Читать книгу Ich weiß was du getan hast - Stefan Zeh - Страница 21
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ОглавлениеJenny verließ die Wohnung und machte sich auf den Weg zum Zahnradbahnhof. Die Wohnung, die sie sich mit ihrem Mitbewohner teilte, befand sich in der Karl-Pfaff-Straße. Es war eine angenehme Lage, nicht direkt an der Hauptstraße und trotzdem nur eine Gehminute von der Haltestelle entfernt. Gegenüber war einer Wohnanlage für Senioren, direkt daneben ein Friedhof, was Jenny etwas grotesk fand. Hinter dem Haus eine Kita mit Spielplatz, von daher eine kunterbunte Mischung, was die Nachbarschaft betraf.
Sie durchquerte den schmaler werdenden Durchgang der Wohnanlage und ging zur Haltestelle. Sie war mit einer Freundin in der Innenstadt verabredet und der schnellste Weg war mit der Zacke. Die alte Zahnradbahn war seit 1884 in Betrieb und verband den Marienplatz mit Degerloch und den oberen Fildern. Bei schönem Wetter war sie mit Ausflüglern und Fahrradfahrern überfüllt, die mit ihr den Hang hochfuhren und sich so den beschwerlichen Aufstieg sparten. Die Zacke hatte dafür extra einen Vorstellwagen für Fahrräder vor beziehungsweise hinter dem Passagierwagon. Es gab nur ein Gleis, auf dem sie in beide Richtungen fuhr. Nur an der Haltestelle Wielandshöhe war es zweigleisig, damit die beiden Zahnradbahnen aneinander vorbeifahren konnten. Jenny sah auf ihr iPhone. Die Zahnradbahn musste jeden Moment kommen. Sie hatte ihre Freundin Claudia während dem Abi oft gesehen, von daher war es schon ungewohnt, sie die letzten paar Tage nicht getroffen zu haben.
Die Zacke kam um die Ecke getuckert und Jenny stieg ein. Sie mochte die Fahrt. Die Zahnradbahn folgte der Alten Weinsteige und passierte die Wielandshöhe. Dahinter bot sich ein toller, wenn auch kurzer Ausblick auf den Stuttgarter Kessel. Jenny sah das Heusteigviertel mit der Markuskirche, den Hauptbahnhof sowie das Neue und Alte Schloss. Weiter hinten erkannte sie das Europaviertel, aus dem der LBBW City-Tower und die erst 2017 fertig gestellte Cloud No. 7 herausragten. Das Milaneo war mehr zu erahnen als zu sehen. Im Hintergrund war das Kraftwerk Münster mit seiner türkisenen Farbe auszumachen. Auf der gegenüberliegenden Seite lag die Neue Weinsteige und dahinter ragte der Fernsehturm über den Hügel empor. Sie betrachtete die Villen, die sich am Hang der Weinsteige erstreckten. Wie viel Geld musste man wohl haben, um sich eine solche Villa mit Weitblickpanorama leisten zu können? Vermutlich mehr, als sie jemals haben würde, dachte sie seufzend. In diesem Moment verschwand der beeindruckende Ausblick hinter Häusern und Bäumen, und die Zahnradbahn hielt an der letzten Station vor dem Marienplatz.
Jenny war gespannt, was Claudia ihr erzählen wollte. Sie hatte ihr per Whatsapp nur geschrieben, dass sie etwas Unglaubliches erfahren hatte, war aber nicht konkreter geworden. Jenny verließ die Zacke und überquerte den Marienplatz in Richtung Unterführung zur U1.
Kurze Zeit später erreichte sie die Buchhandlung Wittwer, vor der sie sich mit Claudia des Öfteren verabredete. Sie erkannte Claudia schon von weitem. Mit ihrem dunklen Teint und der aufreizenden Kleidung war sie kaum zu übersehen. Als Claudia sie bemerkte, stürmte sie auf Jenny zu.
„Hi du, na?“ Sie umarmten sich überschwänglich und Jenny erwiderte ihre Begrüßung. „Komm, lass uns ins Starbucks gehen, ich muss dir unbedingt was erzählen!“ Claudia wirkte aufgeregt. Es musste wirklich etwas Wichtiges sein. So hatte sie Claudia nur selten erlebt. Claudia schleifte Jenny in den Starbucks um die Ecke vom Wittwer in der Königsbaupassage.
„Hab gesehen, oben sind noch zwei Plätze frei. Geh schon mal hoch, ich bestelle uns einen Kaffee.“
„Für mich bitte Tee. Roten“, warf ihr Jenny lächelnd zu und ging nach oben. Sie war kein Kaffeefan. Der Starbucks war, wie üblich, recht voll und die begehrten Sofaplätze knapp. Aber wie von Claudia angekündigt, fanden sich noch zwei freie Plätze auf der bequemen braunen Couch ganz hinten im Eck. Jenny ließ ihre Handtasche auf das Sofa fallen und setzte sich auf die gegenüberliegende Seite ans Fenster. Ein paar Minuten später kam Claudia mit zwei Pappbechern um die Ecke.
„Hier.“
„Danke.“ Jenny nahm den Becher entgegen. Claudia schob Jennys Handtasche beiseite und nahm ebenfalls Platz.
„Also, hör zu“, startete Claudia das Gespräch. „Ich war gestern in der Schule, um mein Zeugnis abzuholen. Ich hab dann die Sekretärin, keine Ahnung wie sie heißt, gefragt, ob Frau Kreuzner da ist, weil ich ihr noch das eine Buch zurückgeben wollte, das sie mir vor der Abiprüfung gegeben hat.“
„Ok?“, fragte Jenny gespannt auf das, was jetzt kommen würde.
„Ey.“ Claudia schüttelte den Kopf. „Du hättest ihren Gesichtsausdruck sehen sollen, als ich den Namen Kreuzner erwähnt habe. Sie war irgendwie ganz komisch, dann meinte sie erst, Frau Kreuzner sei nicht mehr da.“
„Wie, nicht mehr da?“, warf Jenny überrascht ein.
„Genau das hab ich gefragt, und dann druckste die Sekretärin weiter rum und sagte irgendwann, Frau Kreuzner sei Anfang der Woche tot aufgefunden worden.“
„Waaaaas?“, stieß Jenny hervor. „Das war ein Scherz, oder?“
„Dachte ich zuerst auch“, erklärte Claudia. „Aber du hättest ihren Gesichtsausdruck sehen sollen. Frau Kreuzner ist tot!“
„Oh mein Gott.“ Jenny war geschockt. „Wie kann das sein? Vor einem Monat war doch noch alles bestens. Was ist passiert?“
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Claudia kopfschüttelnd, die diese Nachricht ebenso unvermittelt getroffen hatte, wie Jenny jetzt. „Ich war auch erst mal sprachlos. Die Polizei hat noch keine Infos herausgegeben, weil die Ermittlungen noch laufen. Aber die Sekretärin ist sich sicher, dass Frau Kreuzner ermordet worden ist.“
Jenny war fassungslos. Sie schloss die Wohnungstür auf und ließ die Schlüssel auf den Tisch fallen.
Sven war noch nicht daheim. Sie warf ihre Jacke über den Stuhl und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Als Claudia ihr schrieb, sie habe etwas Unglaubliches erfahren, hatte sie mit Vielem gerechnet, aber nicht damit. Frau Kreuzner, ihre ehemalige Klassenlehrerin, wurde ermordet. Aber warum? Claudia wusste in den folgenden zwei Stunden, in denen sie über nichts anderes sprachen, keine wirkliche Antwort darauf. Die Sekretärin hatte vom Rektor nur erfahren, dass es ein Mord war, aber keine näheren Auskünfte erhalten. Jenny stellte das Glas wieder auf den Tisch und rieb sich die Stirn. Knapp ein Jahr war es her. Ein Jahr seit der Tragödie. Und ein Jahr, in dem kaum ein Tag verging, an dem sie nicht daran dachte. Und nun war Frau Kreuzner tot. Ganz plötzlich. Ein reiner Zufall? Oder hingen die beiden Ereignisse womöglich zusammen? Sie hielt es kaum für möglich. Aber innerhalb kürzester Zeit waren zwei furchtbare Dinge passiert und dann wurde die Klassenlehrerin ermordet. Das konnte kein Zufall sein! Wenn es wirklich mit den Ereignissen von damals zusammen hing, dann musste Frau Kreuzner mehr gewusst haben, als es den Anschein hatte. Wusste sie etwas, das ihr zum Verhängnis wurde? Jenny war klar, die Frage würde sie nicht mehr loslassen.