Читать книгу Sprache als psychotherapeutische Intervention - Steven C. Hayes - Страница 37
2.3.2 Verschiedene Arten von regelgeleitetem Verhalten können zu Inflexibilität führen
ОглавлениеBisher lag das Hauptaugenmerk auf Prozessen, die bedeutsam bei der Entwicklung von Regeln sind. Genauso wichtig sind jedoch die Prozesse, die zum Einhalten von Regeln führen. Wir werden uns in diesem Teil zunächst mit zwei dieser Prozesse befassen.
Betrachten Sie folgendes Beispiel: Eine Mutter sagt zu ihrem Kind: »Zieh deinen Mantel an – es ist kalt draußen.« Das Kind zieht den Mantel aber nur an, um Ärger mit der Mutter aus dem Weg zu gehen. In diesem Fall wird die Übereinstimmung zwischen dem in der Regel beschriebenen und dem tatsächlichen Verhalten von anderen beobachtet und belohnt. Dies nennt man Pliance (es handelt sich hier um einen Terminus technicus, der in ACT bewusst gewählt wurde, und an den Begriff »Compliance« (Regelkonformität) angelehnt ist). Pliance ist der Ausgangspunkt für regelgeleitetes Verhalten. Sie ist entscheidend für die moralische und soziale Entwicklung von Kindern. Beim Entdecken einer neuen und gefährlichen Welt ist die Übernahme von Erfahrungen der Eltern ein enormer Vorteil. Das Überleben hängt vom Funktionieren des regelgeleiteten Verhaltens ohne viel Ausprobieren und Erklären ab. Beispielsweise haben Eltern meist nicht genug Zeit ihren Kindern zu erklären, warum sie sich von zerbrochenem Glas fernhalten, nicht auf die Straße laufen oder vorsichtig gehen sollten, wenn der Fußboden feucht ist.
Ein großer Teil des regelgeleiteten Verhaltens, das zwischenmenschliche Interaktionen steuert, war wahrscheinlich ursprünglich Pliance. Kinder, die lernen »bitte« oder »danke« zu sagen, haben vermutlich keine Ahnung, warum sie das tun sollen. Der einzige Grund ist, dass die Eltern darauf bestehen. Möglicherweise halten die Eltern Dinge zurück, bis Kinder die »Zauberworte« benutzen. Später stellen Menschen fest, dass dieses Verhalten weitere Vorteile mit sich bringt, beispielweise soziale Beziehungen fördert. Ursprünglich gründet das Verhalten darauf, dass auf regelgeleitetes Verhalten positive soziale Konsequenzen folgen. Menschen lernen ganz einfach Regeln einzuhalten. Das systematische Nichtbefolgen einer Regel entspricht ebenfalls einer Form der Pliance, nämlich »Counterpliance«. Sie wird ebenfalls durch soziale Konsequenzen auf die Regelbefolgung bestimmt. Dabei ist die Beziehung zwischen Handlung – Regel umgekehrt (z. B. »Ich werde diese Regel nicht befolgen, weil Menschen in meiner Kultur nicht gerne Regeln einhalten.«). Anders ausgedrückt brauchen sowohl Regelkonformität als auch Rebellion eine Dominanz von sozialen Verstärkern für regelgeleitetes Verhalten.
Menschen halten aber auch Regeln ein, weil sie mit den Konsequenzen des in der Regel spezifizierten Verhaltens in Kontakt kommen. Ein Beispiel ist ein Junge, dem seine Mutter sagt: »Zieh deinen Mantel an – es ist kalt draußen«. Er macht anschließend die Erfahrung, dass dieses Verhalten tatsächlich vor unangenehmen Temperaturen schützt. Die Befolgung einer Regel aufgrund der Erfahrung von Verstärkung im Kontakt mit Konsequenzen, die durch eine Regel bestimmt wurden, nennt man Tracking7 . Es handelt sich ebenfalls um einen ACT Terminus technicus. Es handelt sich um einen metaphorischen Ausdruck, der beschreibt, dass man mit einer Regel einem symbolischen Pfad (Track) folgt, ähnlich wie man es mithilfe einer Landkarte tut. Die Konsequenzen sind beim Tracking auch vorhanden, wenn sie nicht in einer Regel gefasst waren. Das Tragen eines Mantels, wenn es kalt ist, verhindert das Frieren, egal ob dieser Hinweis gegeben wurde oder die Mutter weiß, dass er befolgt wurde. Bei Pliance ist das anders – hier gibt es die Belohnung nur, »wenn man tut, was gesagt wurde«. Hierzu ist erforderlich, dass jemand weiß, was gesagt wurde, und wie man sich verhalten hat. Beachten Sie, dass der Unterschied zwischen Tracking und Pliance nicht einfach auf der sozialen Verstärkung beruht. Wenn eine Therapeutin ihrer Patientin erklärt, wie sie sich erfolgreich mit einem Mann oder einer Frau verabredet, und die Regeln sind hilfreich, dann folgt sie diesen Regeln und macht günstige zwischenmenschliche Erfahrungen. Die Menschen, mit denen sie sich getroffen hat, werden sich aber nicht deshalb wieder mit ihr verabreden wollen, weil sie die Regeln eingehalten hat, sondern weil sie sich zwischenmenschlich geschickt verhalten hat. Dabei ist es egal, wie dies zustande kam. Tracking kann also einen interpersonellen Aspekt haben. Im Gegensatz dazu braucht Pliance immer zwischenmenschlichen Kontakt. Hier erfolgt die Verstärkung auf der Grundlage der Verbindung zwischen Regel und Verhalten. Nur Menschen können diesen Zusammenhang erkennen.
Pliance und Tracking haben Vor- und Nachteile. Beide helfen, schnell zu lernen, ohne zuerst die Konsequenzen des Verhaltens tatsächlich erfahren zu müssen. Wenn allerdings soziale Konsequenzen zu Regelbefolgung per se hinzugefügt werden, wie es bei Pliance der Fall ist, führt dies zu verminderter Sensitivität gegenüber natürlichen Konsequenzen. Ein Junge kann beispielsweise seinen Mantel gehorsam anziehen, obwohl es zu warm ist, weil die Mutter ihn mit den Worten: »Guter Junge!« lobt. Der Versuch, gut dazustehen, sich anzupassen oder recht zu haben, hebelt dann den ursprünglichen Sinn von Regeln – nämlich effektiver zu sein – aus. Ein derartiges Handeln nach sozialer Erwünschtheit kann zu den klassischen psychologischen Problemen führen, die auf »sollte«, oder »muss« Regeln basieren. Dies wurde bereits von den Pionieren der Kognitiven Verhaltenstherapie (CBT), wie Albert Ellis, sehr deutlich dargestellt.
Regeln können zunächst im Rahmen von Tracking befolgt werden, dann aber in Pliance übergehen. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich entschieden, einige Restaurants auf eigene Faust auszuprobieren, anstatt zuerst Kritiken zu lesen. Das dauert eine Weile, aber irgendwann haben Sie mit dieser Methode die besten Lokale entdeckt. Dann sagen Sie sich etwas wie: »Hier gefällt es mir, ich muss unbedingt nochmal herkommen!«. Sie geben diese Regel mit Stolz über Ihre eigene Urteilsfähigkeit möglicherweise an andere weiter. Ursprünglich wird die Regel durch das Essen von guten und günstigen Speisen aufrechterhalten (Tracking). Das Befolgen der Regel wird aber irgendwann nicht mehr durch qualitativ gutes Essen aufrechterhalten, sondern durch das Rechthaben desjenigen, der die Regel erstellt hat, und das sind… Sie! Wenn das geschieht, kann sich die Qualität des Essens verschlechtern und Sie werden trotzdem fortfahren, Ihrer Regel zu folgen und sie an andere weiterzugeben. Dieser sinnwidrige Effekt verstärkt sich wahrscheinlich noch weiter, wenn Sie Ihre Ansichten mit anderen teilen. Denn obwohl Sie selbst diese Regeln aufgestellt haben, können Beobachter die Übereinstimmung zwischen Regeln und Verhalten überprüfen und bestätigen. Rechthaben kann in der Tat dazu führen, dass man Restaurants aufsucht, weil man sie irgendwann als gut bezeichnet hat, nicht, weil sie es noch sind. Nach jedem Essen denkt man, unabhängig von tatsächlicher Qualität und Preis: »Dies ist wirklich das beste Lokal in der Stadt, ich hatte Recht damit, dass ich wieder hergekommen bin!«. Dann ist Tracking zu Pliance geworden.
Dies kann sehr leicht im Rahmen einer Therapie geschehen. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Patient leidet an einer Depression und beginnt, folgende Regel zu tracken: »Wenn ich mir sinnvolle Aktivitäten vornehme und sie auch dann durchführe, wenn ich eigentlich gar keine Lust habe, wird mein Leben zufriedenstellender werden.« Der Therapeut unterstützt diesen Ansatz auf eine ungeschickte Weise oder zu einem unpassenden Zeitpunkt. Dies ermuntert den Patienten dazu, der Regel zu folgen, um dem Therapeuten zu gefallen. Seine Lebenszufriedenheit bleibt aber unverändert. So kommt es zu einer Verzögerung der Entwicklung einer gesunden Eigenverantwortung. Später in diesem Buch zeigen wir, wie Therapeutinnen soziale Unterstützung ohne dieses Risiko geben können.
Pliance kann aber auch zu Tracking werden. Stellen Sie sich folgendes Beispiel vor: Sie kommen das erste Mal in eine Stadt. Sie besuchen eine Freundin, die bereits eigene Erfahrungen mit den dortigen Restaurants hat. Bei Ihrer Ankunft schlägt sie vor: »Lass uns in dieses Restaurant gehen. Ich glaube, es wird dir gefallen!« Sie denken, es ist höflich, dem Vorschlag einer aufmerksamen Gastgeberin zu folgen, und gehen mit. In diesem Fall ist das Befolgen der Regel der Freundin Pliance, nicht Tracking. Stellen Sie sich weiter vor: Sie genießen das Essen und denken »Mir gefällt dieses Restaurant wirklich. Sie weiß tatsächlich genau, was ich mag«. Bei Ihrem nächsten Besuch in der Stadt werden Sie dem Vorschlag Ihrer Freundin folgen, weil Sie gutes Essen mögen, und nicht nur, weil es sich so gehört.
Die Veränderung vom Sich-Anpassen, Einen-guten-Eindruck-machen, Recht-haben-wollen hin zu Tun-was-funktioniert ist bedeutsam. Die Verlagerung von Pliance zu Tracking ist der Schlüssel dafür, die durch regelgeleitetes Verhalten ausgelöste fehlende Sensitivität gegenüber der Umwelt zu verringern. Bei Pliance ist ein Mangel an Sensitivität gegenüber der Umwelt wahrscheinlicher. Es geht hier um soziale Unterstützung für Regelkonformität – unabhängig von den natürlichen Konsequenzen eines Verhaltens.
Stellen Sie sich folgendes Beispiel vor: Ein Patient denkt: »Ich muss verbergen, dass ich angespannt bin, damit man mir mit Respekt begegnet.« Bei einem öffentlichen Vortrag wird ihm eine Frage gestellt. Er reagiert mit Rechtfertigungen oder sogar aggressiv, um dadurch seine Anspannung zu überspielen. Diese Strategie bringt ihm vermutlich nicht viel Respekt vom Publikum ein. Nehmen wir an: Das Verhalten beruht auf Pliance. Der Patient hat die soziale Regel erlernt, belastende Gefühle nicht nach außen zu tragen. Unter diesen Umständen wird das Verhalten nicht sensitiv auf den Zusammenhang zwischen erwarteter und tatsächlicher Konsequenz sein. Die Person wird nicht überprüfen, ob das Verhalten wirklich funktioniert.
Mangelnde Sensitivität, die auf Pliance basiert, kommt viel häufiger vor, wenn die Regel keine Konsequenz benennt. Tracking hingegen basiert auf spezifischen Konsequenzen, nicht nur auf der Befolgung von Regeln. Hierzu gibt es aber Ausnahmen. Tracking beinhaltet manchmal implizite Konsequenzen. Hierzu folgendes Beispiel: Ein Kellner sieht Sie etwas verloren in der Nähe der Küchentür umherirren und sagt: »Am Ende des Ganges links«. Das bedeutet dann, dass Sie die Toilette dort finden. Im Allgemeinen fördert ein Mangel an definierten Konsequenzen jedoch Pliance. Hierzu folgendes Beispiel: Eine Mutter sagt zu ihrem weinenden Kind, »Beruhig dich doch!«. Sie legt dabei nicht fest, was das Sich-Beruhigen für das Kind in der Konsequenz bedeutet. Dann ist ausschließlich die Bitte der Mutter der Schlüssel für die Entscheidung des Kindes, wie es sich weiter verhalten soll. Möglicherweise versucht das Kind dann, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, oder um Kritik zu vermeiden. Das geschieht auch dann, wenn das Weinen selbst keine problematischen Konsequenzen mit sich bringt.8
Tracking kann ebenfalls mangelnde Sensitivität gegenüber der Umwelt erzeugen, aber das geschieht auf eine andere Art und Weise. So kann eine Regel kurzfristig zutreffend sein, aber nicht langfristig gelten. Dies geschieht beispielsweise, wenn ein Patient eine angsterregende Situation meidet, um sich dadurch besser zu fühlen. »Sich-Besser-Fühlen« tritt oft auch dann ein, wenn die Vermeidung das Problem letztendlich größer macht. Kurzfristige Konsequenzen haben einen größeren Einfluss als langfristige Konsequenzen. Deshalb reicht dieser kleine Erfolg aus, um die Regel zu bestätigen und die Vermeidungsstrategie aufrechtzuerhalten.
Es gibt noch einen weiteren Mechanismus. Tracking kann zu mangelnder Sensitivität gegenüber der Umwelt führen, wenn es zu spezifischen Konsequenzen führt, die Konsequenzen aber mit einer geringeren Häufigkeit eintreten als bei anderen Strategien. Betrachten Sie folgendes Beispiel: Jemand geht davon aus, dass es der beste Weg zu einer intimen Beziehung ist, schnell sehr persönliche und auch schwierige Informationen offenzulegen. Im Durchschnitt ist das eine ungünstige Strategie. Einige Menschen jedoch reagieren darauf, indem sie aufmerksamer und fürsorglicher sind. Das führt dann dazu, dass die Person die Regel weiter anwendet.