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Eine echte Verbindung aufbauen

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Henry war elf Jahre alt, als Bradley und Melissa ihn zu mir brachten. Er schlenderte in mein Büro, während er auf seiner tragbaren Spielekonsole spielte (es ist schon ein paar Jahre her), und machte seine wenig entgegenkommende Haltung überdeutlich. Als seine Eltern vorsichtig anfragten, ob er das Gerät nicht beiseitelegen und mich begrüßen wolle, funkelte er sie nur an und spielte weiter. Als ich mich mit ihnen allein unterhielt, gaben sie zu, dass sie keine Ahnung hatten, wie sie mit seinen heftigen Ausbrüchen umgehen sollten. Henrys Vater war schon etwas älter und fand, ein Junge müsse hart sein, also hatte Henry schon sehr früh gelernt, empfindsamere Gefühle zu unterdrücken, und seine Fähigkeit, Emotionen wie Angst, Traurigkeit oder Verletzung zu empfinden, eingebüßt. Sein Spektrum war auf Frust und Wut begrenzt. Henry war ein kräftiger Junge und neigte zu Gewalttätigkeit, wenn man ihn provozierte. Seine Eltern hatten Angst vor ihm.

Als ich mich mit Henry allein traf, erlebte ich ihn als sanftmütiges, aber kaum geerdetes Kind. Überhaupt nicht daran gewöhnt, in echtem Kontakt mit einem Erwachsenen zu sein, der nichts von ihm wollte, schien er über sich selbst zu schweben. Kontakt zu Erwachsenen sah für ihn vornehmlich so aus, dass man versuchte ihn zu irgendetwas zu zwingen, das er nicht wollte.

Ich fing damit an, dass ich mich dafür interessierte, wer Henry eigentlich war. Während wir uns unterhielten, öffnete er sich ganz zögerlich und erzählte mir, dass er wahnsinnig gern malte und davon träumte, irgendwann Videospiele zu designen. Als mir auffiel, dass seine Aufmerksamkeit immer noch zwischen mir und seinem Spielgerät aufgeteilt war, bat ich ihn – sehr freundlich –, es mir zu geben, und erklärte ihm gleichzeitig, dass ich fand, dass es ziemlich viel Macht über ihn habe. Ich legte das Gerät in ein Regal in meinem Büro, wo es viele Monate liegen blieb, was Henry überraschend gut akzeptierte.

Henry und ich begannen, eine echte Verbindung aufzubauen. Ich blieb stets freundlich und interessiert und ganz langsam fing er an, darauf zu vertrauen, dass ich seine Verbündete war. Die Sitzungen mit seinen Eltern fand ich sehr viel schwieriger. Melissa und Bradley weigerten sich, sich die Mühe zu machen, das, was wir in unseren Sitzungen besprachen, auch anzuwenden – nämlich auf Henry einzugehen, anstatt auf ihn loszugehen. Immer wieder versuchten sie es mit Logik, Bestechung oder Drohungen, um ihm abzunötigen, was sie von ihm wollten. Sie schienen mehr daran interessiert zu sein, dass ich ihren Sohn dazu bringe, einfach zu tun, was sie wollten, als ihre eigene Beziehung zu ihm zu verbessern.

Eines Abends klingelte mein Telefon. Es war Bradley, der mich völlig aufgelöst vom Parkplatz eines Restaurants aus anrief. Offenbar hatte Henry im Restaurant einen Tobsuchtsanfall gehabt und war dann auf den Parkplatz geflüchtet, wo er seinen Eltern weiter auswich. Melissa und Bradley versuchten verzweifelt, ihren Sohn in den Wagen zu bekommen, damit sie nach Hause fahren konnten. „Könnten Sie mit Henry reden? Können Sie ihn überzeugen, einzusteigen?“ flehte mich Bradley an.

Das war eine ungewöhnliche Bitte, aber ich willigte ein, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was da auf mich zukommen würde. Und so ist es schließlich gelaufen: Bradley kam nah genug an Henry heran, um ihm zu sagen, dass Susan am Telefon war und mit ihm sprechen wollte. Henry nahm sofort das Telefon. Ich sagte einfach nur: „Schatz, es ist Zeit ins Auto einzusteigen.“ „Okay.“ Das war’s. Er gab seinem Vater das Telefon zurück und stieg ins Auto.

Was hatte ich getan, zu dem seine Eltern nicht imstande waren? Welche Macht hatte ich über Henry, dass er einfach Ja sagte? Keine. Aber ich hatte zwei Dinge: eine authentische Verbindung zu ihm – er wusste, dass ich ihn mochte und respektierte – und eine legitime Stellung als Kapitän auf dem Schiff unserer Beziehung. Ich hatte weder Angst vor ihm, noch brauchte ich ihn, um mein Selbstwertgefühl aufzupolieren, und ich hatte bewiesen, dass mir wirklich etwas an ihm lag. Er wusste, dass ich auf seiner Seite stand.

Wie hatte ich das erreicht? Indem ich Henry meine volle Aufmerksamkeit geschenkt und ihn so akzeptiert hatte, wie er war. Er wusste, dass ich ihn witzig und interessant fand. Er wusste, dass ich kein verstecktes Motiv dafür hatte; ich brauchte nichts von ihm. Darum kam er meiner Bitte nach, so wie wir alle es tun würden, wenn eine Person, die wir mögen, uns um etwas bittet.

Die volle Aufmerksamkeit seiner Eltern erhielt Henry bedauerlicherweise nur dann, wenn sie ihn entweder überzeugen wollten, etwas zu tun, das er nicht wollte – seine Hausaufgaben fertig machen, duschen, zum Essen kommen – oder wenn er mit etwas aufhören sollte, das er tun wollte, wie ein Videospiel spielen oder morgens sein kuschelig warmes Bett verlassen. Sie investierten kaum je Zeit darin, ihren Sohn einmal als Person kennenzulernen – nicht weil sie ihn nicht liebten, sondern weil sie wie so viele Eltern viel zu sehr von ihren alltäglichen Aufgaben und Stressfaktoren in Anspruch genommen und abgelenkt wurden. Die Folge war, dass Henry seinen Eltern gegenüber keine Loyalität empfand und darum auch nur wenig Interesse daran hatte, ihnen gefällig zu sein. Da Henry ihnen also keinerlei Wohlwollen entgegenbrachte, fühlten sie sich gezwungen, ihn zu bestechen oder ihm zu drohen, um seine Mitarbeit zu erreichen.

Kindererziehung im Jetzt

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