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Äußere deine Wünsche

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Catherine hatte zwei Töchter, die vierzehnjährige Ella und die sechzehnjährige Shay. „Ich verstehe mich prima mit meinen Mädchen – wir stehen uns sehr nah. Aber um ehrlich zu sein, ist Shay ein bisschen schlampig. Sie lässt ihr Handtuch auf dem Badezimmerboden liegen, in ihrem Zimmer liegen die Sachen herum und sie wäscht nie ihr Geschirr ab, wenn man es ihr nicht sagt. Dieses Verhalten geht mir wirklich auf die Nerven. Wir haben schon darüber geredet, aber sie räumt nur auf, wenn ich meckere.“

Catherine fuhr fort: „Gestern habe ich Shay sehr freundlich gebeten, ihr Zimmer aufzuräumen, bevor Gäste zum Abendessen eintrafen. Sie hat mich kaum angesehen, als ich sie fragte, und dann verdrehte sie die Augen und sagte, ‚Mama – die gehen doch noch nicht mal in mein Zimmer! Mach dich locker! Du bist immer so verkrampft, wenn Leute zu Besuch kommen.‘ Da bin ich explodiert – ich mache so viel für sie! Warum konnte sie nicht einmal diese Kleinigkeit für mich erledigen?“

Ich hörte Catherine eine Weile zu, dann fragte ich sie: „Wie haben Ihre Eltern reagiert, wenn Sie einen Wunsch oder ein Bedürfnis geäußert haben? Haben sie zugehört und Ihre Bitten ernst genommen oder haben sie Sie ignoriert?“

Darauf hatte sie sofort eine Antwort. Mit einem Hauch von Sarkasmus sagte sie: „Wenn ich ein Bedürfnis hatte? Ich hatte kein Recht auf irgendwelche Bedürfnisse. So etwas gab es in unserer Familie nicht. Wenn ich mir die Mühe machte, meiner Mutter oder meinem Vater mitzuteilen, dass ich dieses oder jenes, was sie von mir verlangten, nicht tun wollte, sahen sie mich an, als sei ich verrückt geworden, und sagten mir, wie selbstsüchtig ich doch sei. Ich habe schon früh gelernt, nicht um das, was ich wollte, zu bitten, und bin in meinen wichtigen Beziehungen, einschließlich meiner Ehe, immer schön auf dem Beifahrersitz sitzen geblieben.“

Ich bot Catherine eine weitere Analogie an: „Sie kennen doch Autoscooter, wie man sie in Freizeitparks findet, oder? Mir ist aufgefallen, dass es Kinder gibt, die in ihr kleines Auto steigen und dann erstarren. Sie haben noch nie hinterm Steuer eines Autos gesessen und verstehen nicht, dass man auf das Fahrpedal treten muss, um es in Bewegung zu setzen, darum bleiben sie einfach mitten auf der Fahrfläche stehen und werden von all den anderen wilden Fahrern gerammt.

Dann gibt es Kinder am anderen Extrem. Das sind die, die das Pedal die ganze Zeit durchtreten und nicht mehr loslassen. Egal, in welche Richtung sie ihr Lenkrad drehen, sie krachen immer binnen weniger Sekunden in irgendetwas hinein. In beiden Fällen wissen unsere jungen Fahrer nicht, wie man das Fahrpedal angemessen bedient. Entweder bewegen sie sich gar nicht vom Fleck oder sie fahren rücksichtslos mit Vollgas über die Fläche.“

Ich erklärte ihr, dass es vielen Menschen schwerfällt, zu sagen, was sie wollen oder brauchen. „Manche von uns bleiben passiv und schweigen; wir bitten nie um etwas und fühlen uns ungesehen, unwichtig und sind wütend.“

„Das trifft genau auf mich zu“, sagte sie. „Das ist die Geschichte meines Lebens, angefangen bei meiner Kindheit, während meiner Ehe und dann bei der Scheidung. Ich habe früh gelernt, dass es die Menschen in meiner Umgebung nur verärgert, wenn ich sage, was ich will.“

„Andere dagegen verlangen mit Nachdruck, was sie wollen“, erwiderte ich. „Sie trampeln einfach über alle anderen hinweg, fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen, egal wie sehr sie andere damit vor den Kopf stoßen.“

„Also“, sagte ich, „sind Sie bereit, die Situation mit Ihrer Tochter einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten? Können Sie sie vielleicht als Lehrerin mit einem ganz besonderen Auftrag sehen? Sind Sie bereit zu lernen, wie Sie um die Dinge, die Sie wollen, bitten müssen, damit bereits in der Bitte ein Bewusstsein dafür zum Ausdruck kommt, dass Ihre Wünsche ebenso gerechtfertigt sind wie die aller anderen auch?“

Catherine war still. Jeglicher Sarkasmus war aus ihrer Stimme gewichen, als sie leise sagte: „Wow. Ja. Es wird Zeit, dass ich lerne, um das, was ich brauche, zu bitten.“

Daraufhin sagte ich: „Indem Sie sich anschauen, weshalb das Verhalten Ihrer Tochter Sie so tief aufwühlt, haben Sie die Gelegenheit, etwas, das vor langer Zeit geschehen ist, zu heilen und zu einer gesünderen und ganzheitlicheren Version Ihrer selbst heranzuwachsen.“

Catherine war dabei. Bei unserer gemeinsamen Arbeit ging es nun nicht mehr darum, die Schlampigkeit ihrer Tochter zu kurieren, sondern darum, jene Traurigkeit zu heilen, die sie als kleines Mädchen empfunden hatte, dessen Wünsche und Bedürfnisse als unwichtig deklariert worden waren – Gefühle also, die sie bereits vor langer Zeit begraben hatte. Ich half ihr dabei, zu verstehen, dass die Heftigkeit, mit der sie um Shays Kooperation kämpfte, daher rührte, dass sie eine unerlöste Sehnsucht danach, dass auch ihre Wünsche und Bedürfnisse zählten, auf ihre Tochter projiziert hatte.

Ich erklärte ihr, dass es nicht Aufgabe unserer Kinder ist, uns zu heilen. Tatsächlich beharren sie umso stärker auf ihrem Standpunkt, je mehr wir sie mit unserer Bedürftigkeit und Verzweiflung konfrontieren. Sie verstehen intuitiv, dass es nicht in ihrer Verantwortung liegt, sich so zu verhalten, dass unsere Wunden aus früheren Beziehungen heilen können. So kann das schlechte Betragen unserer Kinder am Ende ein Geschenk für uns werden, denn wenn wir bereit sind, den Blick nach innen zu richten, anstatt unsere Verletzungen auf sie zu projizieren, können wir an unseren unerledigten Angelegenheiten arbeiten.

Unsere Kinder verstehen intuitiv, dass es nicht in ihrer Verantwortung liegt, sich so zu verhalten, dass unsere Wunden aus früheren Beziehungen heilen können. So kann das schlechte Betragen unserer Kinder am Ende ein Geschenk für uns werden, denn wenn wir bereit sind, den Blick nach innen zu richten, anstatt unsere Verletzungen auf sie zu projizieren, können wir an unseren unerledigten Angelegenheiten arbeiten.

Ich riet Catherine, in Situationen, in denen sie mit dem Widerstand ihrer Tochter konfrontiert wurde, einfach mit den Gefühlen, die in ihr aufstiegen, gegenwärtig zu bleiben. „Üben Sie sich darin, sich Ihrer Gefühle ohne Bewertung bewusst zu werden, geben Sie ihnen Raum, damit sie gesehen und gehört werden. Seien Sie traurig oder wütend. Seien Sie verwirrt oder besorgt. Und dann seien Sie vielleicht wieder traurig. Lassen Sie die Gefühle zu, ohne sie zu zensieren oder zu kontrollieren.

Benennen Sie, wo in Ihrem Körper Sie dieses Gefühl empfinden. Fühlt es sich schwer an? Scharf? Flatterig? Lassen Sie zu, was Sie empfinden, erlauben Sie dem Gefühl, einfach da zu sein, ohne es größer oder kleiner zu machen. Benennen Sie Ihre Gefühle mit liebevoller Güte. ‚Ich spüre Traurigkeit in meiner Brust. Sie ist schwer und flach und dunkel. Und jetzt ist da Wut. Ganz scharf und hart. In meinem ganzen Körper!‘

Vermeiden Sie den Versuch Ihrer rationalen linken Gehirnhälfte, Ihr Unbehagen wegzuerklären. Widerstehen Sie dem Drang, es mit Ihrer Tochter oder der aktuellen Situation in Verbindung zu bringen. Nehmen Sie einfach wahr, was Sie gerade erleben. Haben Sie Geduld. Die Gefühle gehen vorbei. Sie werden sich besser fühlen. Es gibt keinen Weg darum herum, Sie müssen mitten hindurchgehen. Es ist ein Prozess des Trauerns um die Stimme, die Sie nicht hatten, um die Empathie, die Ihnen nicht entgegengebracht wurde, und über den Schmerz, nicht gesehen worden zu sein.“

Das war – und ist immer noch – ein sehr tiefgreifender Prozess. Es ist weder einfach noch geht es schnell. Alte Wunden brauchen Raum zum Atmen, damit sie heilen können. Wenn Sie sich diesem Prozess anvertrauen, möchte ich Ihnen ans Herz legen, freundlich und geduldig mit sich zu sein, auch wenn Sie gerade versuchen, einen neuen Umgang mit Ihrem Kind zu finden, wenn es einen alten Schmerz aktiviert. Mit Achtsamkeit können Sie beginnen, diese Dynamik und auch sich selbst zu heilen.

Sobald Catherine damit begonnen hatte, um jene Anteile zu trauern, die sich nie getraut hatten, ihre Wünsche zum Ausdruck zu bringen, war sie bereit, neue Wege zu ergründen, wie sie ihre Mädchen um etwas bitten konnte. Ich erzählte ihr davon, was ich Diane Sawyer einmal hatte sagen hören, als man sie nach dem Geheimnis ihrer langen Ehe fragte. Sie antwortete: „Ich habe früh gelernt, dass Kritik eigentlich nur eine ziemlich schäbige Art ist, einen Wunsch zu äußern. Also … äußern Sie einfach Ihren Wunsch!“

Kindererziehung im Jetzt

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