Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 10

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*

So weit bin ich noch nicht, denkt Holm nach wenigen Zeilen.

Sein Lehrbuch in der einen, den frisch erworbenen Roman in der anderen, schweift er schnell ab und verliert sich in der Betrachtung der Umgebung der Bank.

Er hatte den freien Tag genutzt, um wie geplant die Gegend zu erkunden und dabei die klare Winterluft zu genießen. Sigurd von Ilsemann hatte ihm sogar angeboten, einen Zwischenstopp in seinem Heim in Amerongen einzulegen. Da Holm kein Interesse an einer zufälligen Begegnung mit Piet hat, hatte er sich eine andere Route zurechtgelegt.

Zunächst führt ihn sein Weg jedoch zurück in die Buchhandlung, in der er bereits sein Lehrbuch für die Landessprache erworben hatte.

Er stöberte ein wenig herum und stieß dann auf ein Buch, das ihm vom Thema vielversprechend erschien: »Else Böhler, Duits dienstmeisje«3 von einem Autor namens Simon Vestdijk. Der Inhaber des Geschäftes, ein älterer, sehr gepflegter Herr mit vollem grauen Haar und auffallend großer Nase, schaute ihn an der Kasse verwundert an, machte aber keine Bemerkung zu dem Kauf. Immerhin: Das Buch enthält einige Passagen in Deutsch, wenn auch alles recht düster und bedrohlich wirkt.

Anschließend nimmt Holm sich Zeit, endlich eine neue Mütze zu erwerben.

Gerade will er seinen Zwischenstopp auf der Bank beenden und sich wieder auf den Rückweg zur Pension aufmachen, als aus Richtung Doorn eine Radfahrerin in hohem Tempo in seine Richtung gefahren kommt. Die Silhouette ist Holm vertraut, aber das lange, wehende Haar in dem Licht der langsam untergehenden Sonne ist ungewöhnlich. Die meisten holländischen Frauen tragen ihre Haare zu einem Dutt zusammengebunden oder kurz geschnitten. Auch Anni Brandt verzichtet während der Dienstzeit darauf, ihre Haare offen zu tragen.

Holm bleibt für einen Moment stehen, angetan von der Szene.

Er steht abseits des Weges, als ihn das Fahrradklingeln grüßt.

Die junge Frau bremst und springt gekonnt von Sattel ab, streicht dann einige Strähnen ihres langen, braunen Haares aus dem Gesicht. Ihre Wangen sind von der Kälte und vom schnellen Fahren rot gefärbt.

»Sie sind es tatsächlich«, spricht sie Holm für sein Empfinden sehr direkt an.

»Ich sehe, Sie haben eine neue Mütze!«

Holm nickt lediglich und schaut die junge Frau verwundert an.

Schon die dritte Begegnung innerhalb weniger Tage ...

Sie spricht sehr gut verständliches Deutsch, scheint aber Holländerin zu sein.

»Was macht Ihr Arm?«

»Danke, es geht. Der Doktor hat mir sehr geholfen. Aber das wissen Sie ja schon.«

Holm schmunzelt innerlich: Geholfen, ja – nur anders, als es erscheint.

»Was tun Sie hier an so einem Ort? Hören Sie den Bäumen beim Wachsen zu oder zählen Sie Tannenzapfen?«

Frech ist sie, denkt Holm, aber er mag ihre direkte, humorvolle Art sofort.

»Wollen Sie eine ehrliche Antwort?«, startet er einen Versuch für ein Gespräch, das über bloße Belanglosigkeiten hinaus gehen könnte.

Die Frau ist für einen Moment von der ungewöhnlichen Gegenfrage irritiert, kehrt dann aber schnell zur gewohnten Schlagfertigkeit zurück.

»Ehrliche Antworten sind mir am liebsten – auch wenn gute Lügen manchmal unterhaltsamer sind«, sagt sie.

»Je nach Situation sind sie auch einfacher zu ertragen.«

An ihrer verhaltenen Reaktion spürt Holm, dass er eine beiden vertraute Wahrheit ausgesprochen hat.

Es dauert einen Moment, dann setzt sich die Frau zu ihm auf die Bank und wirft einen flüchtigen Blick auf die Bücher neben ihm.

»Ich bin Holm Leinstermann, der neue Hofgärtner«, teilt Holm unbeholfen mit.

Die junge Frau nickt, wendet den Blick jedoch nicht von seiner Lektüre ab.

»Das wollen Sie lesen?«

»Warum, was ist damit?«, fragt er irritiert nach. Auch die Blicke des Verkäufers im Buchladen hatten ihn an seiner Wahl zweifeln lassen.

»Nun, wenn Sie Holländisch mit den Büchern von Simon Vestdijk lernen wollen, haben Sie sich ganz schön was vorgenommen«, lacht die junge Frau, ohne dass es auf ihn hämisch wirkt.

»Oder hat es einen anderen Grund, dass Sie gerade dieses Buch gekauft haben?«

»Eigentlich nicht.« Er überlegt kurz und fügt hinzu: »Was ich von der Beschreibung verstanden habe, klang irgendwie vertraut. Immerhin scheint sich dieser Vestdijk ein paar Gedanken über die Veränderungen in meinem Land gemacht zu haben.«

»Dieser Vestdijk wohnt nicht weit von hier, wussten Sie das?«

Holm verneint.

Unvermittelt steht sie auf. »Ich muss jetzt gehen. Ich habe nachher wieder Spätdienst in Doorn, da ist Zeit ein knappes Gut.«

Holm reagiert diesmal schneller. »Halt, warten Sie!« Er springt auf die Beine. »Sie haben mir Ihren Namen noch gar nicht gesagt.«

Sie lächelt. »Ich heiße Annegret.«

Und während die Sonne langsam untergeht und alles in ein warmes, rotgoldenes Licht taucht, fährt die junge Frau auf ihrem Rad davon – mit wehenden Haaren, in den Wald, die Abkürzung in Richtung Maarn.

*

Am Tisch in der Pension bleibt Holm beim Essen zunächst allein. Anni Brandt ist für einige Tage nach Deutschland gefahren und wird erst im Laufe des Abends zurückkehren, so dass Holm die Zeit nutzt, um einen weiteren Versuch zu starten, in dem Buch von Vestdijk zu blättern.

»Berlijn, 10 april ’34

Natuurlijk: wanneer het met dat beven zo doorgaat, dan komt er niets terecht van mijn plan ...«

Er verfällt in einen Wechsel zwischen einem hastigen Bissen, einem Schluck Kaffee und dem Stöbern im Buch. Er versteht so gut wie nichts, erkennt jedoch das ein oder andere Wort wieder. Zudem stößt er auf Passagen in Deutsch, die ihm einen Eindruck von dem Charakter des Buches vermitteln.

»Liebst du mich? – Ja ... – Pas om twaalf uur kwamen we thuis.«

Er sitzt eine ganze Weile, bis sich schließlich Frau Scheepers nähert. Er erhebt sich hastiger, als er es aus Höflichkeit tun sollte.

»Behalten Sie Platz, Herr Leinstermann.« Sie hat eine wohlklingende, beruhigende Stimme. Der starke Akzent in ihrem Deutsch belustigt ihn nicht mehr – Holm wünscht, er könnte sich ähnlich gut in der Landessprache ausdrücken.

»Ich wollte mit Ihnen besprechen, wie Sie Ihren weiteren Aufenthalt planen.«

»Ja, ich hätte mich noch an Sie gewandt. In der kommenden Woche kann ich ein Zimmer im Dienstgebäude auf dem Gelände von Huis Doorn beziehen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne über die Woche noch hierbleiben.«

Dabei denkt Holm vor allem an die Hilfe, die ihm Anni Brandt zu seinem Start hier bisher gewesen ist.

Ohne sie wäre ich noch nicht so weit, erkennt er.

»Das ist kein Problem«, entgegnet Frau Scheepers. »Sie sind hier immer herzlich willkommen.«

»Möchten Sie sich einen Moment zu mir setzen?« Holm ist über sich selbst erstaunt, wie selbstsicher seine Stimme klingt.

Frau Scheepers kommt seiner Einladung nach, nicht ohne sich zuvor versichert zu haben, dass Gesa die wenigen noch verbliebenen Gäste im Speiseraum versorgt. Sie wirkt etwas verlegen – es scheint für Sie nicht üblich, von Gästen auf diese Art angesprochen zu werden. Sie setzt sich umständlich und sieht Holm an.

Er trinkt einen weiteren Schluck des starken Kaffees und sagt dann: »Wissen Sie, ich bin sehr froh, dass Sie einen Augenblick Zeit für mich haben.«

»Wie sagt Ihnen denn das Essen zu? Und ist das Zimmer nach Ihren Wünschen?«, erkundigt sich Frau Scheepers.

»Ja, Danke, ich bin sehr zufrieden.«

Sie lächelt angestrengt und wartet nach wie vor auf eine Frage, die Sie dem Gast beantworten kann. Belanglose Konversation zur Unterhaltung der Gäste ist nicht ihre Sache.

»Sie haben doch auch Personal beschäftigt.«

Frau Scheepers nickt. Dabei begutachtet sie ihre Fingernägel – und wirkt plötzlich nervös.

»Ich bin mir etwas unsicher, ob ich mich gegenüber meinen Arbeitern richtig verhalte«, erklärt Holm. »Hier, meine ich, sind vielleicht andere Dinge wichtig, als in meiner letzten Stellung.«

Die Frau sucht nach etwas in ihrer Schürze, findet aber nichts.

»Geht es Ihnen um ein bestimmtes Problem?«, fragt sie.

»Das weiß ich selbst noch nicht. Es könnte damit zu tun haben, dass ich Deutscher bin – wegen der Sprache, meine ich. Andererseits bekleide ich vielleicht gerade eine Anstellung, auf die sich jemand anderes Hoffnungen gemacht hat. Möglicherweise sogar sehr begründete Hoffnungen.«

»Was Ihre Herkunft angeht, darüber kann ich nichts sagen. Einige Deutsche in Huis Doorn genießen im Ort ein hohes Ansehen, andere weniger.«

Sie stockt kurz in ihrer Antwort. Genau wie Anni Brandt schaut sie sich auffällig im Raum um, bevor sie leise weiterspricht:

»Falls Ihre Frage ist, ob Piet Beurtman Ihre Stelle gerne angenommen hätte: Da haben Sie recht.«

Holm kombiniert trotz der späten Stunde recht schnell das Gesagte mit dem Unausgesprochene.

»Piet und Gesa ...«

»Genau.« Das Gesicht von Frau Scheepers ist sehr ernst, als sie fortfährt.

»Allerdings leben sie seit einigen Monaten getrennt. Mehr möchte ich in dieser Sache nicht sagen, wenn Sie verstehen.«

»Das ist völlig in Ordnung, ich danke Ihnen für den Hinweis! Ich möchte Sie auf keinen Fall in Verlegenheit bringen, Frau Scheepers.«

»Danke. Sie entschuldigen mich? Ich muss noch einiges für morgen vorbereiten.«

»Sehr gern. Guten Abend!«

Holm schlägt aufs Geratewohl Else Böhler auf.

Inmitten einer Seite mit verwirrenden holländischen Sätzen liest er die Wörter:

»Verantwortlichkeit«, »Eid geleistet«, »Pflicht«.

Das klingt nach Vater.

Ihn selbst würden andere Begriffe besser beschreiben: Abwarten? Flucht? Feigheit?

Vielleicht war er einfach nur klug genug, sich Gefahren rechtzeitig zu entziehen und einen schützenden Bau zu suchen.

Die Nacht ist sehr unruhig und von wirren, seltsam verwobenen Träumen durchzogen.

Holm wähnt sich in einem Garten, er ist allein bei der vertrauten Arbeit. Plötzlich steht eine Person neben ihm: Es könnte der alte Kaiser sein, aber das Bild ist undeutlich und wechselhaft. In den Händen hält die Person einen abgestorbenen Rhododendronzweig. Sie ist nahe und flüstert in sein Ohr: »Else Böhler. Else Böhler. Else ...«

Unvermittelt ist das Traumbild fort. Holm geht mit Annegret, dem jungen Dienstmädchen, und Prinzessin Adini über eine Brücke – vielleicht die über die Gracht im Park, vielleicht anderswo. Die beiden haben sich bei ihm untergehakt, und Holm scheint sie in eine bestimmte Richtung zu begleiten. Dort angekommen, hinter einem Holzschuppen, ganz ähnlich wie am Huis Doorn, sieht er plötzlich einen Wandel in der Umgebung. Vor ihnen tut sich ein dunkles Eingangsportal auf, wie ein riesiger Tunnel. Als Holm sich umsieht, sind Annegret und die Prinzessin fort – vielleicht sind Sie durch das Portal gegangen. Der Traum ist real; Holm riecht die Fäulnis, die aus dem Tunnel aufsteigt.

Jemand lacht. Lauthals, hemmungslos. Eine riesige Hand streckt sich nach Holm aus, will ihn packen. Er fürchtet sich und schreit. Holm beginnt zu weinen wie ein Kind, schlägt mit Händen und Füßen um sich und will fliehen. Doch es nützt nichts – er ist gefangen, ausweglos. Holm hat grauenvolle Angst. Es ist, als würde ihm ein Strick um den Hals gelegt und kräftig angezogen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich nicht, sondern will vom inneren Druck bersten.

Endlich erwacht Holm – schweißgebadet, ihm ist fürchterlich zumute.

Was für ein übler Traum!

Es ist ihm alles so wirklich vorgekommen, dass sein Gesicht von Tränen überströmt ist. Er fühlt sich ausgetrocknet, als wenn er schon sehr lange geweint hätte. Plötzlich beschleicht ihn der Gedanke, dass er wirklich laut geschrien haben könnte, wie auch die Tränen echt sind.

Holm steigt aus dem Bett und geht die wenigen Schritte zur Tür. Er öffnet sie möglichst leise, holt kurz Luft und sieht hinaus auf den Flur. Als Anni Brandt nur eine Armeslänge vor ihm steht, erschrickt er heftig, auch sie fährt zusammen. Von den Bewohnern der anderen Zimmer ist niemand zu sehen.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, flüstert sie Holm zu.

»Danke, es geht schon ...«

»Wirklich?«

Ich habe geschrien!, ist Holm nun überzeugt.

Sie sind immer noch alleine auf dem Flur, und langsam sind beide so weit in der Wirklichkeit angekommen, dass sie den Rahmen der Begegnung als etwas ungewöhnlich empfinden:

Dort der mitgenommene, vom schlimmen Traum verwirrte Botaniker in seinem abgetragenen Schlafanzug, auf der anderen Seite die Prokuristin, einige Jahre älter, im feinen Nachthemd und bunten Morgenmantel, erst vor wenigen Stunden aus Deutschland zurückgekehrt.

Die Verlegenheit bleibt einen endlosen Moment, beide sprechen nicht.

Dann gibt Anni ihrer Intuition nach, macht einen langsamen Schritt auf Holm zu – und nimmt ihn behutsam in die Arme.

»Ich bin bei Ihnen«, flüstert die Frau, »und ich habe manchmal genau so große Angst wie Sie.«

Er weiß nicht recht, wie ihm geschieht, fühlt er sich doch derart geborgen, dass er sich zum ersten Mal seit langem wirklich öffnen könnte. Und obwohl in dieser Nacht schon viele Tränen geflossen sind, beginnt er erneut zu weinen, während Anni ihn mit ihrer Umarmung umfängt.

Auch ihr stehen die Tränen in den Augen, was Holm weder sehen kann noch richtig zuordnen könnte. Es waren keine guten Tage in Deutschland gewesen.

Vorsichtig schiebt Anni Brandt Holm zur Zimmertür und bedeutet ihm, ruhig zu sein. Sie schließt die Tür leise hinter ihnen, und Holm schaut ihr dabei zu wie ein ungläubiges Kind. Doch nicht alles in ihm ist in diesem Moment kindlich. Er sehnt sich nach einer Fortsetzung der Umarmung, nach Annis Nähe, nach ihrer Wärme.

Sie setzt sich mit ihm auf das schmale Bett, und auch sie spürt, welche Bedürfnisse im Einklang mit den seinen in ihr aufsteigen. Zu oft war sie in all den Jahren zurückgewiesen, ausgenutzt und enttäuscht worden. Die frische Wunde würde noch lange heilen müssen.

Als Anni wie eine schüchterne Heranwachsende Holms Hände in die ihren legt, sagt keiner der beiden etwas. Dennoch beginnen sie, miteinander in einer Sprache zu sprechen, die den Klang von Wärme und Geborgenheit, aber ebenso von Trauer und Verlorensein in sich trägt.

Anni ist schön, trotz ihres Alters, findet Holm.

Sie hat nichts Begehrenswertes an sich – aber sie ist schön, auf ihre eigene Art und Weise. Holm war bisher nie aufgefallen, wie glatt und weich ihre Haut noch ist. Es wäre vielleicht folgerichtig, sich jetzt die Situation zu Nutze zu machen und die zwei Menschen, die beieinander Trost suchen, auch körperlich zu vereinen. Doch Holms Herz, sein Verstand und sein Leib sind nicht bereit, Anni zu lieben.

»Was machen wir jetzt?«, fragt er nach einer ganzen Weile. Immer noch sind seine Hände in den ihren geborgen.

»Ich lasse Dich nicht allein«, sagt Anni.

Es ist eng, es ist unbequem – und vor allem ungewohnt. Mehr als einmal zieht der eine dem anderen die Decke vom Körper oder drückt den Ellenbogen in die Seite des Bettnachbarn.

Aber es ist Trost, Wärme, Geborgenheit – genau das, was beide Seelen in dieser Nacht brauchen.

*

Es ist wohltuend für Holm, Anni am nächsten Morgen zu sehen. Er hatte nicht bemerkt, wie sie vor Sonnenaufgang sein Zimmer verlassen hatte.

Die kurze Begegnung am Morgen gibt ihm Sicherheit. Das stumme Lächeln und Augenzwinkern sagt ihm, dass es keine Peinlichkeiten zwischen ihnen gibt – weder über seinen Zustand nach dem Traum noch die Begegnung danach.

Die Arbeit gestaltet sich an diesem Tag sehr schwierig, da das Wetter ihnen ab Mittag einen Strich durch die Rechnung macht. Bis dahin verläuft die Zusammenarbeit beim Baum- und Strauchschnitt im Park recht unkompliziert: Piet ist auffallend ruhig und meidet die anderen Männer geradezu. Er wirkt seltsam gebrechlich an diesem Morgen, aber an seiner Arbeit gibt es für Holm nichts auszusetzen.

Als der starke Regen einsetzt, bricht Holm die Arbeit im Freien ab und zieht nach der Mittagspause mit den Männern ins Gewächshaus am Nutzgarten.

Nur: Piet fehlt.

Von den anderen Männern ist wenig in Erfahrung zu bringen. In einem Mischmasch aus Deutsch, Holländisch und Plattdeutsch verständigen sie sich so weit, dass Piet offenbar krank und nach Hause gefahren ist. Holm ist erbost, fühlt er sich doch wiederum übergangen. Einer der Männer, ein junger, kräftiger Holländer namens Jan, hat bisher geschwiegen.

»Das ist manchmal so bei Piet«, bringt er wie eine Entschuldigung hervor. »Morgen wird es besser sein.«

Holm argwöhnt kurz, ob es sich um einen neuerlichen Streich seiner Arbeiter handeln kann. Jan jedoch wirkt gleichsam glaubwürdig und überzeugend, so dass Holm diesen Verdacht verwirft. Auch in den Gesichtern der restlichen Gartenarbeiter glaubt er, eine gewisse Ernsthaftigkeit zu erkennen. Er gibt zu verstehen, dass er mit der Arbeit fortfahren möchte – um das Problem mit Piet würde er sich ein anderes Mal kümmern.

Mit dem nahenden Feierabend lassen Holm zwei Probleme keine Ruhe: zum einen doch das Fehlen von Piet, was ihm selbst schwerer im Magen liegt als Piets Landsmännern. Zum anderen wird er nun unsicher, was das Wiedersehen mit Anni in der Pension betrifft. Soll er das Gespräch suchen oder einfach abwarten? Was wird sie ihrerseits über die vergangene Nacht denken? Und was ihn am meisten bedrückt: Wird sich der bisher so positive Umgang aufgrund ihrer nächtlichen Begegnung verändern oder gar einstellen?

Die ungewohnten Gedankengänge beunruhigen Holm zunehmend, je mehr er ihnen Raum gewährt. Als er in jungen Jahren Sigrid kennen lernte, war auch vieles kompliziert gewesen: hier die Villers, eine reiche, alteingesessene Hamburger Kaufmannsfamilie, stets geschlossen auftretend, durch und durch von den Geschäften geprägt. Dort Familie Leinstermann, brüchig miteinander verbunden, dominiert von dem alten Herrn, der durch den Weltkrieg vom einfachen Schreiber zum Offizier wurde und später eine Beamtenlaufbahn einschlagen konnte. Es gab Vorbehalte, aber zwischen ihm und Sigrid war schnell alles geklärt. Holm hatte nicht um sie werben müssen – sie hatten sich einfach gefunden. Das wechselseitige Interesse aneinander hatte ihnen die nötige Sicherheit gegeben, einen gemeinsamen Lebensweg einzuschlagen – zunächst.

Instinktiv schüttelt Holm den Kopf: Was mit Sigrid war und jetzt mit Anni ist, sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe! Dennoch wünscht er sich, dass die nächtliche Begegnung nicht nur ein Produkt des bloßen Zufalls ist. Schicksal und Vorsehung sind zwar keine Themen, mit denen er sich gerne beschäftigt. Auch den Hut des Glaubens, den seine Mutter im Kreis der Familie demonstrativ zu tragen pflegt, mag er nicht aufsetzten. Dennoch hat Holm sich einen Funken kindlichen Vertrauens in gute Wendungen des Lebens stets erhalten. Verdient hatte er sie nicht, davon ist er überzeugt.

Anstatt sich durch den heftigen Regenschauer auf den Weg zur Pension zu machen, geht Holm auf einen Abstecher ins Torgebäude, wo er Ilsemann im Gespräch mit Anni antrifft. Die beiden sehen im Büro einen Stapel von Papieren durch. Der alte Graf Schwerin kommt eben hinzu, leistet einige Unterschriften und verabschiedet sich umgehend wieder.

Man sieht ihm sein Alter und seinen schlechten Gesundheitszustand an, denkt Holm.

Viele der deutschen Herren, die in Doorn Dienst tun, haben ihre besten Jahre hinter sich. Wenn er es nicht besser wüsste, könnte er auf den Gedanken kommen, die Zeit wäre hier stehen geblieben.

Bis Anni und Ilsemann ihre Dokumente bearbeitet haben, sieht Holm hinaus auf die Lichter der Straßenlaternen, die Mühe haben, mit ihrem Schein die verregnete Dunkelheit zu erhellen.

Es wird Zeit für den Frühling, denkt er.

Der Winter war lang genug, und die häufigen Regenfälle sind keine gute Nahrung für das Gemüt.

»Herr Leinstermann, wie geht es Ihrem Arm?«, erkundigt sich Sigurd von Ilsemann, nachdem er alle Unterlagen gesichtet hat.

»Ich denke, die Sache ist glimpflich abgelaufen und der Doktor befreit mich bald von diesem Ding.«

Holm klopft auf den Gips und denkt: Seinen Zweck hat er bereits erfüllt.

»Das freut mich zu hören«, erwidert der Major. Anni räumt in der Zwischenzeit Akten zusammen und bereitet sich auf den Feierabend vor. Holm entgehen ihre Blicke nicht.

»Ich fürchte, ich muss wieder Ihren Rat in Anspruch nehmen«, sagt er.

»Kein Problem, fragen Sie«, ermuntert Ilsemann.

»Es geht um Piet.«

Anni Brandt wird hellhörig.

Ilsemann atmet tief ein und aus – das Thema scheint nicht neu zu sein.

»Fräulein Brandt, würden Sie uns bitte kurz entschuldigen?«

Holm unterbricht ein wenig vorschnell: »Ich glaube, das wird nicht nötig sein.«

Er erhofft sich, dass Anni zur Klärung der ungewissen Lage beitragen kann. Vielleicht würde ein Gespräch zu dritt ihn weiterbringen, als die lückenhaften Andeutungen in der Pension es können.

Ilsemann wirkt irritiert, bleibt jedoch bei der Sache: »Gibt es Schwierigkeiten?«

»Da bin ich mir nicht sicher; eben darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.«

Anni schaut Holm fragend an und schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Hat er seinen Arbeitsplatz verlassen?«, fragt Ilsemann zielsicher nach.

Anni verdreht die Augen; Holm nickt zunächst stumm und erklärt dann: »Er war da, aber nicht gerade im besten Zustand. Gegen Mittag ist er gegangen.«

Die Reaktion überrascht ihn, denn Ilsemann ist erbost: »Da haben wir’s! Wir hätten uns seinerzeit von ihm trennen sollen, wie es besprochen war!«

Anni verzieht das Gesicht, sagt aber nichts.

»Manchmal ist Schwerin einfach zu gutmütig!«

»Hören Sie, ...«, setzt Holm an, um das Unheil zu stoppen, das er in Gang gesetzt hat.

»Nein, Herr Leinstermann, irgendwann ist die Sache nicht mehr haltbar!« Ilsemann schaut erst zu ihm, dann zu Anni Brandt. »Hat er sich bei Ihnen oder im Büro abgemeldet?« Anni und Holm schütteln beide den Kopf – wie Schüler, die nach einem Streich vom Direktor befragt werden. Es fehlt nur der Rohrstock.

Ilsemann schürzt die Lippen, das ansonsten immer freundliche Gesicht zeigt Sorgenfalten.

»Es muss etwas geschehen«, spricht er ohne Adressat in den Raum.

Schweigen.

Das hatte Holm weder vorhergesehen noch bezweckt.

Die Idee, sich mit dem Auto auf den Weg nach Amerongen zu machen, kommt von Anni Brandt. Begleiten wird sie die beiden Männer aber nicht; sie lässt sich bei der Pension absetzten, um nicht völlig durchnässt zu werden.

»Ein nettes Auto haben Sie«, sucht Holm während der Fahrt zur Ablenkung das Gespräch. Ilsemann wirkt angespannt, nachdenklich und antwortet nicht sofort.

»Hm? Nein, das ist nicht mein Wagen. Der Mercedes gehört zum Fuhrpark Seiner Majestät. Ich kann ihn für einige Tage für die Fahrten zwischen zu Hause und Huis Doorn nutzen, weil mein Fahrzeug in Reparatur ist.«

»Wie häufig sind Sie denn im Dienst beim alten Kaiser?«

»Es gibt Regelungen«, entgegnet der Flügeladjutant trocken.

Immer, tagein, tagaus, scheint die Wirklichkeit hinter den Worten zu sein. Holm hat nicht das Gefühl, dass weitere Rückfragen erwünscht sind.

Sie fahren durch Amerongen und kommen an ein niedriges, verklinkertes Haus, in dem Piets Behausung liegen muss. Am Eingang zeigt sich, dass sie auf dem richtigen Weg sind: »P. Beurtman«, steht über einem der vier Briefschlitze. Dieser ist offensichtlich in den letzten Tagen nicht geleert worden. Holm riskiert verstohlen einen Blick auf den Absender des obersten Briefes: »Rechtbank Utrecht«. Das Schreiben hat offiziellen Charakter, so viel steht fest.

Da es keine Klingel gibt und auf ihr Klopfen niemand reagiert, treten die beiden Männer durch die angelehnte Eingangstür in einen kleinen, schwach beleuchteten Flur, von dem die Wohnungstüren abgehen. Der erste Eindruck ist wenig einladend, aber allenthalben besser als der kalte Dauerregen vor der Tür. Es riecht nach feuchtem Qualm und Kohlefeuern – wenigstens ist es warm und trocken.

»Welche Tür?«, fragt Holm den Major. Sie haben sich über das Vorgehen während der Fahrt nicht abgesprochen, so dass sie recht ratlos im Flur stehen.

»Keine Ahnung.«

Holm nimmt sich ein Herz und klopft an der naheliegendsten Tür.

Keine Reaktion. Erneutes Klopfen. Wieder nichts.

Er will sich schon abwenden, als Ilsemann den Zeigefinger auf die Lippen legt. In der Tat ist auf der anderen Seite der Tür etwas – oder jemand – in Bewegung gekommen. Sie hören eine tiefe Männerstimme brummeln, ohne Worte verstehen zu können.

Wieder Stille.

Ilsemann schlägt energisch mit der Faust gegen die Tür: »Hallo?!?«

Langsam kommen Schritte auf die Tür zu, ein Schlüssel wird gedreht. Zögerlich geht die Tür einen Spalt auf. Das Erstaunen bei Piet ist unübersehbar, ebenso eine der Ursachen für sein Verhalten: Der Alkoholdunst, der Holm und Ilsemann entgegenschlägt, ist atemberaubend.

Im abendlichen Rückblick fällt es Holm schwer, die Verhältnisse in Piets Behausung angemessen zu beschreiben. Es erscheint ihm richtig und wichtig, den Holländer dort aufgesucht zu haben. Auch Ilsemann hatte seinen anfänglichen Ärger über Piets Zustand schnell vergessen und war sich bewusst geworden, dass der Holländer in ernsthaften Schwierigkeiten steckt.

Die Anzahl der geleerten Flaschen ließ nur einen einzigen Schluss zu: Piet Beurtman hat ein massives Problem mit der Trinkerei! Seine Behausung wirkte völlig verwahrlost – es grenzt an ein Wunder, dass er in den letzten Wochen einigermaßen sortiert zur Arbeit kam. Das Einzige, was fehlte, waren die Ratten zwischen dem Unrat. Was Holm überraschte, war die große Anzahl an Büchern, die überall im Raum herumlagen. Wären die Umstände nicht so trostlos, hätte man den Eindruck gewinnen können, der Holländer wäre im Begriff, eine Leihbücherei zu eröffnen.

Ein Gespräch war nicht möglich gewesen, da Piet an diesem Nachmittag dem Drang zum Trinken in aller Gründlichkeit nachgegeben hatte. Er wirkte verzweifelt, aber auch seltsam teilnahmslos. So hatten sich Ilsemann und Holm entschlossen, diesen trostlosen Ort zu verlassen und in den nächsten Tagen eine Klärung zu suchen.

An der Wortwahl des Flügeladjutanten meinte Holm zu erkennen, es wäre nicht die erste Begebenheit dieser Art.

Wunderbar, denkt Holm, als er sein Tagebuch zuschlägt.

Erst ein paar Wochen hier, und schon stecke ich wieder mitten im Schlamassel!

Mit Trinkern hatte er auch bei Hesse in Weener zu tun gehabt, das war für ihn nicht neu. Dass er selbst ein Teil des Problems sein könnte, gibt ihm jedoch zu denken.

Die abendliche Begegnung mit Anni war wesentlich entspannter, als Holm es zwischenzeitlich befürchtet hatte. Weder er noch sie sahen die Notwendigkeit, sich zu verstellen oder im Hinblick auf ihre gemeinsam verbrachte Nacht Klarheit schaffen zu müssen. Ob das gut oder schlecht ist, etwas zu bedeuten hat oder in Zukunft haben wird, ist ihm an diesem Abend weniger wichtig als das Problem des Umganges mit Piet.

Als er später langsam einschläft, gehen Holm viele Fragen durch den Kopf, jedoch auch die Erinnerung an den furchteinflößenden Traum der letzten Nacht. Er sucht Ruhe und findet sie dankbar.

Leinstermann in Doorn

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