Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 17
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Der kaiserliche Zusammenstoß, den Vater und Sohn am gleichen Abend hatten, bestimmt die Themen des folgenden Tages. Ilsemann hat als Seelsorger alle Hände voll zu tun; Briefe und Vermerke werden geschrieben, Notizen zum Gegenlesen weitergereicht und Pläne geschmiedet. Alldem wäre Holm gerne entgangen – insbesondere, hätte er von der komplexen Familiengeschichte der ehemaligen Herrscher gewusst.
Doch zunächst ist der Abend sehr lehrreich, im wörtlichen Sinne. In Piet hat Holm einen geduldigen, aber strengen Lehrmeister, der es sich nicht nehmen lässt, seinen Schüler in die korrekte Aussprache des Niederländischen einzuführen. Immer und immer wieder korrigiert er das Falsche, ohne zu tadeln, lobt die kleinsten Fortschritte, wo immer sie erkennbar sind. Für Holm ist die Situation ungewohnt, waren die Gespräche mit Anni Brandt in der Pension doch von einer ganz anderen Atmosphäre geprägt. Auch ist es ihm in den letzten Jahren fremd geworden, sich unterweisen zu lassen. In seiner Arbeit war er stets Einzelkämpfer oder Vorgesetzter, so dass Piets Kritik ungewohnt für ihn ist.
Als es spät wird, entschließen sich beide, den Unterricht zu beenden. Da das Rauchen im Dienstgebäude aus Brandschutzgründen verboten worden ist, begleitet Holm seinen Lehrer nach unten in den Park.
»Wollen Sie?«, fragt der Holländer, nachdem er eine Zigarette aus seinem Etui gezogen hat.
Holm zögert: »Wegen Ihnen werde ich noch zum Kettenraucher«, entgegnet er, greift dann aber zu.
Piet reicht Feuer und meint beiläufig: »Es gibt Schlimmeres.«
Sie stehen eine Weile in der klaren, angenehm milden Frühlingsnacht vor der Orangerie, als sich eine Person mit schnellem Schritt aus Richtung Haupthaus nähert, ein Mann. Holm und Piet sind irritiert, zu dieser späten Stunde noch jemanden im Park anzutreffen. Umso mehr wundern sie sich, als die Person sie erkennt und direkt auf sie zusteuert:
Es ist Ilsemann.
»Guten Abend, Herr Major«, grüßen beide im Chor, als der Flügeladjutant des alten Kaisers näher kommt – die Erwiderung des Grußes bleibt jedoch aus. Im schwachen Schein des Außenlichts erkennen beide den Grund: Ilsemann zeigt ein sehr ernstes, aufgebrachtes Gesicht. Sein Atem geht schnell und schwer, seine Lippen kräuseln sich vor Missmut.
Niemand spricht, bis Piet sich nicht besser zu helfen weiß, als dem Major ebenfalls eine Zigarette anzubieten. Ilsemann schaut zunächst ungläubig, fast abschätzig darauf, nimmt sie dann jedoch widerwillig und raucht ein paar tiefe Züge.
Holm weiß, dass es ihm nicht zusteht, nach Details zu fragen. Er hatte in den vergangenen Monaten gelernt, dass die Abende im Haupthaus nicht immer einfach für die Anwesenden waren. Sei es, weil der alte Kaiser in Monologe verfiel, die die Zuhörer mit einer bleiernen Müdigkeit erfüllten; oder weil, im Gegenteil, die Sichtweisen derart kontrovers diskutiert wurden, dass der Abend nur unversöhnlich enden konnte. Letzteres scheint, Ilsemanns Zustand nach zu urteilen, heute Abend der Fall zu sein. Der Flügeladjutant wirkt extrem angespannt und reibt sich immer wieder nervös mit der Hand über Mund und Kinn.
»So kann das nicht weitergehen«, murmelt er kaum verständlich zwischen zwei Zügen an der fast aufgerauchten Zigarette. Gereizt wirft er den Stummel zu Boden, dem er zuvor das letzte bisschen Rauch ausgesogen hat. Die Art und Weise, wie er ihn mit dem Absatz austritt, lässt über seine innere Anspannung keine zwei Meinungen zu.
»Nehmen Sie noch eine?«, fragt Piet vorsichtig nach.
Ilsemann bekommt sich wieder ein Stück weit in den Griff und entgegnet: »Nein, die Raucherei macht es auch nicht besser!«
Holm fasst sich ein Herz: »Was ist denn los mit Ihnen? So aufgebracht habe ich Sie noch nie erlebt.«
»Ach«, winkt Ilsemann ab, »das alles geht schon seit ewigen Zeiten so. Ich hab es einfach satt und möchte auch nicht darüber sprechen!«
Die letzten Worte klingen so wenig überzeugend, dass Holm nicht locker lässt:
»Müssen Sie auch nicht, dürfen Sie aber.«
»Soll manchmal helfen«, ergänzt Piet und zwinkert Holm zu.
Ilsemann schüttelt den Kopf und wehrt ab: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten und Sie auch nicht in Verlegenheit bringen; aber was den Umgang der Majestäten untereinander betrifft, werden Sie mir kaum eine Hilfe sein können! Ich verstehe selbst manchmal nicht, wer welche Motivation hat was zu wem zu sagen, und so weiter und so fort. Grässlich, sage ich Ihnen!«
»Ist das denn so wichtig?«, fragt Holm nach und trifft unfreiwillig einen wunden Punkt.
»Natürlich ist es wichtig! Es ist meine Aufgabe, dem Kaiser zur Seite zu stehen und ihn vor Schaden zu bewahren. Es ist meine verdammte Pflicht, die ich seit Jahr und Tag treu erfülle!«
Dann wechselt plötzlich seine Stimmung, wie Holm und Piet es bisher nie bei dem Flügeladjutanten erlebt haben:
»Andererseits: Sie haben recht! Es ist so viel gesagt, diskutiert und geschrieben worden – die Sache heute Abend spielt da vielleicht wirklich keine große Rolle mehr.«
Piet klopft dem Major freundschaftlich auf die Schulter.
»Vermutlich wird da oben im Raucherzimmer mehr gesprochen, als Wasser den Rhein hinunter zum Meer fließt.«
Ilsemann muss schmunzeln, reibt sich nachdenklich die Hände und klatscht dann einmal, als wenn er ein Signal zum Aufbruch geben würde.
»Auch wenn Sie nie dort gewesen sind: Es stimmt! Es ist ein Ozean aus Worten, und das meiste ist eh vergangen.«
Piet zwinkert ihm zu: »Ein kluger Mann hat einmal zu mir gesagt, dass man das Vergangene nicht ändern kann – nur die Zukunft.«
Die drei Männer stehen eine Weile wortlos beieinander und betrachten den Sternenhimmel.
»Herr Leinstermann, ich bin Ihnen noch die Mitteilung schuldig, dass sich das Problem in der Pension noch am gleichen Tag völlig zufriedenstellend geklärt hat.«
Holm ist nicht sofort im Bilde, doch Piet kommt ihm ohnehin zuvor.
»Sie können offen sprechen, Herr Major. In dieser Sache gibt es für mich nichts mehr zu verlieren, wie Sie wissen.«
Ilsemann nickt. »In Ordnung. Ihre ... Frau war wohl tatsächlich erkrankt, nur war diese Nachricht noch nicht bei Frau Scheepers angekommen. Fräulein Brandt und Frau Scheepers haben sie dann zu Hause angetroffen. Somit wären die Ereignisse dieses Tages aufgeklärt.«
Piet kratzt sich am Kopf und legt die Stirn in Falten. »Es ist mir ausgesprochen unangenehm, dass Sie wegen mir in der Vergangenheit solche Probleme hatten.«
Ilsemann sieht Holm an, wie um sich dessen Zustimmung zu versichern, und entgegnet dann: »Vergangenheit, das trifft es! Seitdem ist schon viel Wasser den Rhein hinunter zum Meer geflossen, hat mal ein sehr kluger Mann zu mir gesagt.«
In dem Wissen, dass das Erreichte erst ein kurzfristiger Fortschritt ist, genießen die Männer die Ruhe unter den Sternen. Doch dem Flügeladjutanten fällt es schwer, die Ereignisse des Abends ruhen zu lassen:
»Was jenseits der Grenze vor sich geht, wird kein gutes Ende mehr nehmen. Aber viele Menschen sind nicht einverstanden mit dem, was die Nazis vorantreiben.«
Piet schüttelt den Kopf und schnaubt verächtlich: »Tatsächlich? Das kann ich nicht glauben.«
Ilsemanns Stimme bleibt ruhig. »Ich habe in Deutschland kaum jemanden gesprochen, der hinter Hitlers Machenschaften steht. Niemand will den Krieg!«
»Dafür ist es wohl zu spät«, wirft Holm ein. »Wie steht der alte Kaiser eigentlich zu der Sache?«
Ilsemann beißt sich auf die Unterlippe und dreht das Gesicht etwas zur Seite, als er antwortet:
»Herr Leinstermann, Sie sind erst ein paar Monate hier. Sie können noch keine Vorstellung davon haben, wer hier welche Haltungen einnimmt, was die Entwicklungen in Deutschland betrifft.«
Aus den Augenwinkeln bemerkt Holm, wie Piet sich angewidert abwendet.
»Sie müssen verstehen«, fährt der Flügeladjutant fort, »dass hier alles und jeder dem Kaiser und seinem Haus dient. Nur das ist entscheidend! Alle Fragen, die die Politik im Reich betreffen, können in Doorn nur unter dem Gesichtspunkt beantwortet werden, ob es dem Wohle des Kaisers, seines Hauses und seiner Familie zuträglich ist – oder eben nicht.«
Holm kann seine Zweifel nicht verbergen:
»Das kann ich grundsätzlich nachvollziehen. Aber was bedeutet das noch, wenn die Politik gänzlich ohne den alten Kaiser stattfindet?«
»Es ist und war ist die Aufgabe, eben das zu kommunizieren«, erklärt der Flügeladjutant. »Manchmal so, dass Seine Majestät sich keinen trügerischen Hoffnungen hingibt. Ein anderes Mal so, dass das Hoffen auf Veränderungen den Kaiser am Leben hält.«
Plötzlich wird Piet aktiv: »Das ist alles bloß Träumerei! Besser wäre es, der Kaiser würde endgültig ein Holländer und würde den Rest vergessen – für die paar Jahre, die ihm bleiben. Dass er zurückgeholt wird, das wird nie passieren, nie! Warum sollten die Nazis das auch tun?«
Zurückgeholt nicht, erinnert sich Holm an das Gespräch mit Breddenburg, aber vielleicht zurückgebracht? Bring the Kaiser home.
Ilsemann scheint Piets Einstellung bereits zu kennen und reagiert wenig überrascht: »Sie sind lange genug bei uns, um die Standpunkte zu kennen, Piet. Und, weiß Gott, es wird wahrscheinlich nie eine einfache Lösung geben – egal, welche Wendungen das Schicksal noch bereit hält. Gerade zurzeit ist alles unsicher.«
Bei dem Gedanken an eine mögliche Variante der Zukunft in Doorn läuft Holm ein kurzer, kalter Schauer den Rücken herunter.
»Denken Sie«, spricht er den Flügeladjutanten an, »dass ein Angriff auf die Niederlande bevorsteht?«
Ilsemann schweigt einen Augenblick und sucht nach einer passenden Antwort.
»Ich halte das aktuell für Unsinn, aber meine persönliche Meinung ist unerheblich«, versucht er auszuweichen. »Man kann die Zeichen der Zeit lesen, wie man will.«
Das beruhigt Holm keineswegs.
Piet teilt die Ansicht des Majors nicht:
»Wenn es nach Westen geht, steht die Wehrmacht auf kurz oder lang auch an unserer Grenze«, stellt er fest. »Denken Sie wirklich, dass Hitler vor dieser Grenze mehr Respekt hat als vor anderen?«
Die Frage wiegt schwer, wie der italienische Einmarsch in Albanien jüngst gezeigt hat. Das Friedensangebot der Amerikaner an Hitler und Mussolini würde die beiden Führer nicht darin hindern, Europas Landkarten einmal kräftig durchzurütteln und zu ihren Gunsten zu verändern. Holm schüttelt den Kopf, doch ehe er etwas beitragen kann, fährt Piet bereits fort:
»Was sich da bei Ihren Landsleuten entwickelt, wird das schlimmste Krebsgeschwür, das Europa je gesehen hat! Diese Krankheit kann nichts heilen – sie stirbt erst, wenn auch der Körper stirbt, den sie zerfrisst.«
Ilsemann schluckt eine schnelle, abwehrende Entgegnung herunter.
»Es ist nicht so, dass der Krebs nur nach außen drängt, wenn Sie es denn so nennen wollen«, nimmt Ilsemann das Bild des Holländers nach einer Weile auf.
»Freiheit gibt es im Land schon lange nicht mehr, und das nicht nur für die Juden und Kommunisten. Versuchen Sie doch, mit einem Sozialdemokraten, einem Gebildeten, einem Kritiker offen zu sprechen: Sie werden nicht mehr viele finden – und die wenigen werden den Mund nicht mehr aufmachen.«
Die Miene des Flügeladjutanten verfinstert sich zusehends. »Alles, was mit den Adelshäusern zu tun hat, speziell dem kaiserlichen Haus, wird aus der Öffentlichkeit verbannt. Sie werden in Berlin keine Fotografie vom Kaiser mehr kaufen können, zumindest nicht an öffentlichen Plätzen.«
Holm wird nachdenklich. Die Erinnerungen an die Entwicklungen der letzten Jahre steigen in ihm auf. Es war ihm lange gelungen, sie beiseitezuschieben, doch gegenüber der Eindrücklichkeit, in der Ilsemann die Lage in Deutschland schildert, ist er machtlos.
Piet macht eine wegwerfende Handbewegung. »Was Fotografien vom Kaiser betrifft: Dieser Verlust scheint mir zu verschmerzen! Und ich denke, ohne anmaßend sein zu wollen, auch die kaiserliche Familie wird irgendwie über die Runden kommen.«
Der Holländer selbst spürt, dass er bitterer wird, als er es gegenüber seinen Lebensrettern möchte. »Das alles sind keine Fragen, deren Lösungen über Leben und Tod entscheiden«, sagt er ruhiger.
Holm fühlt sich in das Gespräch mit Annegret und Jan zurückversetzt, während Sigurd von Ilsemann seinen Standpunkt verteidigt: »Das Verschwinden der Bilder ist vielleicht nur ein Zeichen. Aber was ist mit den Menschen, die mit Treue ihre Pflicht gegenüber dem Kaiser erfüllen? Zählen Werte wie Ehre und Treue ...«
Piet unterbricht ihn mit großen Augen: »Werte? Was ist denn Treue wert, wenn sie eigentlich dem Vaterland gilt, aber letztlich den Nazis nutzt? Und wenn Sie und die anderen deutschen Herren irgendwann aus Pflicht in den Krieg ziehen, wem nutzt es? Für wen hat es einen Wert?«
Holm spürt, wie ihn die aufkommenden Fragen links und rechts am Kopf vorbeifliegen, ohne dass er eine von ihnen greifen könnte.
Pflicht, Verantwortlichkeit, Eide, Treue – war Simon Vestdijk in »Else Böhler« deutschen Wurzeln auf die Spur gekommen, die nun eine stachelige, wild ausufernde Würgepflanze ernährten?
Etwas in ihm wehrt sich gegen die Vorstellung, dass es alleine der günstige Nährboden ist, der den Erfolg der Nazis bei den Deutschen begründet. Dennoch muss er zugeben, vor allem mit Blick auf seinen Vater und seinen Bruder Walter, dass ein Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen ist. Wenn der Nationalsozialismus in Deutschland auf so fruchtbaren Boden fällt, worin liegen dann die Unterschiede zu den Niederlanden, wo die NSB vorläufig nur eine Randerscheinung darzustellen scheint?
Ilsemann reißt ihn aus der Nachdenklichkeit, als er Piet antwortet, viel lauter als zuvor.
»Wenn Treue und Pflichtgefühl gegenüber dem Kaiser, dem Vaterland oder von mir aus einem Gott nichts mehr wert sind, was zählt dann noch?«, hallt es in die Nacht.
Piet schüttelt den Kopf und entgegnet ruhig: »Ich verstehe, was Sie meinen, Major. Aber denken Sie nicht, dass ein Mensch sich auch an anderen Dingen orientieren kann?«
»Zum Beispiel?«
Piet schmunzelt, begleitet er sein Gegenüber doch seit Jahren und hat in so manchem Wortgefecht die Positionen des Majors nur zu gut kennengelernt. Er wähnt sich auf sicherem Terrain.
»Wie wäre es mit Freiheit? Mit Frieden? Menschlichkeit?« Er setzt eine bewusste Pause, um dann zwinkernd hinzuzufügen: »Mit Liebe?«
Holm staunt mit großen Augen: War ihm in den ersten Monaten seines Aufenthaltes etwas Wesentliches entgangen? Oder hatte Piet seit dem Versuch, sich im Fluss zu ertränken, eine bisher unbekannte Seite an sich entdeckt? Piets Umgang mit der gefallenen Prinzessin hatte bereits gezeigt, dass der Holländer offenbar ein vielseitiger Charakter ist.
»Glauben Sie, dass diese Welt nur im Ansatz funktionieren würde, wenn diese träumerischen Gefühle die Säulen unseres Zusammenlebens wären?« Ilsemann wirkt belustigt, aber nicht abschätzig.
»Warum nicht?«, entgegnet Piet.
Die Männer schweigen eine Weile, bis Ilsemann die Frage an Holm weitergibt: »Was denken Sie, Herr Leinstermann?«
Erwartungsvoll schauen ihn der holländische Gärtner und der Flügeladjutant des alten Kaisers an.
»Was ich denke?«
Er versucht, etwas Zeit zu gewinnen, um das Wollknäuel der wirren Gedanken und Fragen zu sortieren.
»Ich meine, vom Nationalsozialismus geht großes Unheil aus, und zwar für alles andere, was ihn umgibt. Nennen Sie es von mir aus ein Krebsgeschwür. Ich sehe es eher als eine extrem aggressive Pflanzenart, die sich in alle Richtungen ausbreitet und den ursprünglichen Bewuchs erstickt.«
»Und sehen Sie eine Möglichkeit, die Ausbreitung einzudämmen?«, fragt Ilsemann nach.
»Ich fürchte, es geht nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern. Was den Vergleich zur Pflanzenwelt betrifft, hätten die Eingriffe viel früher erfolgen müssen.«
Piet nickt, sagt aber nichts.
»Eine Koexistenz mit dieser aggressiven Art halten Sie für ausgeschlossen?« Der Major wirkt zunehmend ernster; das Thema scheint ihn zu beschäftigen.
Holm erkennt das Interesse des Anderen, doch es ist Piet, der zuerst eine Antwort gibt:
»Wie wollen Sie sichergehen, dass die aggressive Spezies sich nicht doch irgendwann weiter ausbreiten will? Entgegen allen bisherigen Beobachtungen? Entgegen seiner Art, wie sie bisher sichtbar war? Nein, beim besten Willen: Darauf würde ich nicht setzen.«
»Damit wären wir dann wieder in der Wirklichkeit angekommen«, sagt Ilsemann resigniert. »Wie ich heute erfahren habe, plant die niederländische Regierung die Mobilmachung.«
»Welche Aussicht auf Erfolg wird das haben?«, fragt Holm, um in Gedanken hinzuzufügen:
Und was ist Erfolg im Krieg? Zu siegen? Möglichst geringe Verluste zu haben? Dem eigenen Land weiteres Territorium hinzuzufügen?
Piet antwortet mit ernstem Blick, die rechte Hand zur Faust erhoben: »Gar keinen Erfolg wird das haben. Tausende Menschen werden sterben! Abertausende, für nichts und wieder nichts! Was soll ein kleines Land wie unseres gegen die deutschen Truppen ausrichten?«
Seine Miene verfinstert sich. »Wer wird uns den Rücken stärken? Die Engländer? Die Franzosen? Pah! Großes Sprüche sind das, sonst nichts! Die haben doch jetzt schon die Hosen voll, dass die Wehrmacht demnächst bei ihnen an die Tür klopfen könnte. Ein paar Tage würde es dauern, länger nicht.«
Holm blickt den Holländer erstaunt an. »Sie meinen, Ihr Land sollte nicht kämpfen?«
Piet stutzt, schürzt die Lippen und entgegnet trotzig: »Doch! Aber vielleicht auf andere Art und Weise.«
Ilsemann hat genug von diesem Thema und reibt sich den Nasenrücken. »Wissen Sie was, ich bin müde und habe einen fürchterlichen Abend hinter mir! Für heute Nacht wollen wir die Hoffnung haben, dass alles an uns vorbeigeht.«
Piet tritt unruhig mit den Füßen im Kies herum, sagt aber nichts mehr.
Holm ist einfach froh, die belastenden Gesprächsthemen für den Moment los zu sein. Stillschweigend einigen sich die Männer darauf, den Vorschlag des Majors anzunehmen – wenn auch in dem Wissen, dass diese Nacht der Hoffnung sehr kurz sein könnte.
*
»Der Haussegen hängt seit gestern Abend so schief, dass jedes Lot den Dienst verweigern würde«, sagt Anni Brandt beiläufig, während sie kurz vor Mittag Holms Rechnungen entgegennimmt.
»Was heute Morgen bereits an Gesprächen stattgefunden hat, kann ich an einer Hand nicht mehr abzählen. Die Kurzfassung ist: Der Kronprinz und seine Gemahlin sind außer sich, weil Seine Majestät es ablehnt, sich besser mit den Nazis zu stellen. Von der Kaisergemahlin sprechen wir besser gar nicht erst.«
Sie zeichnet einige der Papiere ab, schließt die Mappe und wirft sie schwungvoll in einen Ablagekorb.
»Aber weißt Du was? Für heute ist mir das völlig egal. Heute Nachmittag habe ich frei!« Sie lächelt mit gekünstelter Schadenfreude – auch, um Holms Interesse zu wecken. Der springt jedoch nicht an und entgegnet bewusst kühl:
»Das freut mich für Dich. Einen schönen Tag!«
»Möchtest Du gar nicht wissen, was ich vorhabe?«
Holm schüttelt zwinkernd den Kopf. »Es steht mir nicht zu, Dich nach derart privaten Angelegenheiten zu fragen.«
Sie schaut über die Schulter, um sicherzugehen, dass die Tür zu Schwerins Büro geschlossen ist. Vorgebeugt flüstert sie:
»Ich will es nochmal versuchen. Einmal noch! Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch glücklich. Wenn wieder nichts daraus wird, ist es eben mein Schicksal.«
Holm lächelt und legt seine Hand auf ihre. »Ich wünsche Dir viel Glück«, flüstert er zurück. Dabei beschleicht ihn das altbekannte Gefühl, nicht ganz ehrlich sein zu können.
Annis leises »Danke, Du bist ein Schatz« fühlt sich wie ein Abschied an.
Langsam trottet Holm zurück zu seiner Arbeit.
Was mache ich nur falsch, was andere richtig machen?