeltür und betraten die Aula.

„So, wohin?“ Kern suchte nach einer Hinweistafel.

„Die Dame am Telefon meinte, das Sekretariat und das Büro des Rektors befänden sich im ersten Stock. Wir sollen uns dort melden.“

„Gut, dann nehmen wir die Treppe.“ Sie folgten dieser, die ein wenig versteckt hinter einer Mauer auf der rechten Seite hoch führte. Ein Schüler mit kurzen roten Haaren kam ihnen entgegen und verschwand hinter der Treppe.

„Hätte gar nicht erwartet, dass es hier so ruhig ist“, meinte Kathrin überrascht.

„Ändert sich vermutlich, wenn Pause ist“, antwortete Kern und sah sich um. Der Gang führte oberhalb der Aula einmal um diese herum und bot einen guten Blick. Kathrin entdeckte, dass sich hinter der Aula, etwas oberhalb, ein weiterer, etwas kleinerer Pausenhof, befand. Dahinter erstreckten sich noch mehr Gebäudeteile. Sie und Kern erreichten einen engen Korridor, an dessen Seite massenweise Aushänge befestigt waren. Links waren einige Büros. Kern ging die Beschilderung neben den Türen durch. „Hier, Schulleiter Herr Schweickhardt.“ Kern deutete auf ein Schild. Er klopfte, es geschah allerdings nichts.

„Am besten melden wir uns kurz im Sekretariat“, schlug Kathrin vor und ging weiter den Korridor entlang. Kern folgte ihr zu dem Büro, das ganz am Ende des Gangs lag. Kathrin und Kern klopften und betraten den Raum. Er war größer als erwartet. Ein langer Tresen trennte die Anmeldung vom Rest des Zimmers. Dahinter saß eine etwas molligere Frau mittleren Alters an einem Schreibtisch.

„Guten Tag“, begrüßte sie Kathrin freundlich. „Klein und mein Kollege Herr Kern von der Kripo Stuttgart, wir haben vorhin telefoniert.“

„Ach ja, genau,“ entgegnete die Frau lustlos. „Herr Schweickhardt weiß Bescheid, er müsste jede Sekunde kommen.“ Sie blickte nur ganz kurz auf. „Wenn Sie möchten, können Sie draußen noch einen Moment Platz nehmen.“

„Danke.“ Kathrin verließ das Büro und nahm mit Kern auf einem der Stühle vor dem Sekretariat Platz.

„Was haben Sie dem Rektor gesagt?“, fragte Kern und ließ seinen Blick durch den Flur wandern.

„Nur, dass es um Larissa Kreuzner geht und es sich um eine wichtige Angelegenheit handelt. Nichts Konkretes.“

„Dann wird er vermutlich gleich aus allen Wolken fallen“, meinte Kern ernst.

Nach wenigen Minuten erschien ein älterer Herr mit schwarzer Stoffhose und hellblauem Hemd auf der Treppe. Er kam mit zügigen Schritten auf sie zu und begrüßte sie freundlich. Der Schulleiter hatte nahezu eine Glatze, nur links und rechts noch ein paar graue Haaransätze und eine hohe Stirn. Kathrin und Kern erhoben sich.

„Manfred Schweickhardt“, sagte er lächelnd und gab ihnen die Hand. „Ich bin hier der Rektor.“ Sie erwiderten seine Begrüßung freundlich. „Am besten gehen wir in mein Büro, dort können wir uns ungestört unterhalten.“ Er führte sie wieder durch den kleinen Korridor und in sein Büro. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ Er hielt die Tür auf und deutete auf die beiden freien Stühle.

„Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Kaffee vielleicht, oder ein Wasser?“

„Nein, danke“, winkte Kern ab und nahm neben Kathrin Platz. Kathrin war angenehm überrascht. Der Schulleiter war ihr vom ersten Moment an sympathisch. Er hatte eine beruhigende Ausstrahlung und benahm sich äußerst zuvorkommend. Kathrin hatte immer das Bild eines überheblichen, arroganten Lehrers im Kopf, der sich für etwas Besseres hielt und derlei Besuche als störend empfand. Das mochte wohl mit ihren eigenen Erfahrungen mit dem Schulleiter ihrer alten Schule zusammenhängen.

Herr Schweickhardt schloss die Tür und nahm ihnen gegenüber Platz. „Meine Sekretärin sagte mir nur, es gehe um Frau Kreuzner“, eröffnete Schweickhardt, noch immer sehr freundlich, das Gespräch. „Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.“ Es war mehr eine Frage als eine Feststellung. Kathrin warf Kern einen Blick zu, woraufhin dieser dem Schulleiter die traurige Botschaft beibrachte.

„Ich fürchte leider doch. Larissa Kreuzner wurde vorgestern tot aufgefunden.“ Kern behielt Recht.

Schweickhardt klappte wortwörtlich die Kinnlade herunter. „Großer Himmel. Das ist ja entsetzlich.“ Er wirkte fassungslos. Kathrin und Kern nickten abwartend. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen. „Wissen Sie schon irgendetwas? War es ein Unfall oder was ist passiert?“

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand müssen wir von einem Gewaltverbrechen ausgehen“, antwortete Kern. Für einen Moment wurde es mucksmäuschenstill. Es war nur noch das Ticken der Uhr zu hören. Schweickhardt schüttelte den Kopf.

„Entsetzlich“, wiederholte er leise und blickte an ihnen vorbei. „Damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet.“ Kathrin wartete einen Moment. „Wann haben Sie Frau Kreuzner das letzte Mal gesehen?“

Schweickhardt rieb sich den Kopf und überlegte. „Das müsste irgendwann Mittwoch oder Donnerstag vor einer Woche gewesen sein. Da ist sie mir auf dem Gang entgegen gekommen.“

„Seitdem nicht mehr?“, fragte Kathrin etwas verwundert. „Das ist bereits eine Woche her.“

„Nein, ich glaube nicht.“ Schweickhardt wirkte noch immer nachdenklich, schien sich jetzt aber sicher zu sein. „Ich sehe nicht alle Lehrkräfte regelmäßig. Den meisten begegne ich im Gang, auf dem Weg zum Unterricht oder wenn ich mich im Lehrerzimmer aufhalte. Für gewöhnlich ist Montagmorgen Teamsitzung, da war sie natürlich nicht mehr da.“ Kathrin nickte.

„Wir haben uns noch gewundert“, meinte Schweickhardt. „Normalerweise gibt Frau Kreuzner immer rechtzeitig Bescheid, wenn sie krank ist und nicht unterrichten kann, aber an diesem Montagmorgen wusste keiner etwas. Wir gingen davon aus, sie liegt vielleicht mit Grippe im Bett und meldet sich später.“

„Das passierte aber nicht“, kam von Kern. „Haben Sie nicht versucht, sie zu kontaktieren?“

„Selbstverständlich. Als ich am nächsten Morgen erfuhr, dass Frau Kreuzner wieder nicht zu ihrem Unterricht erschien, bat ich meine Sekretärin, sie anzurufen. Das hat sie dann auch getan, konnte aber niemanden erreichen.“

„Verstehe“, sagte Kathrin. Eigentlich war sie davon ausgegangen, die Schule wurde informiert, aber das wurde wohl versäumt. „Welche Klassen unterrichtete Frau Kreuzner?“

„Moment.“ Herr Schweickhardt stand auf und wandte sich dem großen Lehrplan zu, der den größten Teil der linken Wand einnahm. Auf der einen Seite waren die Namen der Lehrkräfte verzeichnet und auf der anderen die jeweiligen Klassen und der dazugehörige Stundenplan.

„Das waren die 7a und die 12b, die jetzige Abschlussklasse.“ Er vergewisserte sich noch einmal und wandte sich dann wieder den Ermittlern zu. Kathrin holte ihren Block heraus und vermerkte die beiden Klassen.

„Welche Fächer?“

„Deutsch und Englisch“, antwortete Schweickhardt, ohne noch einmal nachsehen zu müssen.

„Herr Schweickhardt, gab es in der Vergangenheit irgendwelche größeren Auseinandersetzungen oder Konflikte zwischen Frau Kreuzner und ihren Kollegen oder Schülern?“, fragte Kern.

Schweickhardt, der offenbar bereits mit der Frage gerechnet hatte, schüttelte den Kopf. „Kann ich Ihnen aus dem Stegreif nicht sagen. Frau Kreuzner und ich hatten nicht so viel miteinander zu tun. Wir hatten zwar unsere wöchentlichen Morgenmeetings, aber da ging es meist um Vertretungen oder Ausflüge, wenn welche anstanden. Konflikte wurden erstaunlich wenige besprochen. Frau Kreuzner hat als Vertrauenslehrerin Probleme sehr diskret behandelt und nur vereinzelte Fälle mit dem Team geteilt.“

Kern und Kathrin horchten auf.

„Frau Kreuzner war hier als Vertrauenslehrerin tätig?“, vergewisserte sich Kathrin.

„Ja“, bestätigte Schweickhardt. „Sie hatte einen guten Draht zu den Schülern und daher den Posten vor einigen Jahren freiwillig übernommen.“

„Wie genau lief das ab?“, erkundigte sich Kern, dessen Interesse nun geweckt war. „Gab es Sprechzeiten, zu denen die Schüler zu ihr kamen, oder einfach mal kurz nach dem Unterricht?“

„Anfangs hatten wir feste Sprechzeiten“, erklärte Schweickhardt sachlich, „es zeigte sich aber, dass zu wenig Bedarf vorhanden war und sich die Schüler deswegen einfach melden konnten, wenn etwas anstand.“

„Und diese vereinzelten Fälle, die Sie vorhin nannten, gab es da in jüngerer Vergangenheit einen?“, hakte Kathrin nach.

Schweickhardt wirkte erneut nachdenklich. „Es gab mal eine körperliche Auseinandersetzung zwischen zwei Schülern. Das ist aber Monate her und wurde eingehend diskutiert und, soweit ich weiß, behoben. Aktuellere Fälle gab es meines Wissens keine. Aber wie gesagt, das war nur, was sie im Team mitteilte, es kann durchaus sein, dass es Probleme gab, von denen mir nichts bekannt war. Sie können aber gerne nach dem Gespräch auch mit den anderen Lehrkräften sprechen, vielleicht weiß da einer mehr.“

„Das werden wir auf jeden Fall tun“, bestätigte Kern. „Wir würden außerdem gerne ihren Arbeitsplatz einsehen, wenn das ginge, und mit dem einen oder anderen Schüler sprechen.“

„Selbstverständlich“, erklärte Schweickhardt beflissen. „Sie hatte ihren Arbeitsplatz mit Fach im Lehrerzimmer. Meine Sekretärin wird das übernehmen, weil ich noch einen Termin habe, und ich lasse in der großen Pause die anderen Lehrkräfte ins Lehrerzimmer beordern, dann können Sie sich dort noch erkundigen.“

„Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen“, antwortete Kern, der ebenfalls von der charismatischen Art des Schulleiters angetan war. „Fällt Ihnen sonst noch irgendetwas ein?“ wollte Kern wissen. „Irgendwelche Veränderungen, die Ihnen aufgefallen sind?“

Schweickhardt überlegte. „Leider nein. Aber dafür kannte ich sie einfach nicht gut genug.“

Kern nickte.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte der Schulleiter freundlich.

„Nein, das wäre dann vorläufig alles.“ Er warf Kathrin einen Blick zu, die ebenfalls verneinte. „Vielen Dank für Ihre Zeit“, sagte Kathrin und lächelte ihn freundlich an. Sie und Kern erhoben sich und Schweickhardt führte sie hinaus.


Ich weiß was du getan hast

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