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Wie wir Kindern helfen, mit Verlust umzugehen
ОглавлениеEric und Angie wollten, dass Charlie glücklich war, darum gaben sie seinen Forderungen immer wieder nach oder versuchten, ihn zu beruhigen. Es überraschte mich nicht zu hören, dass ihr Sohn nur sehr selten weinte. Dieser kleine Junge kochte vor Wut, wenn er seinen Willen nicht bekam, doch seine Wut mündete eigentlich nie in echte Traurigkeit oder Tränen. Ich bat Angie und Eric, darüber nachzudenken, wie es wohl wäre, wenn sie Charlies Probleme einmal nicht lösten, sondern ihm dabei halfen, sein Unglück zu fühlen. Diese Vorstellung verunsicherte die beiden sehr. „Wenn ich meinen Sohn liebe“, fragte Eric, „wie kann ich ihn denn dann nicht glücklich machen wollen?“
Ich fragte sie, was sie sich für Charlie wünschten, wenn er einmal erwachsen wäre – welche Fähigkeiten und Ressourcen er bis dahin verinnerlicht haben sollte, die dafür sorgten, dass er wahrscheinlich ein gutes Leben führen würde. „Wir möchten, dass er weiß, wie man mit Menschen umgeht, und er soll eine positive Einstellung haben, damit er gute Dinge anzieht. Und wir wünschen uns, dass er in der Lage ist, auch schwierige Zeiten durchzustehen.“ Ich erklärte ihnen, dass man Kindern, wenn sie die inneren Ressourcen entwickeln sollen, die ihnen dabei helfen, das Leben so zu akzeptieren, wie es ist, erlauben muss, in Situationen, in denen sie nicht haben können, was sie wollen, durch die Phasen Verleugnung, Zorn und Verhandeln hindurchzugehen, damit sie schließlich über die Enttäuschung zur Akzeptanz gelangen – eine Idee, die ich Elisabeth Kübler-Ross’ Arbeit über die Sterbephasen3 entlehnt habe und die ich in Parenting Without Power Struggles eingehender erkläre.
Angies und Erics Bestreben, ihren Sohn vor der ganzen Last seiner Enttäuschungen zu bewahren, hielt Charlie in den ersten drei Phasen der Trauer gefangen, also in Verleugnung, Zorn und Verhandeln. Weil sie für gewöhnlich nachgaben, wenn Charlies Frust zu eskalieren drohte, begann er in der Phase der Verleugnung, wenn er um etwas bat. Verständlicherweise glaubte er aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen nicht, dass Nein wirklich Nein bedeutete, also blieb er in der Verleugnung und war nicht imstande zu akzeptieren, dass seine Eltern dieses Mal nicht nachgeben würden.
Da sie Charlie mit dem gleichen Zorn begegneten, den er selbst zum Ausdruck brachte, blieb er in der Phase des Zorns hängen. Eltern und Kind bombardierten einander mit verletzenden Vorwürfen, was die Wut auf beiden Seiten nur noch steigerte. Wenn sich seine Eltern auf hitzige Debatten darüber einließen, weshalb Charlie seinen Willen nicht haben konnte, begünstigten sie die Phase des Verhandelns und ermutigten ihren Sohn dadurch im Grunde nur noch mehr, für seine Sache zu streiten.
Um Charlie gegenüber die Rolle des Kapitäns zu übernehmen, mussten sie in sich selbst fest genug verankert sein, um sein Leid oder seine Enttäuschung (Kübler-Ross nennt diese Phase „Depression“) aushalten zu können. Dies war ein überaus wichtiger Schritt auf dem Weg, Charlie dabei zu helfen, sein Frustrationspotential zu verringern, das ihn so leicht explodieren ließ, wenn er auf etwas stieß, das er nicht ändern oder kontrollieren konnte. Solange ein Kind nicht traurig sein darf, wenn es nicht bekommt, was es will, wird es nie in die Phase der Akzeptanz eintreten.
„Was sagt es Charlie über Ihr Vertrauen in seine Fähigkeit, mit Enttäuschung umzugehen, wenn Sie alles daransetzen, ihn auf keinen Fall Traurigkeit empfinden zu lassen?“ fragte ich sie. Das Ganze aus dieser Perspektive zu betrachten, öffnete ihnen die Augen. Sie begannen zu verstehen, dass sie Charlie, wenn sie seine Probleme lösten oder seinen Ärger wegzuerklären versuchten, im Grunde signalisierten, dass sie nicht glaubten, er besitze die notwendigen inneren Ressourcen, um mit dem Leben klarzukommen, wenn es gerade nicht nach seinen Vorstellungen lief – keine besonders gute Botschaft für ein Kind, aus dem einmal ein belastbarer Erwachsener werden soll.
Angie hatte jedoch immer noch Angst davor, sich Charlie gegenüber zu behaupten. Allein darüber nachzudenken, ließ sie innerlich erzittern. „Ich gebe es ja ungern zu, aber ich bin ein Schwächling. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, Charlie die Stirn zu bieten, wenn er einen seiner Wutausbrüche hat. Das ist, als versuchte man, mitten in einem Hurrikan aufrecht stehen zu bleiben!“
Sie begannen zu verstehen, dass sie Charlie, wenn sie seine Probleme lösten oder seinen Ärger wegzuerklären versuchten, damit im Grunde signalisierten, dass sie nicht glaubten, er besitze die notwendigen inneren Ressourcen, um mit dem Leben klarzukommen, wenn es gerade nicht nach seinen Vorstellungen lief – keine besonders gute Botschaft für ein Kind, aus dem einmal ein belastbarer Erwachsener werden soll.
Ich forderte sie auf, sich vor mich hinzustellen und sich vorzustellen, ich sei Charlie, der sich gerade für einen Trotzanfall aufwärmt. „Spüren Sie dem nach, was jetzt in Ihrem Körper vorgeht.“ Sie schloss die Augen, wurde still und beschrieb dann, dass sie sich sehr jung und zittrig fühlte. „Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen – nicht stark genug, um mit der Situation klarzukommen. Ich möchte am liebsten unter einen Stein kriechen und mich verstecken.“ Sie erkannte, dass dies sehr vertraute Gefühle waren, die sie an die Zeit erinnerten, da sie sich zu schwach gefühlt hatte, der Heftigkeit und dem Chaos ihrer Mutter standzuhalten. Während sie sich in diesem Zustand befand, sagte ich zu ihr, dass ich sie jetzt sanft anstoßen würde. Als ich es tat, verlor sie sofort das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch fangen, bevor sie hinfiel.
„Ich möchte, dass Sie sich ein Drahtseil vorstellen, das von Ihrem Scheitel durch Ihren Körper bis hinab in Ihre Füße verläuft und Sie im Erdmittelpunkt verankert. Dieses Drahtseil ist unnachgiebig und fest. Nichts kann es bewegen oder schwanken lassen. Spüren Sie Ihre Stärke; stehen Sie so stabil und fest wie ein uralter Mammutbaum, dessen Wurzeln bis tief in die Erde hinabreichen.“ Während sie dieses Bild aufrecht hielt, stieß ich sie genauso kräftig an wie zuvor. Doch dieses Mal verlor sie das Gleichgewicht nicht, stattdessen war sie völlig unbeweglich.
„Wie hat sich das angefühlt, Angie?“
„Großartig! Ich habe meine Stärke gespürt. Ich fühlte mich fest und unbiegsam. Kraftvoll, ohne dass ich mich dazu zwingen musste, Widerstand zu leisten oder stark zu sein. Ich habe mich wie eine Erwachsene gefühlt!“
Ich lud sowohl Angie als auch Eric dazu ein, diese Übung einige Male zu wiederholen und sich dabei vorzustellen, wie sie, von einem Drahtseil gestützt, dass ihnen ein starkes Rückgrat verleiht, vor Charlie stehen, der gerade zu einem seiner Unwetter anheben will. „Denken Sie daran, dass Sie ihm keinen Gefallen damit tun, wenn Sie ihm immer alles recht machen wollen. Wenn Sie Ihren Sohn zu einem Erwachsenen erziehen wollen, der auch dann mit der Welt zurechtkommt, wenn einmal nicht alles nach seinen Vorstellungen verläuft, dann müssen Sie ihm dabei helfen, jetzt seine Widerstandskraft zu entwickeln, indem Sie mit ihm gegenwärtig bleiben, wenn er die ganze Wucht seiner Enttäuschungen ertragen muss.
Spüren Sie einfach, wie Ihnen das Herz schwer ist beim Akzeptieren der Tatsache, dass Sie Charlie nicht vor jedem Ärger oder Verlust beschützen können und dann visualisieren Sie sich mit dem Drahtseil, das Sie in der Erde verankert. Spüren Sie eine sanfte, aber unnachgiebige Stärke, während Sie die Gefühle Ihres Sohnes liebevoll anerkennen, ihm aber auch gestatten, durch die Phasen von Verleugnung, Zorn und Verhandeln hindurchzugehen und einfach traurig zu sein.“
Ich arbeitete gute drei Monate mit dieser Familie. Wir konzentrierten uns vor allem darauf, ihr Unbehagen angesichts Charlies Ärgers zu reduzieren, sodass sie nicht ständig das Gefühl haben mussten, alles nach seinen Vorstellungen zurechtbiegen zu müssen. Wir ergründeten ihre Ängste dahingehend, dass sie Charlies Naturell einschränken könnten, und suchten nach Wegen, wie sie selbstbewusster mit seinem ungestümen Temperament umgehen konnten. Ich half ihnen zu lernen, wie sie mit Charlie auf eine Weise kommunizieren konnten, die ihm das Gefühl gab, verstanden zu werden, auch wenn er nicht bekam, was er wollte. Anstatt zu sagen: „Nein, es gibt keine Plätzchen zum Abendessen“ (Nein ist ein Wort, auf das die meisten Kinder heftig reagieren), zeigte ich ihnen, wie sie zumindest auf einige seiner Wünsche weniger konfrontativ antworten konnten: „Plätzchen zum Abendessen! Wär’ das nicht toll! Wollen wir uns das für deinen nächsten Geburtstag vormerken?“ Und sowohl Angie als auch Eric verbrachten nun mehr Zeit mit ihrem Sohn, in der sie einfach nur da waren, damit er die Nähe und Verbindung spüren konnte, nach der er sich so sehnte und die in ihm das Bedürfnis wecken würde, sich besser zu benehmen und seinen Eltern Freude zu bereiten.