Читать книгу Ich weiß was du getan hast - Stefan Zeh - Страница 22
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ОглавлениеDamals ... Julius war völlig fertig. Sein Handywecker klingelte. Er nahm sein Smartphone, stellte den Wecker ab und ließ sich völlig erschöpft ins Bett sinken. Er konnte heute nicht in die Schule gehen. Er konnte es einfach nicht. Er hatte kaum geschlafen, die halbe Nacht nur mit Grübeln verbracht. Dachte an die Sache mit seinem Schulranzen, an die Sache mit dem Chemieraum, wie sie ihm vor der halben Schule die Hose ausgezogen hatten. Er ertrug diese ständigen Demütigungen und Erniedrigungen einfach nicht mehr. Egal, was er tat, oder nicht tat, es vergingen keine fünf Minuten, ohne dass ihm irgendwer einen dummen Kommentar an den Kopf warf. Entweder Erwin oder jemand anderes aus der Klasse. Selbst wenn er sich bemühte, unauffällig zu bleiben, nichts zu sagen, niemanden anzusehen, sie schienen nur darauf zu warten, kaum dass er die Schule betrat. Er wusste nicht wieso. Er hatte keinem von ihnen etwas getan. Nicht selten stand er vor dem Spiegel im Bad und fragte sich, ob es irgendetwas an ihm gab, was die anderen abstieß, ärgerte, aufregte. Er sah doch ganz passabel aus. Er machte einen guten Eindruck. Vielleicht ein paar Pickel, aber damit war er wahrlich nicht alleine. Trotzdem, sie mochten ihn nicht. Was machte er falsch? Was hatten die anderen an ihm auszusetzen? In letzter Zeit kam es häufiger vor, dass er Schlafstörungen hatte. Der Gedanke an den nächsten Tag quälte ihn, hielt ihn wach. Er hoffte inständig, morgens aufzuwachen und eine schlimme Krankheit zu haben. Am besten irgendetwas, das ihn für mindestens einen Monat ans Bett fesselte, damit er diese ständigen Schikanen eine Zeit lang nicht mehr ertragen musste. Er weinte häufig. Vor allem nachts. Dann, wenn es keiner sah. Es durfte keiner sehen. Ihm war auch in der Schule oft zum Heulen zu Mute, aber wenn er in Tränen ausbrach, würde alles noch viel schlimmer werden. Sie würden sich nur noch mehr über ihn lustig machen, ihn als Heulsuse verspotten, und diese Blöße wollte er sich auf keinen Fall geben. Julius lag im Bett und starrte auf einen schwarzen Fleck an der Wandtapete. Ein Blick auf sein Smartphone verriet ihm, dass es höchste Zeit war, aufzustehen und sich anzuziehen. Draußen hörte er das Wasser in der Dusche rauschen. Sein Vater war wie üblich schon zugange. Seine Mutter würde in spätestens zehn Minuten aufstehen. Normalerweise zog er sich an, ging frühstücken und dann los. Er hatte keinen langen Anfahrtsweg. Der 54er fuhr morgens direkt von Hofen zum Sommerrain. Nur auf dem Rückweg musste er mit der U-Bahn über Neugereut fahren und dort umsteigen, weil der Bus nur morgens und abends durchfuhr. Aber heute würde das kein Problem sein. Er würde erst gar nicht gehen. Sein Wunsch hatte sich zwar erwartungsgemäß nicht erfüllt - weder eine schwere Grippe, noch sonst irgendetwas - aber allein der Gedanke an den vor ihm liegenden Tag bereitete ihm Bauchschmerzen. Sie hatten in der Vierten Biologie, und der Biolehrer hatte ihnen bereits angekündigt, dass sie nächste Stunde Partnerarbeit machten. Partnerarbeit bedeutete, er allein, der Rest mit jemand anderem. Manchmal hatte er Glück und sie waren eine gerade Anzahl an Schülern, sodass er dann mit der Person zusammen arbeiten konnte, die übrig blieb. Meistens lief es jedoch darauf hinaus, dass er wieder mal niemanden fand. Der Lehrer erkundigte sich, ob jeder einen Partner hatte und alle nickten zustimmend. Alle außer ihm. Dieses Szenario war schon so oft vorgekommen. Und es war ihm so peinlich. Oft wurde er dann einer Zweiergruppe zugeteilt, aber sie ließen ihn deutlich spüren, dass sie keinen Bock auf ihn hatten. Wenn es dann darum ging, eine Präsentation über die Arbeit zu halten, war er natürlich der Dumme, der das machen durfte. Schließlich hatte er – nach Meinung seiner Teamkollegen – bisher am wenigstens beigesteuert. Klar. Sie ließen ihn ja erst gar nicht zu Wort kommen. Und um das Ganze noch zu krönen, beschönigte Erwin die peinliche Situation meistens noch mit dummen Kommentaren. Erst, weil er keinen Partner fand: „Auf das Opfer hat keiner Bock“, und dann, wenn er präsentieren musste und ihm ein Fehler unterlief: „Klar, der kriegt's wieder nicht gebacken“. Die Lehrer unternahmen nichts. Hin und wieder ermahnte ein Lehrer Erwin, aber in der Regel ließen sie es einfach stehen. Er war ja der Idiot, mit dem man es machen konnte. Gott, wie er Erwin, diesen aufgeblähten Mistkerl, hasste. Die einzige Ausnahme bildete Frau Kreuzner. Sie unterrichtete mit unnachgiebiger Strenge. Dumme Kommentare duldete sie nicht. Wer eine blöde Bemerkung in den Raum warf, bekam eine Strafarbeit oder Nachsitzen. Und Erwin war absoluter Rekordhalter. Normalerweise war ihm das egal, jedoch vor Frau Kreuzner hatte selbst er Respekt. Laut seufzend stand Julius auf. Er war kein besonders guter Schauspieler. Er konnte zwar seiner Mutter etwas von Kopfschmerzen vorgaukeln, hatte das allerdings schon dreimal innerhalb des letzten Monats gebracht. Am Ende schleppte sie ihn noch zu einem Neurologen. Und der würde höchstwahrscheinlich gar nichts feststellen. Außerdem reagierten sowohl seine Mutter als auch sein Vater immer sehr skeptisch, wenn er zuhause bleiben wollte. Für sie war Schule ein absolutes Muss. Egal, ob Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, er hatte hinzugehen. Schließlich sollte er was “Gscheits“ werden und dafür brauchte er einen guten Abschluss. Wie es ihm dabei ging, war ihnen gleichgültig. In letzter Zeit gab es nur noch Streit. Wegen der letzten Klassenarbeit, die er versiebte, weil er sich einfach nicht mehr konzentrieren konnte. Aber auch wegen tausend anderer Sachen. Er hatte die Nase voll. Von seiner Mutter. Von seinem Vater. Und vor allem von der Schule. Eigentlich von allem. Am liebsten würde er weglaufen. In den nächsten Flieger steigen und ans Ende der Welt flüchten. Nur weg aus diesem Alptraum hier. Er wusste, er würde es nicht tun. Er hatte es einfach nicht drauf. Er hatte gar nichts drauf. Vermutlich verdiente er es, dass die anderen ihn so behandelten. Nein, er hatte gestern Nacht einen ganz anderen Plan gefasst. Während er sich schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte, war ihm klar geworden, es musste überzeugend aussehen. Er musste überzeugend krank wirken, andernfalls akzeptierten seine Eltern niemals, dass er daheim blieb. Er könnte zwar morgens in den Bus steigen und einfach woanders hinfahren, jedoch musste er dann für die Entschuldigung die Unterschrift seiner Mutter fälschen. Machte er das zu oft, wäre die Folge ein sehr unangenehmer Anruf der Klassenlehrerin. Es brauchte einen plausiblen Grund. Julius stand auf und schlich, an seinem Vater vorbei, in die Küche. Wie erwartet, war noch alles dunkel. Seine Mutter war noch nicht aufgestanden. Im Bad hatte der Duschhahn aufgehört zu laufen. In wenigen Minuten würde sein Vater in die Küche gehen, um den Tisch zu decken. Er musste sich beeilen. Julius griff in den Schrank und holte ein Glas heraus. Danach öffnete er die Gewürzschublade und stellte eine große Packung Salz daneben. Er füllte etwas Leitungswasser in das Glas und nahm einen Löffel zur Hand. Er hatte die Aktion mal in einem Film gesehen. Dort war einer jungen Frau, die zu viel Wodka getrunken hatte, ein Becher Salzwasser eingeflößt worden und als Resultat kotzte sie alles wieder aus. Er wusste, das funktionierte auch ohne Alkoholvergiftung. Er musste nur genug Salz nehmen und er würde den ganzen Morgen über der Toilettenschüssel hängen. Ihm war das über die Maßen zuwider. Aber er hatte keine Wahl. Alles war besser als Schule. Er warf hastig einige Esslöffel Salz in das Wasserglas und vermischte es. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie viel er brauchte, um zu erbrechen. Er warf sicherheitshalber noch ein paar Esslöffel hinterher, um ganz sicher zu gehen, und verstaute die Packung wieder im Schrank. Den Esslöffel steckte er in die Spülmaschine, die Reste, die daneben gingen, wischte er mit der Hand weg. Nicht, dass sie noch etwas bemerkten. Er nahm das gefüllte Glas und ging wieder auf sein Zimmer. Er stellte es auf seinen Schreibtisch und starrte es an. Sollte er das wirklich tun? Das ganze Glas auf Ex herunterkippen? Vielleicht war es doch einfacher, die Salzlösung weg zu schütten und zur Schule gehen. Vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden. Vielleicht konnte er mit Tobias in eine Zweiergruppe. Im Grunde genommen war ihm klar, es war illusorisch. Tobias machte fast immer Gruppenarbeit mit seinem Nebensitzer. Tobias war bei Erwin und seiner Clique zwar mindestens genauso unbeliebt wie Julius, aber Julius war eindeutig ihr Lieblingsopfer. Er stöhnte erneut. Draußen hörte er seine Mutter ins Bad gehen, während sein Vater mit dem Geschirr herum polterte. Es war gleich soweit. Seine Mutter war meistens nicht sehr lange im Bad und sobald sie heraus kam, war es Zeit für seinen Auftritt. Er hasste sich selbst dafür. Für diese ganze Aktion, die er hier veranstaltete. Allein der Gedanke, wieder unter Scham seinem Lehrer mitzuteilen, dass er niemanden fand, der mit ihm zusammen arbeiten wollte, und überhaupt, dass es niemanden gab, der ihn wollte, der ihn mochte, versetzte ihm einen so heftigen Stich, dass er das Glas zur Hand nahm. Sein Herz pochte wie verrückt. Er hatte keine Wahl. Einfach Augen zu und durch. Er setzte das Glas an und kippte die widerlich schmeckende Salzlösung in einem Zug hinunter. Ihm drehte sich der Magen um. Sein Bauch rumorte. Er knallte das Glas auf den Schreibtisch und rannte aufs Klo. Er wusste, heute würde er nicht in die Schule müssen.