Читать книгу Kindererziehung im Jetzt - Susan Stiffelman - Страница 28
Praktische Umsetzung
ОглавлениеBewusste Elternschaft im wirklichen Leben
Sind unsere Kinder uns nicht ebenbürtig?
Frage: Als spiritueller Mensch glaube ich, dass meine Kinder und ich absolut ebenbürtig sind. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, ihnen zu sagen, was sie zu tun haben, oder sie kleinzuhalten, indem ich ihnen Grenzen setze, die sie daran hindern, ihrem Herzen zu folgen. Wie lässt sich das mit der autoritären Rolle vereinbaren, die Sie mir ans Herz legen?
Vorschlag: Letztes Jahr schenkte mir mein Sohn einen Brief zum Geburtstag, in dem er über seine Kindheit schrieb und mir für meine Hilfe dankte, dass er zu dem Mann werden konnte, der er heute ist und wird. Immer wieder beschrieb er in diesem Brief Momente, in denen er wütend war, weil ich ihm etwas verweigerte, was er haben oder tun wollte. Doch aus seiner mittlerweile erwachsenen Sichtweise war er mir dankbar dafür, dass ich mich durchgesetzt und ihm das, was, wie er nun nachvollziehen konnte, nicht zu seinem Besten war, verweigert hatte.
Ich kann nicht beschreiben, wie sehr mich dieser Brief berührt hat. Ich erinnere mich nur allzu gut an Situationen, in denen ich eine unliebsame Entscheidung treffen musste. Wenn ich nicht sicher war, bot ich ihm an, mir auf respektvolle Weise zu erklären, warum ich aus meinem Nein ein Ja machen sollte. Manchmal konnte er mich auch überzeugen.
Doch wenn ich mir sicher war, dass mein Nein ein Nein bleiben würde, musste ich allem Ärger und aller Enttäuschung meines Sohnes zum Trotz auf meine Instinkte vertrauen und über den Tellerrand hinausschauen, auch wenn das bedeutete, dass er mir dann nicht dieses wunderbare Lächeln schenken würde, das ich bekäme, wenn ich einfach nur nachgeben würde.
Auch wurde mir klar, dass mein Sohn – auch als er noch sehr klein war – mir auf der Seelenebene in jeder Hinsicht ebenbürtig war. (Tatsächlich hatte ich oft das Gefühl, dass er viel weiser sei als ich!) Doch ich lernte zu verstehen, dass Kinder jemanden brauchen, der sie in ihrem Leben verlässlich führen kann, auch wenn das bedeutet, dass sie nicht immer tun können, was sie wollen – wie zum Beispiel einen Film anschauen, von dem sie mit Sicherheit Alpträume bekommen, oder zu einer Party gehen, bei der keine Aufsichtspersonen zugegen sind.
Es ist nicht leicht, Grenzen zu setzen oder unsere Kinder zu enttäuschen, aber vielleicht werden Sie genau wie ich erkennen, dass es dabei nicht darum geht, ob unsere Kinder uns spirituell ebenbürtig sind; das versteht sich von selbst. Es geht vielmehr darum, dass wir die Pflicht und Schuldigkeit haben, unsere Rolle als Erwachsene voll auszufüllen, so gut wir können. Dazu gehört auch, dass wir unser eigenes Unbehagen ertragen, wenn unsere Kinder einmal wütend auf uns sind. Wir sollten nicht versuchen, diesen unangenehmen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, indem wir dem eigentlichen Bedürfnis unserer Kinder nicht nachkommen – dem Bedürfnis nach einem liebevollen Kapitän auf ihrem Schiff, der sie ebenso sicher durch Unwetter wie durch ruhige See navigiert.
Wie schaffe ich es, die Dinge nicht persönlich zu nehmen?
Frage: Ich finde es enorm schwierig, es nicht persönlich zu nehmen, wenn mein Sohn sich daneben benimmt. Ich verliere die Beherrschung und reagiere auf ihn, als wären wir Kinder im selben Alter, die die Sache nach der Schule auf dem Spielplatz austragen. Wie schaffe ich es, in so einer Situation die Erwachsene zu bleiben?
Vorschlag: Stellen Sie sich vor, Sie treiben in einem Boot auf einem kleinen See dahin. Sie sind so entspannt, dass Sie fast einschlafen. Plötzlich werden Sie von einem anderen Boot gerammt. Sofort schauen Sie nach, wer da am Ruder sitzt: Wie kann er es wagen, Sie so rücksichtslos zu rammen! Was hat der sich dabei gedacht? Ihr Blutdruck steigt. Wie kann man nur so unverantwortlich sein!
Während Sie sich noch aufregen und nach dem gedankenlosen Bootsfahrer Ausschau halten, stellen Sie plötzlich fest, … dass es diesen gar nicht gibt! Das andere Boot muss sich vom Anleger gelöst haben; es hat Ihr Boot nur gerammt, weil die Strömung es hierher getrieben hat. Da es also niemanden zu beschuldigen gibt, beruhigen Sie sich schnell wieder, vielleicht überlegen Sie sogar, wie Sie das treibende Boot an Ihrem befestigen und es sicher zum Ufer zurückbringen können.
Was hat sich verändert? Nur Ihre Gedanken zu diesem Ereignis. Sie haben erkannt, dass in dem Boot, das Sie gerammt hat, niemand saß, der Ihnen etwas Böses wollte. Es war also gar nichts Persönliches.4
Versuchen Sie, in dem schlechten Benehmen Ihres Sohnes nicht den Wunsch zu sehen, Sie zu ärgern oder aufzuregen. Vielleicht ist er nur müde oder hungrig oder hat das Gefühl, nicht genug Aufmerksamkeit zu bekommen. Oder er macht sich über irgendeine Sache in der Schule Sorgen oder fühlt sich einfach nicht wohl. Selbst, wenn Ihr Sohn Sie ganz bewusst reizt, können Sie immer noch hinter die Fassade schauen und sein Verhalten eher als einen unbeholfenen Versuch verstehen, irgendein Bedürfnis zu befriedigen, als Ihnen etwas Böses zu tun.
Eines der größten Geschenke, das Sie sich selbst machen können, ist, durchs Leben zu gehen, ohne das Verhalten anderer Menschen persönlich zu nehmen. Kein Tornado zerstört vorsätzlich ein Haus; das Haus stand ihm nur zufällig im Weg.
Nehmen Sie Ihren Ärger oder Ihre Enttäuschung wahr, aber ersparen Sie sich das Leid, davon auszugehen, Ihr Sohn wolle Ihnen etwas Böses. Er ist einfach nur ein Boot, das hilflos durch die Strömung seiner besonderen Probleme treibt. Sprechen Sie ihn ruhig auf die Motivation hinter seinem schlechten Betragen an, aber gestatten Sie sich, es nicht persönlich zu nehmen.
Kann ich Kapitän und dennoch lustig sein?
Frage: Jetzt, da ich versuche, der Kapitän des Schiffes zu sein, mache ich mir Sorgen, dass ich am Ende zu streng sein werde. Vorher war ich zu locker und jetzt weiß ich, dass es für meine Kinder viel besser ist, wenn ich mich mehr wie eine Erwachsene verhalte, aber ich will auch nicht so werden wie meine Mutter, die immer sehr ernst und unnachgiebig war. Wie kann ich Kapitän sein und trotzdem eine lustige Mama bleiben?
Vorschlag: Kinder sind darauf programmiert, das Leben zu genießen. Zum Glück! Ansonsten würden wir wohl in einer trüben und eintönigen Welt leben, in der jeder nur pflichtbewusst die Punkte auf seiner To-do-Liste abhakt.
Wie Sie wissen, muss ein Pendel zunächst einmal von einem Extrem zum anderen ausschlagen, bis es in der Mitte zur Ruhe kommt. So ist es auch ganz natürlich, dass es ein Weilchen dauert, bis Sie sich in Ihrer neuen Rolle als Kapitän des Schiffes so richtig wohlfühlen, ohne das Gefühl zu haben, Sie dürften das Leben mit Ihren Kindern nicht mehr genießen. Mit der Zeit wird es Ihnen immer besser damit gehen, bei Bedarf angemessene Grenzen zu setzen, zum Beispiel wenn Ihre Kinder mit Streichhölzern spielen oder vom Dach springen wollen.
Eckhart Tolle erzählt eine lustige Geschichte darüber, wie er eines Tages an einer Schule vorbeiging, an der gerade die Sommerferien begonnen hatten. Dort hing ein großes Schild, auf dem stand: „Seid vorsichtig!“ Wie er so über diesen Abschiedsgruß an die Schüler auf dem Weg in die Ferien nachdachte, musste er lachen, als er sich vorstellte, wie die Kinder zu Beginn des neuen Schuljahres aus den Ferien heimkehrten. Eckhart sagte: „Der erfolgreichste Schüler wird wohl sagen: ‚Ich war in den Ferien sehr, sehr vorsichtig!‘“ Natürlich wünschen wir uns, dass unsere Kinder vorsichtig sind und dabei die Welt entdecken und Spaß haben.
Meine Empfehlung ist folgende: Wenn Sie sich entscheiden müssen, ob Sie gerade nachgiebig oder streng mit Ihren Kindern sein müssen, halten Sie einen Augenblick inne und gehen Sie in sich. Hören Sie auf das, was Ihr Instinkt Ihnen sagt. Vertrauen Sie sich.
In Ihrer Rolle als Kapitän brauchen Sie Selbstvertrauen. Sie müssen nicht so werden wie Ihre Mutter und sich auch nicht wie ein General aufführen. Wenn es ein guter Tag ist, um Eiscreme zum Frühstück zu essen oder zu verkünden: „Heute lassen wir den ganzen Tag unsere Schlafanzüge an“, dann sollten Sie das auf jeden Fall tun! Das letzte, was ich möchte, ist, dass Eltern meine Bücher lesen und denken, sie dürften ab sofort nicht mehr albern oder unbeschwert mit ihren Kindern sein. Vergessen Sie nicht: Ein Schiffskapitän strahlt zwar Selbstvertrauen aus und weiß genau, wie man ein Schiff durch den Sturm bringt, aber er schwingt auch schon mal das Tanzbein mit seinen Passagieren!
Kinder erinnern uns daran, zu spielen, auf Entdeckungsreise zu gehen und das Leben voller Leidenschaft zu bejahen. Auch wenn Sie für Ihre Kinder der oder die Erwachsene sein müssen, sollte das niemals bedeuten, dass Sie keinen Spaß zusammen haben dürfen.