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Unerledigte Angelegenheiten heilen
ОглавлениеSie erinnern sich bestimmt noch an Angie und Eric aus der Einleitung, in der ich beschrieben habe, wie die Realität, ihr launisches Kind zu erziehen, mit dem wunderbaren Bild kollidierte, das sie sich von ihrem bewussten Leben als Eltern gemacht hatten. Ich begann mit ihnen zu arbeiten, als ihr Sohn Charlie gerade viereinhalb Jahre alt war. Sie waren zu mir gekommen, weil Charlie aufgrund seines aggressiven Verhaltens der Rauswurf aus der Vorschule drohte. Auch zu Hause war das Maß voll, denn die Ausbrüche ihres Sohnes hatten ein Klima von Chaos und steter Anspannung geschaffen.
Ich begann damit, Angies und Erics innere Konflikte beim Thema Grenzen setzen zu erforschen. Beide Elternteile waren unsicher, wie, wann oder wo sie bei Charlie die Grenze ziehen sollten. In Erics Fall hatte sein Mangel an Klarheit mit seiner eigenen Erziehung durch übermäßig strenge Eltern, die jede seiner Bewegungen kontrollierten, zu tun. Er war entschlossen, seinen Kindern die Freiheit zu lassen, eigene Entscheidungen zu treffen. Infolgedessen ertappte er sich immer wieder dabei, wie er seinem Sohn keine klare Linie vorgab.
Wir sprachen darüber, was es heißt, ein Kind zu entmutigen. „Eric, es klingt für mich, als wären Sie in Ihrem Wunsch, Ihren Kindern eine eigene Stimme zu lassen und die Freiheit zu geben, ihre Wünsche frei zu äußern, sehr leidenschaftlich.“ Er nickte und bestätigte mir, dass ihm das sehr wichtig sei. Ich bat ihn, mir von seiner eigenen Kindheit zu erzählen, und er sprach davon, wie machtlos er sich seinen Eltern gegenüber gefühlt hatte, die ihm wirklich alles vorschrieben. „Wenn sie wollten, dass ich Klavierunterricht nahm, dann musste ich Klavierunterricht nehmen – und jeden Tag üben. Ich mochte das Klavier noch nicht einmal, aber das spielte keine Rolle. Da gab es gar keine Diskussionen. Dasselbe galt für die Kleidung, die ich trug, was ich im Fernsehen sah, welchen Sport ich trieb – es gab für mich keine Möglichkeit, in meiner Familie meinen Willen durchzusetzen. Ich fühlte mich schwach und machtlos und ich will auf keinen Fall, dass meine Kinder so aufwachsen müssen.“ Eric war klug genug, um zu verstehen, dass seine Kinder eigenständige und einzigartige Individuen waren, die nicht die Aufgabe hatten, seine unerfüllten Träume auszuleben.
Doch Erics unerledigte Angelegenheiten hatten einen negativen Einfluss auf die Erziehung seines Sohnes. „Da dies in Ihrer eigenen Kindheit so schmerzlich für Sie war, laufen Sie nun unglücklicherweise Gefahr, die Strenge Ihrer Eltern überzukompensieren, indem Sie Charlie so wenig Struktur geben, dass es ihm sogar schadet.“
Ich erzählte ihnen, dass mir dieses Dilemma sehr oft begegnete, vor allem bei Eltern, die ihr persönliches Wachstum oder ihre spirituellen Praktiken sehr ernst nahmen. Ich bewundere Menschen sehr, die sich für eine bewusste Elternschaft entscheiden – nämlich dafür, ihre Kinder zu ermutigen, zu sagen, was sie denken und fühlen, und ihren Gefühlen und ihrer Intuition zu vertrauen. Aber ebenso müssen wir ihnen Struktur bieten und dürfen uns nicht davor fürchten, Grenzen zu setzen. Nachdem die Sache mit Charlie so gewaltig aus dem Ruder gelaufen war, war Eric immerhin bereit, in Erwägung zu ziehen, dass es die Möglichkeit gab, etwas strenger mit Charlie umzugehen, ohne ihn zu brechen.
Angie, die durch die Ausbrüche ihres Sohnes an die unberechenbaren, explosiven Wutausbrüche ihrer Mutter erinnert wurde, fiel es leichter, Charlies Forderungen nachzugeben als Grenzen zu setzen. Und durch die ständige Spannung, die er produzierte, hatte sie immer weniger Lust, sich mit ihm zu beschäftigen, und setzte ihn schnell einmal vor ein iPad oder vor den Fernseher, wo er keinen Ärger machen konnte. Doch der kleine Charlie drängte auf Kontakt zu seiner Mutter, auch wenn das bedeutete, dass er ungezogen sein musste. Er hatte herausgefunden, dass er sich durch seine Wutanfälle der hundertprozentigen Aufmerksamkeit seiner Mutter sicher sein konnte. In gewisser Hinsicht entwickelte er sich gerade zu einem kleinen Henry.
Im Wesentlichen musste Charlie herausfinden, ob seine Eltern in der Lage waren, einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen er sicher die Welt entdecken konnte. Im Grunde war sein Verhalten ein Zeichen dafür, dass er sich nicht wohl dabei fühlte, ohne einen kompetenten Kapitän über das Meer seines Lebens zu segeln – mit der Folge, dass Charlie sich, wann immer er frustriert war, auf den Boden warf, Sachen durch die Gegend schleuderte oder seine Eltern trat und schlug.
Ich erklärte Angie und Eric die drei Modi der Erziehung und machte ihnen klar, wie wichtig es war, dass sie der Kapitän des Schiffes wurden. Sie stimmten mir beide zu, dass sie meist im Diktator-Modus agierten – Charlie hatte das Sagen und konnte machen, was er wollte, bis es so schlimm wurde, dass sie ihm mit ernsten Folgen drohen mussten, damit er wieder zur Vernunft kam.
Doch dem eigenen Ärger nachzugeben, war etwas, das sich mit ihren spirituellen Werten nicht vereinbaren ließ, weshalb sie sich schuldig fühlten und Reue empfanden. Und so setzte sich der Teufelskreis immer weiter fort – sie ertrugen die Tiraden ihres Sohnes, bis das Fass überlief, dann explodierten sie und schließlich schämten sie sich ob ihrer Unfähigkeit, ruhig und zentriert zu bleiben.
Ich erzählte Angie und Eric, was Eckhart Tolle über den „Schmerzkörper“ sagt – einen verbleibenden emotionalen Schmerz, der sich von Negativität ernährt. Er schreibt: „Während das Kind unter einem Schmerzkörperanfall leidet, kannst du nicht viel tun, außer gegenwärtig zu bleiben, damit du dich nicht zu einer emotionalen Reaktion hinreißen lässt. Das würde nur dem Schmerzkörper des Kindes Nahrung geben. Schmerzkörper können äußerst dramatisch auftreten. Fall nicht auf das Drama herein. Nimm es nicht so ernst. Wurde der Schmerzkörper durch ungestilltes Verlangen aktiviert, dann unterwirf dich seinen Forderungen keinesfalls. Sonst lernt das Kind daraus: ‚Je unglücklicher ich bin, desto eher bekomme ich, was ich will.“2 Tolles Ansicht nach ist der Wutausbruch eines Kindes der unbewusste Versuch seines Schmerzkörpers, an Stärke zu gewinnen, indem er andere in sein Drama und Elend mit hineinzieht.
Eckhart Tolles Ansicht nach ist der Wutausbruch eines Kindes der unbewusste Versuch seines Schmerzkörpers, an Stärke zu gewinnen, indem er andere in sein Drama und Elend mit hineinzieht.
Ob Ihnen diese Sprache nun vertraut ist oder nicht, der Gedanke dahinter ergibt wahrscheinlich einen Sinn. Wenn wir das Fehlverhalten unseres Kindes persönlich nehmen, tritt unser Ego in Aktion und generiert Verzweiflung oder das Bedürfnis nach Kontrolle. Dabei tut es alles, um seiner Sache Nachdruck zu verleihen. Ist diese Dynamik erst einmal in Gang gesetzt, müssen wir zwangsläufig in den Anwalt- oder Diktator-Modus wechseln, denn das Ego hat gewissermaßen eine Meuterei ausgerufen und den Kapitän und dessen ruhige Führung, die normalerweise dafür sorgt, dass wir sicher durch die Unwetter unseres Kindes segeln, entführt.