Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 15
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Den nächsten Vormittag verbringen die Gärtner mit Pflanzarbeiten auf dem gesamten Gelände. Was im Laufe der Jahre an Holz geschlagen wurde, lässt sich zwar nicht gänzlich ersetzen; aber es ist ein Anfang. Da der heutige Tag zugleich trocken ist und leichter Wind aufgekommen ist, nutzt das Hauspersonal die Gelegenheit für einen ausgiebigen Frühjahrsputz. So wird Holm Zeuge eines besonderen Ereignisses am Hauptweg. Die großen, schweren Teppiche aus dem Haupthaus werden mit der Hilfe zahlreicher Hände auf die Metallstangen zwischen den majestätischen Buchen gezogen. Dann werden sie gründlich ausgeklopft, so dass sich wahre Staubwolken bilden. Obwohl er Teppichklopfen nie für eine außergewöhnliche Tätigkeit gehalten hat, bemerkt Holm doch die Festtagsstimmung bei den Beteiligten. Männer und Frauen, Deutsche und Holländer – alle haben an dem Fest Anteil.
Diese positive Haltung hat sich auch unter den Bewohnern des Haupthauses ausgebreitet. Der alte Kaiser, der sich das Teppich-Spektakel nicht entgehen lässt, wirkt heute außergewöhnlich freundlich und offenherzig.
Wenig später erkennt Holm einen möglichen Grund: Sigurd von Ilsemann ist nach einigen Wochen Aufenthalt aus Deutschland zurückgekehrt. Er wird von allen herzlich gegrüßt und mit großer Wertschätzung willkommen geheißen. Seit seiner Ankunft in Doorn ist Holm immer wieder aufgefallen, welch hohes Ansehen der Flügeladjutant des alten Kaisers genießt, und das durch alle Positionen und Stände. Nur die zweite Frau des alten Kaisers scheint gegenüber Ilsemann voreingenommen. Soweit es Holm beurteilen kann, beruht diese Skepsis weitgehend auf Gegenseitigkeit.
Die Eifersucht zweier Menschen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise die gleiche Person verehren, ist sein Resümee.
Als die Hausglocke zu Mittag läutet und sich der Großteil des Personals zum Essen im Dienstgebäude aufmacht, kommt Anni Brandt ebenfalls aus dem Torgebäude, jedoch in ungewohnt hohem Tempo. Aus dem Haupthaus naht Ilsemann; Holm steht in der Mitte zwischen beiden.
»Herr Leinstermann, schön Sie wiederzusehen«, ruft der Flügeladjutant aus einiger Entfernung.
»Herr Leinstermann, Herr Leinstermann!«, hört er Anni Brandt aus der anderen Richtung rufen. Die förmliche Anrede, die sie im Beisein Dritter benutzt, erscheint ihm mittlerweile fremd.
Als sie alle drei aufeinandertreffen, schaut Holm beide fragend an.
Anni macht den Anfang: »Herr Leinstermann, bitte kommen Sie schnell ins Büro.« Sie ist außer Atem von ihrem Lauf.
»Jetzt!«, fügt sie hastig hinzu.
»Was ist passiert?«, erkundigt sich Ilsemann.
»Nicht hier«, unterbricht Holm mit Blick auf die anderen Personen, die sich auf dem Weg zum Dienstgebäude noch in der Nähe befinden.
Es ist mehr als eine böse Vorahnung, die ihn beschleicht.
Als sie zu dritt ins Büro im Torgebäude kommen, bestätigen sich Holms Befürchtungen.
»Frau Scheepers«, begrüßt Ilsemann als Erster die sichtlich aufgebrachte Frau. Statt seinen Gruß zu erwidern, macht sie ihrem Ärger sofort Luft.
»Herr von Ilsemann, das muss jetzt aufhören!«
Der Major muss sich kurz sortieren, um die Zusammenhänge herzustellen.
»Beruhigen Sie sich bitte. Was muss aufhören?«, fragt er, obwohl auch er ahnt, was der Anlass für den Besuch ist.
Frau Scheepers schaut sowohl Ilsemann als auch Holm vorwurfsvoll an.
»Gesa ist heute nicht zur Arbeit gekommen. Ich weiß, sie hat sich gestern Abend wieder mit Piet getroffen. Wann werden Sie dem endlich ein Ende setzen?«
»Frau Scheepers, beruhigen Sie sich bitte«, will Ilsemann erneut beschwichtigen.
Doch die Frau denkt nicht daran.
»Nein, hören Sie mir zu! Es ist jedes Mal das Gleiche: Er fühlt sich besser und denkt, er hat alles im Griff. Er versucht, Gott und die Welt zu überzeugen, dass er es diesmal schafft. Und letztendlich macht er Gesa wieder verrückt, aber es ändert sich nichts! Im Gegenteil: Es macht alles nur noch schlimmer! Also: Wo steckt Piet?«
Ilsemann und Anni blicken Holm fragend an, doch der schüttelt nur den Kopf. Er könnte sich ohrfeigen, dass er gestern seine Bedenken zurückgestellt hatte! In seinen Gedanken sieht er den Major über den ersten Tag im Dienst fluchen. Dieses Mal wird es Piet erwischen, da ist sich Holm sicher.
Nur: Was ist mit Gesa?
*
Als sie erneut den Flur zu Piets Wohnung in Amerongen betreten, ist das Haus verkommen und verunreinigt wie bei ihrem ersten Besuch. Zielstrebig und mit reichlich ärgerlichem Gemüt tritt Ilsemann an die Tür und klopft heftig – keine Reaktion. Kurz scheint der Major versucht, die Tür einfach einzutreten, als sich knarrend eine Tür auf der anderen Seite des Flures öffnet. Heraus schaut ein zerfurchtes, vom Alkohol gezeichnetes Gesicht, begleitet von einem bestialischen Gestank. Die Kleidung des Mannes ist völlig verdreckt und scheint mit Erbrochenem besudelt. Holm muss stark an sich halten, um den Würgreiz zu unterdrücken.
Ilsemann gelingt es trotz des Ekels, Piets Nachbarn in einem kurzen Gespräch zu befragen. Holm versteht nur Brocken, kann aber heraushören, dass Piet gestern nicht in seine Behausung zurückgekehrt ist. Der Mann ist sich sicher, da ihm niemand geöffnet hatte, als er bei Piet Zigaretten schnorren wollte.
Ilsemann versucht hartnäckig, etwas über Piets Verbleib heraus zu bekommen. Aus der Antwort hört Holm das Wort Dijk heraus.
Als sie aus dem Unglückshaus hinaus an die frische Luft treten, müssen sie kräftig durchatmen. »Was für eine trostlose Baracke«, findet der Flügeladjutant zuerst seine Sprache wieder.
»Der Gestank war wirklich unerträglich«, hechelt Holm nach Luft. Dann: »Was tun wir jetzt?«
Ilsemann putzt sich die Nase, in der Hoffnung, die ekelerregenden Gerüche damit vertreiben zu können. »Ich denke, ich weiß, wo wir suchen müssen.«
Zielstrebig eilt er zum Auto; Holm, überrascht von der Entschlossenheit des anderen, versucht, Schritt zu halten.
Als sie schon eingestiegen sind und Ilsemann den Motor starten will, fragt Holm nach. »Mögen Sie mich in Kenntnis setzen, wohin die Reise geht?«
Ilsemann überlegt, zuckt mit den Schultern und sagt:
»Wir gehen doch besser zu Fuß. Vielleicht kann ich Ihnen unterwegs einige Ihrer Fragen beantworten. Außerdem brauche ich dringend frische Luft. Unmengen davon!«
*
Der Fußmarsch zum Nederrijn gleicht eher einem geruhsamen Spaziergang. Keinen der beiden Männer zieht es zu einer neuerlichen Begegnung mit dem betrunkenen Piet, so dass sie in gemächlichem Tempo gehen. Ilsemann ist zuversichtlich, den Holländer an einer Stelle am Deich anzutreffen, die am Ortsrand von Amerongen liegt.
»Piet und seine Frau stammen ursprünglich aus Amerongen. Der Platz muss den beiden etwas bedeuten, denn dorthin zieht er sich manchmal zurück«, erklärt Ilsemann.
»Sie kennen die Stelle?«
»Ja, sie liegt nicht weit von meinem Zuhause. Wir haben oft mit unseren drei Jungs Spaziergänge in die gleiche Richtung gemacht.«
Es ist das erste Mal, dass er von seiner Familie spricht, bemerkt Holm.
Ilsemann kommt ins Erzählen: »Im ersten Jahr, als die kaiserlichen Majestäten noch in Amerongen bei meinem Schwiegervater untergekommen waren, war der Deich an einigen Stellen durch einen bedrohlich ansteigenden Pegelstand gefährdet. Es hatte unentwegt geregnet, alles war aufgeweicht. Dann haben wir alle zusammen nach Kräften den Deich verstärkt. Wir waren völlig durchnässt – aber glücklich.«
Er erzählt von der Zeit, als er und Elisabeth, die Tochter des Hauses, oft am Deich spazieren gingen und wie sie in den folgenden Jahren, als ihre drei Söhne langsam heranwuchsen, als glückliche Familie den Fluss entlangliefen.
Als die beiden Männer schließlich den Deich zu der fraglichen Stelle erklimmen, bleibt Ilsemann unvermittelt stehen und sieht Holm an.
»Herr Leinstermann, was werden wir tun, wenn wir Piet hier finden?«
Holm hat keine passende Antwort und entgegnet: »Ich dachte, Sie hätten vielleicht einen Plan?«
Ilsemann zuckt mit den Schultern. »Noch nicht.«
Sie erreichen die Kuppe, so dass der Deich Stück für Stück den Blick auf das Vorland und den Rhein freigibt. Dort, wo der befestigte Weg endet und ein Trampelpfad beginnt, steht das Motor-Dreirad mit dem Sperrholzkasten darauf im auflebenden Grün. Am Ende des Pfades im Deichvorland, am Rand einer kleinen Baumgruppe, sitzt jemand im Gras.
Ilsemann und Holm sehen sich an. Die Szene am langsam dahintreibenden Fluss hat etwas Friedvolles, Bedächtiges an sich. Für einen Moment scheinen beide dem Impuls folgen zu wollen, den Mann in Ruhe zu lassen und das Problem auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Doch sie wissen, dass diese Strategie bereits beim letzten Mal fehlgeschlagen ist.
Würde Holm die ungeäußerten Gedanken des Majors kennen, wäre ihm längst klar, dass Ilsemann und Graf Schwerin sich bereits mehrmals für die falsche Taktik entschieden hatten. Spätestens dann wüsste er, dass an seinen Dienst in Doorn Hoffnungen geknüpft sind, die über rein fachliche Kenntnisse weit hinausgehen. Die eigentliche Aufgabe wartet dort hinten unter den Bäumen. Das Empfehlungsschreiben von Otto Luyken hatte vor allem an diesem Punkt die Türen geöffnet.
Als sie näherkommen, lässt Piet die Szenerie auf sich wirken, ohne groß von den Ankömmlingen Notiz zu nehmen.
Ilsemann und Holm sind bis auf wenige Schritte heran, als Piet sie anspricht, immer noch dem Fluss zugewandt.
»So schnell waren Sie ja noch nie, Herr Major.«
Holm schaut seinen Mitstreiter fragend an, der nur mit den Schultern zuckt. Wortlos setzt sich der Flügeladjutant zu Piet ins Gras, ohne auf seine hellen Hosen zu achten. Holm folgt mangels Alternativen seinem Beispiel.
Die drei scheinbar ungleichen Männer sitzen da, schweigen und folgen mit ihren Blicken dem Strom. Piet beginnt, umständlich in seiner Jackentasche zu kramen, während Holms Blick auf das Bündel fällt, das neben dem verlorenen Sohn im Gras liegt. Offenbar hatte Piet nicht nur die letzten Stunden hier verbracht, sondern die ganze Nacht.
Der Holländer bietet Ilsemann eine Zigarette an, die dieser mit stummen Nicken annimmt. Auch Holm greift auf Piets Geste hin zu, gegen alle inneren Widerstände und Vernunft. Dies scheint ein besonderer Moment zu sein, den die Männer miteinander teilen. Sollte ein Glimmstängel zu diesem Ritual nötig sein, wird es nicht an ihm scheitern. Sie zünden ihre Zigaretten an, und unter Protest seiner Atemwege und seines Magens nimmt Holm die ersten kurzen Züge. Wenigstens vertreibt der Rauch die letzten Nuancen des Gestanks aus Piets Nachbarwohnung.
Nach einer ganzen Weile ergreift der Holländer das Wort: ruhig, gefasst, ohne irgendwelche Hinweise auf die Folgen eines Trinkgelages.
»Haben Sie schon mal davon geträumt, noch mal ganz von vorne zu beginnen? Alles nochmal zu überdenken und andere Entscheidungen zu treffen?«
Holm und Ilsemann hören zu. Im Geiste nicken beide stumm, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. Hier der Flügeladjutant, der mit seiner Entscheidung, in den letzten Tagen des Krieges den Kaiser auf der Flucht nicht alleine zu lassen, sein weiteres Leben unverrückbar vorgezeichnet hatte. Dort der Hofgärtner, der sich entschlossen hatte, vor allen Zerwürfnissen mit seiner Familie und dem drohenden Kriegsdienst davonzulaufen und die Einsamkeit zu suchen.
»Als ich gestern Abend mit Gesa gesprochen habe, da wusste ich: Es ist vorbei, so oder so.« Piet nimmt einen tiefen Zug und atmet den Rauch schwer durch die Nase aus.
»Es spielt keine Rolle mehr, ob ich Hofgärtner bin oder nicht. Und es ist im Grunde auch egal, ob ich weiter trinke oder nicht. Ich habe sie endgültig verloren, das hab ich gleich an ihrem Gesicht gesehen.«
Noch ein Zug. Jetzt ist die Zigarette, die er schon mit den Fingernägeln packt, aufgeraucht. Piet fährt leise, mit einer kaum zu ertragenen Erkenntnis fort:
»Sie ist nur mitgekommen, um mir das zu sagen.«
Holm, der die Zigarette mehr abkokeln lässt als wirklich daran zu ziehen, ist in seinen Gefühlen hin- und hergerissen. Einerseits bewegt ihn eine merkwürdige Art von Mitleid mit dem stolzen, vom Leben gezeichneten Mann. Anderseits will er den Trinker nicht aus der Verantwortung lassen, ist doch jeder selbst seines eigenen Schicksals Schmied. Doch der letzte Gedanke führt Holm in eine falsche Richtung, wie er Piets Äußerungen entnimmt:
»Ob Sie mir glauben oder nicht: Ich habe seit drei Wochen keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, auch nicht nach der Begegnung mit meiner ... Frau.« Er stockt nach dem letzten Wort. »Es spielt auch keine Rolle mehr! Ich wollte auch nicht mit mir selbst verheiratet sein.«
Holm drückt die übrig gebliebene Zigarettenhälfte beiläufig an einem der Bäume aus. Er könnte an dieser Stelle eine Menge über seine eigene gescheiterte Ehe sagen.
Doch es ist Ilsemann, der Piets Lebensbeichte unterbricht. In die Ruhe des in der Nachmittagssonne glänzenden Flusses sagt er: »Manchmal können wir die Dinge, die geschehen sind, nicht mehr ändern.«
Holm wehrt sich gegen die Erinnerung an den Moment, der die letzten Reste seiner Ehe zerstörte. Zwecklos: Die Bilder tanzen in seinem Kopf ein schauriges Ballett.
Der letzte große Streit ... Er betrachtet die Bäume an seiner Seite, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Piet reißt ihn aus seinen Gedanken, als er Ilsemann antwortet: »Das haben Sie mir schon einmal gesagt, erinnern Sie sich? Vor nicht allzu langer Zeit, als wir über den alten Obergärtner sprachen.«
Das Wort Obergärtner spuckt er aus wie einen stinkenden Käfer, der beim Radfahren in den offenen Mund geweht ist.
»Natürlich erinnere ich mich an dieses Gespräch, wie könnte ich das auch vergessen? Ich habe Ihnen damals versucht zu vermitteln, dass Sie nach vorne schauen müssen«, sagt Ilsemann mit Nachdruck. »Nur die Zukunft lässt sich wirklich verändern. Alles andere ist lediglich eine Frage der Betrachtungsweise und Interpretation.«
Piet schürzt die Lippen, als er einige Grashalme zwischen den Fingern hindurch gleiten lässt.
»Ich habe die ganze Nacht hier gelegen, hier unter den Sternen.«
Also doch, denk Holm.
Langsam kommt Leben in Gesichtszüge des Holländers.
»Und wissen Sie was? Ich habe fast die ganze Nacht darüber nachgedacht, was mir geblieben ist: Ich habe keine Kinder, keine Frau mehr, ein Drecksloch zum Wohnen! Wahrscheinlich habe ich seit heute keine Arbeit mehr, um meinen Arsch voll Schulden abzubezahlen! Und ich bin überall als Säufer bekannt! Jeder wird denken: Da kommt er, der Versager! Und: Die Leute haben recht!«
Plötzlich richtet sich der Mann zu seiner vollen Größe auf und wirft seine Mütze und die Holzschuhe vor die Füße des erstaunten Flügeladjutanten. Holm ahnt, was passieren könnte, ist aber für einen Moment wie gelähmt.
»Weet je wat? Ik wil niet meer!«, schreit Piet die beiden Deutschen an.
Und dann macht der Holländer auf dem Absatz kehrt, nimmt die Beine unter die Arme und rennt, schneller als Holm es je vermutet hätte: in Richtung Fluss!
Ilsemann ist völlig perplex, aber Holm erwacht aus seiner Starre und eilt Piet hinterher. Eine Sekunde später hat sich auch der Major besonnen und folgt den beiden unter wildem Rufen durch das Deichvorland zum Fluss.
Es ist ein unwirkliches Rennen, das zunächst nur einige Rinder auf dem Deich als Publikum verfolgen. An der Spitze der lebensmüde, zu allem entschlossene holländische Trinker, kurz dahinter sein deutscher Nachfolger, etwas abgeschlagen der Flügeladjutant des letzten deutschen Kaisers.
Als Piet schon fast den Schilfgürtel erreicht hat, zwingen die Lungen Ilsemann zum Aufgeben. Ein letztes Mal ruft er mit schwacher Stimme: »Piet! Nein!« Dann ruht alle Hoffnung auf Leinstermann.
Holm ist Piet dicht auf den Fersen, aber das Glitzern des Wassers vor ihm lässt ihn langsamer werden. Als der Holländer schon die Uferbefestigung erreicht hat, macht der Deutsche den letzten Schritt aus dem Schilfgürtel. Instinktiv weiß er, dass er Piet nicht mehr rechtzeitig erreichen wird, doch er geht weiter. Er kann das Wasser vor ihnen riechen. Obwohl seine Beine beginnen, ihm den Dienst zu verweigern, zwingt Holm sie weiter, auf den Fluss zu.
Während Piet nur noch zwei Schritte vom erlösenden Wasser entfernt ist, verliert Holm auf den glitschigen Ufersteinen den Halt. Sein rechtes Bein schnellt nach oben, sein linkes hinterher. Unter fürchterlichen Schmerzen schlägt sein Gesäß auf den von Algen begrünten Steinen auf. Doch damit nicht genug: Er kommt auf der abschüssigen Strecke ins Rutschen – direkt auf Piet und den Fluss zu.
Durch den Schmerzensschrei des Deutschen in seinem Todesentschluss gestört, schaut Piet ein letztes Mal zurück. Bis sich sein Blick so weit nach unten gesenkt hat, dass er den heranrauschenden Leinstermann erblickt, ist es längst zu spät. Holm rasselt in seinen Widersacher, der jeden Halt verliert und mit voller Wucht auf ihn fällt.
Erstaunlicherweise ist damit die Schlittenfahrt auf den glitschigen Steinen gebremst.
Für einen endlosen Moment liegen beide, wie ein Knoten ineinander verwoben, auf dem letzten Meter nasser, schlammiger Steine, direkt an der Wasserlinie des Flusses. Nur das schmerzhafte Keuchen des Deutschen ist zu hören, während es im Schilfgürtel raschelt.
Ilsemann hat sich so weit erholt, dass er den beiden anderen folgen konnte. Es bietet sich ihm ein absolut unwirkliches Bild: Da liegen die beiden Gärtner, verdreckt von Schlamm und Algen, wie in einer zärtlichen Umarmung.
Bevor Piet seinen Plan wieder aufnehmen kann, sich in den Fluss zu stürzen, hat der immer noch keuchende Major ihn geistesgegenwärtig gepackt und zieht ihn vom Wasser weg in Richtung Schilf. Holm ist von der Last befreit, hat jedoch heftige Schmerzen am ganzen Körper. Mit großen Augen blickt er voll Entsetzen auf das Wasser, das keine Armlänge entfernt vor ihm an den Steinen leckt.
Der Wettlauf mit dem Tod ist vorerst gewonnen.
*
Kurze Zeit später kauern alle drei erschöpft am Schilfrand. Jeder meidet es, die anderen anzuschauen, so dass ihre Blicke über den Fluss wandern. Für einige Minuten scheinen ihre Gedanken und ihre Sprache in der Szenerie eingeschlossen wie in einer Schneekugel, in der in Zeitlupe die Flocken sanft auf die Landschaft hinabsinken.
Die flüchtige Idylle wird durch erneutes Rascheln im Schilf gestört. Ein junger Mann mit kurzen Haaren und runder Nickelbrille erscheint aus dem Schilfgürtel und schaut die drei Anwesenden fragend an. In der einen Hand hält er ein großformatiges Buch und eine Art Kissen, in der anderen eine Isolierkanne.
»Oh, sorry! Ik wist niet dat hier iemand was«, sagt er überrascht.
»Geen probleem, mijnheer«, entgegnet Ilsemann, in völlig verdreckten Hosen und mit aufgerissener Jacke.
Wie lange werden wir schon beobachtet?, denkt Holm. Sein Gesäß schmerzt noch fürchterlich vom Sturz auf die Steine – etwas ist nicht in Ordnung.
Piet, ohne sein hölzernes Schuhwerk an den Füßen, findet seine Lebensgeister wieder und sucht nach seinen Zigaretten, um jedem Teilnehmer dieser seltsamen Gesellschaft einen Glimmstängel anzubieten.
Was soll’s?, resigniert Holm und greift zu.
Dass das Schicksal die vier Männer auf diese Weise zusammenführt, mag für den Moment keine große Bedeutung haben, hinterlässt jedoch bei allen einen gewissen Eindruck. In dem kurzen Gespräch, an dem sich fast ausschließlich Ilsemann und Linus van Wedde beteiligen, stellt sich heraus, dass der junge Künstler häufig einen Platz am Fluss aufsucht, um Inspirationen zu sammeln oder die Gedanken kreisen zu lassen.
Ilsemann bittet darum, einen Blick auf die Skizzen des Malers werfen zu dürfen, den dieser, zunächst unsicher und zögerlich, gewährt. Der Flügeladjutant fordert Piet und Holm auf, ebenfalls einen Blick in van Weddes provisorische Sammlung zu werfen. Die Wirkung der Zeichnungen ist beeindruckend:
Gekonnte Bleistiftzeichnungen mit Naturmotiven wechseln sich mit Gedichten und kurzen Erzählungen ab. Die Skizzen wirken schemenhaft, haben aber trotz ihrer Schlichtheit eine unglaubliche Klarheit und Ausdruckskraft. In Verbindung mit den Texten, von denen Holm nur einzelne Passagen versteht, entwickeln sich vor dem inneren Auge filmartige Bilder. Wortlos blättern die drei Männer durch die Seiten, während van Wedde seine Bescheidenheit ein wenig ablegt und genau auf die Reaktionen der Betrachter achtet.
Als sie bei der letzten Skizze mit einem vielfach bearbeiteten Entwurf eines Gedichtes angelangt sind, sehen sich Ilsemann und Piet an. Holm kann ihre Blicke nicht deuten.
»Können Sie mir das bitte übersetzen?«, fragt er leise.
Ilsemann löst sich als Erster vom Eindruck des Werkes und beginnt:
»Männer saßen am Strom zum Meer, im Morgenrot
Der Fluss fließt.
Männer saßen am Strom zum Meer, im gleißenden Licht der Mittagssonne
Der Fluss windet sich,
der Fluss fragt,
der Fluss fließt weiter.
Männer saßen am Strom zum Meer, im Sonnenuntergang
Der Fluss sucht,
der Fluss zweifelt,
der Fluss fließt weiter.«
Je weiter er liest und je länger Holm die Zeichnung betrachtet, desto mehr scheint das Gedicht das Bild zu einer lebendigen, in ihrem Licht wechselnden Szenerie zu verwandeln. Vor den letzten Versen zögert Ilsemann. Stattdessen nimmt Piet das Buch in die Hand und übersetzt den Schluss:
»Männer saßen am Strom zum Meer, in der Finsternis
Der Fluss versteht,
der Fluss vergibt
der Fluss fließt weiter, zum Meer.
Bevor alles von Neuem beginnt,
sind die Männer fort.
Der Fluss ist am Ziel
und wird einst zurückkehren, zum Morgenrot.«
Van Wedde wendet sich an Holm und erklärt in gut verständlichem Deutsch:
»Es ist noch nicht fertig. Ich möchte vielleicht noch ein weiteres Bild dazu malen.«
Piet gibt dem jungen Mann das Buch zurück, während Ilsemann anerkennend nickt und hinzufügt:
»Tun Sie das, und bleiben Sie Ihrem Weg treu!«
Nachdem er sich für die positive Rückmeldung bedankt hat, verschwindet der junge Künstler wieder durch den Schilfgürtel.
Holm kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass dies ein Moment von besonderer Bedeutung gewesen sein könnte: ein flüchtiger Blick durch das innere Auge auf die Zukunft.
*
Piet sieht Ilsemann mit großen Augen an, auch Holm ist überrascht.
»Zumindest für eine Weile. Dann werden wir sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«
Der Flügeladjutant wirkt sehr bestimmend, aber nicht unfreundlich.
»Es ist allemal besser, als Sie alleine in diesem Loch sitzen zu lassen. Sollten Sie sich schlecht fühlen, kann Ihnen der Doktor etwas geben.«
Den Arzt des Hauses, derzeit Doktor Bensen, wird Holm auf alle Fälle aufsuchen müssen. Die Schmerzen ziehen mittlerweile aus dem Gesäß in die Beine, und es ist ihm schleierhaft, wie er den Fußweg zurück zum Auto überstehen soll. Seine Gefühle darüber hinaus sind sehr zwiespältig – vor allem, was Piet betrifft. Dass Ilsemann den Holländer im Dienstgebäude einquartieren möchte, macht als Sicherheitsmaßnahme Sinn, konfrontiert Holm jedoch mehr als gewollt mit seinem Problem. Piet für seinen Teil scheint sich mit der Sache arrangieren zu können. Aber was hat ein Mann schon zu verlieren, der keine Stunde zuvor seinem Leben im Nederrijn ein Ende setzen wollte?
»Brauchen Sie Hilfe?«, hört Holm die bekannte, lebendige Frauenstimme wenige Meter hinter sich über den Flur der Wohnetage des Dienstgebäudes rufen. Sein Körper möchte lauthals Ja! schreien, dennoch will er sich keine Blöße vor dem Dienstmädchen geben.
»Danke, ich komme schon zurecht.«
»Geht es Ihnen nicht gut? Sie laufen, als wenn Sie hundert Jahre alt wären!«
Holm verzieht das Gesicht: Schmerzen haben und aushalten ist die eine Sache, daran erinnert zu werden eine andere.
»Sie sind eine gute Beobachterin«, versucht er möglichst ironisch zurückzugegeben.
Annegret trägt ein Bündel aus weißen Laken und Bettwäsche. »Sie bekommen Gesellschaft, in der freien Kammer neben Ihnen?«, wechselt sie das Thema.
»Davon habe ich auch schon gehört«, antwortet er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Fünf Schritte zur Tür, dann nochmal fünf bis zum Bett. Holm wünscht sich nichts sehnlicher, als diesen Weg schon hinter sich zu haben.
Annegret bemerkt, dass er nicht in der Laune für ein Gespräch ist und öffnet die Tür zu seinem Nebenzimmer. »Soll ich später nach Ihnen sehen?«
Holm antwortet nicht, sondern grunzt nur, als er die Tür hinter sich zuzieht.
Den weiteren Tag verbringt er in horizontaler Lage. Der Doktor, der gegen Abend nach ihm sieht, kann ihn insofern beruhigen, als dass alle wesentlichen Knochen den Sturz unversehrt überstanden haben. Die anstehenden Ostertage sollen die nötige Schonung bringen. Holm hasst es, sich übermäßig lange im Krankenbett aufzuhalten, doch lässt sein Zustand nichts anderes zu.
Als es Abend wird, klopft es an seiner unverschlossenen Tür. Holm legt sein Lehrbuch zur Seite und dreht sich mühsam auf die Seite. »Ja, bitte?«
Die Tür schwingt auf.
Sieh da, ein Antrittsbesuch des neuen Nachbarn, bemerkt Holm.
Bedächtig tritt Piet ein, eine Zeitung unter dem Arm, und nimmt sich den Stuhl vom Schreibtisch.
»Darf ich?«
»Nehmen Sie Platz«, erwidert Holm. Er hat Mühe, sich im Bett etwas aufzurichten.
»Machen Sie sich bitte keine Umstände.«
»Danke.« Holm fällt zurück in sein Kissen.
Piet entdeckt das Niederländisch-Buch an seiner Seite.
»Sie haben also noch nicht aufgegeben«, stellt der Holländer anerkennend fest. »Machen Sie Fortschritte?«
Holm zwingt sich ein Lächeln ab. »Wie man es nimmt! Neben der Arbeit bleibt wenig Zeit. Das heißt, in den nächsten Tagen wahrscheinlich schon.«
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagt Piet und reicht Holm die Zeitung. »Es ist zwar nichts so alt wie die Nachrichten von gestern, aber zum Üben wird Het Volk schon genügen. Etwas anderes konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben.«
Mit einem Schmunzeln dankt Holm dem Holländer. Nach einer kurzen Pause fügt er ernster hinzu:
»Piet, Sie müssen mir eines versprechen.«
Sein Gesprächspartner senkt den Kopf und schaut auf seine Hände. »Ja?«
»Sie dürfen, solange ich in Doorn bin, niemals irgendeiner Seele von heute Nachmittag erzählen!«
Verwundert schaut Piet seinen Chef an. »Das ... das hatte ich nicht erwartet. Aber ja, in Ordnung!«
»Gut. Ilsemann wird schweigen, und ich tue das auch. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Als die folgende Gesprächspause länger wird und Holm der Versuchung nachgibt, im neuen Lernmaterial zu blättern, will Piet aufbrechen. Im Gehen wendet er sich noch einmal um.
»Eine Frage noch.«
»Ja bitte?«
»Was haben Sie eigentlich dem Doktor erzählt?«
Holm kann sich bei der folgenden Erklärung ein Lächeln nicht verkneifen:
»Das ist eine längere Geschichte. Hat mit wild gewordenen Rindviechern, Zäunen und Gräben zu tun.«
»Hat er es Ihnen abgekauft?«
»Ich denke schon. Ilsemann wird mitspielen und so zumindest seiner Frau die Schäden an seiner Kleidung erklären können.«
»Danke, Chef.«
»Keine Ursache.« Holm deutet auf die Zeitung. »Kann ich auf Sie zählen, wenn ich Fragen habe?«
»Es wäre mir eine Ehre, Ihr Lehrer zu sein, Chef!«
»Danke. Und noch was ...«
»Ja?«
»Lassen Sie das mit dem bescheuerten Chef! Ich bin Holm Leinstermann.«
Piet schmunzelt.
»Ich weiß.«
*
Der Abend ist kurz; Holm nimmt den Schlaf dankbar an, der ihn trotz der Schmerzen umfängt. Die Medikamente von Doktor Bensen verdrängen das Schlimmste, trotzdem sind die Blessuren des Tages deutlich spürbar. Was sich in der Sache mit Gesa entwickelt hatte, konnte Sigurd von Ilsemann bis zu seiner Stippvisite nicht mehr in Erfahrung bringen. Der Doktor und der Flügeladjutant waren auf dem Weg zum allabendlichen Kamingespräch mit dem alten Kaiser, was beide nur begrenzt in Begeisterung versetzte. Holm weiß, dass ein langer Atem nötig ist, um die eintönigen Abende zu überstehen. Über die Themen dringt dagegen nichts nach außen.
Nach wenigen Minuten leichten Traumes klopft es wiederum an der Tür. Als Holm verschlafen zum Eintreten auffordert, geht er davon aus, dass Piet zurückgekommen ist – doch weit gefehlt.
»Wir haben von Ihrem kleinen Unfall gehört«, sagt Annegret lächelnd. »Doorn scheint Ihnen kein Glück zu bringen!«
Jan knufft die junge Frau tadelnd mit dem Ellenbogen in die Taille und bemüht sich um Korrektur:
»Wir wollten nach Ihnen schauen. Wie geht es Ihnen?«
Holm ist langsam wieder auf der Höhe. »Es freut mich, dass Sie hier sind, Sie beide!« Die letzten Wörter betont er, um Aufklärung zu fordern.
Jan und Annegret schauen sich lächelnd an.
»Wenn Sie noch rätseln, warum gerade ich auserkoren war, um die Sache im Oranier einzufädeln – dann wissen Sie es jetzt.«
Sie gibt Jan einen flüchtigen Kuss auf die Wange, während der junge Holländer in einer zaghaften Geste ihren Arm streichelt.
»Wir wollen heiraten«, erklärt er, ein wenig zu zurückhaltend für so eine freudige Botschaft.
»Meinen Glückwunsch, alles Gute für Sie beide!«
In dem Moment, wo er es ausspricht, wird sich Holm unsicher, ob er es wirklich so meint.
»Danke, das bedeutet uns viel«, erwidert Jan.
Bescheiden ist er, der junge Kollege, denkt Holm.
»Also, wir schweifen ab! Nun erzählen Sie doch endlich, was Ihnen passiert ist!«, hakt Annegret nach.
Zum zweiten Mal an diesem Tag erzählt Holm in lebhaften Bildern das Märchen von der wilden Verfolgung durch eine Rinderherde am Deich des Nederrijn bei Amerongen. Er spart nicht an Details, vor allem als er von der Rettung durch Piet berichtet. Am Ende angekommen ist, hält er kurz inne.
»Durch wen haben Sie eigentlich von dem Missgeschick erfahren?«, will Holm wissen.
»Solche Dinge sprechen sich im Hause schnell herum«, lacht Annegret. »Außerdem sahen Sie vorhin auf dem Flur ganz fürchterlich aus.«
Für den Moment ist Holm beruhigt. Er will nicht darüber nachdenken, was es in Piet auslösen würde, wenn die wahre Geschichte ans Licht kommt.
Jan zerstreut die Bedenken: »Major von Ilsemann hat mich angesprochen. Er hat Sie entschuldigt und meinte, dass Sie vermutlich ein paar Tage ausfallen.«
»Ich hoffe, ich komme schneller wieder auf die Beine!«
Holm verspürt den Drang, das Thema zu wechseln, um nicht Gefahr zu Laufen, sich in Widersprüche zu verstricken.
»Nun, was wird aus Ihnen beiden, wenn Sie heiraten? Haben Sie Pläne?«
Der junge Holländer bleibt stumm, während Annegret erklärt:
»Ich werde hier nicht mehr arbeiten; der Kaiser stellt nur unverheiratete Frauen als Dienstmädchen an. Aber so sehr drängt es uns auch nicht. Die Zeiten sind sehr unsicher.«
Jan nickt und sieht aus dem Fenster.
»Wie meinen Sie das?«, fragt Holm.
Unvermittelt wird Jan aufgebracht: »Schauen Sie doch mal über die Grenze, Herr Leinstermann!«
»Jan ...«, versucht Annegret zu beschwichtigen.
»Was glauben Sie«, fährt der Holländer Holm an, »was aus Huis Doorn wird – was mit uns allen wird –, wenn eure Soldaten kommen?«
Annegret springt vom Stuhl auf. »Jan!«
»Beruhigen Sie sich, bitte«, sagt Holm. Der plötzliche Angriff verblüfft ihn.
Doch so leicht lässt sich Jan nicht besänftigen, was dem Dienstmädchen immer unangenehmer wird.
»Was denken Sie, was ein Krieg für eine junge Familie bedeutet? Dann ist es vorbei mit allen Plänen für die Zukunft! Die Männer gehen an die Front! Kinder wachsen ohne Väter auf, so ist das!«
Holm wird ungehalten, was sowohl an der Situation als auch am Thema liegt.
»Beruhigen Sie sich, Jan!«
Vergeblich. Der junge Holländer zeigt in Holms Richtung.
»Ich habe Hitler gelesen! Deutschland zieht in den Krieg, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche! Und wir? Wir sind hier in Holland auch nicht sicher vor Euren Soldaten!«
»Jan, stil nu!!!«, brüllt Annegret.
Sie ist über sich selbst erschrocken, und auch Holm ist von der Kraft beeindruckt, die in ihren Gesichtszügen liegt. Ihr Ausbruch zeigt Wirkung – Jan hat es für den Moment die Sprache verschlagen.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals, Herr Leinstermann«, sagt die Frau. »Wir gehen jetzt besser. Komm, Jan!«
Annegret zieht ihren Verlobten am Arm, doch der kommt ihr zuvor und verschwindet im Flur.
»Es tut mir leid ...«, glaubt Holm ihn murmeln zu hören.
»Bleiben Sie, Annegret. Bitte!« Holm zeigt auf den Stuhl, auf dem sie zögerlich Platz nimmt. »Jan ist sehr aufgewühlt – und er ist jung. Das ist das Temperament! Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus«, bemerkt er mit Blick in Richtung Flur.
Annegret schaut ihrem Verlobten hinterher.
»Es ist schwierig für ihn. Alle fürchten sich, dass es bald Krieg geben könnte. Seit er auch noch Hitlers Buch gelesen hat, dreht er völlig durch, wenn jemand mit dem Thema anfängt.«
»Das verstehe ich«, pflichtet Holm ihr bei. »Es gab Zeiten, da haben mich die Zustände in Deutschland ähnlich beunruhigt.«
»Sind Sie deshalb nach Doorn gekommen?«
Er zögert einen Augenblick. »Ja, gewissermaßen. Ich konnte mir nie vorstellen, für irgendwelche hehren Ideen in den Krieg zu ziehen und den Kopf hinzuhalten. Das hätte bald der Fall werden können.«
»Sie sind einfach abgehauen!«, stellt Annegret lachend fest.
Holm fühlt sich für einen Moment ertappt.
»Naja, es gab schon noch andere Beweggründe. Aber können Sie sich das vorstellen? Alles um Sie herum bereitet sich auf den Krieg vor! Da ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis es Sie auch erwischt. Und plötzlich, Ruck-Zuck, wird Ihr Jahrgang von der Wehrmacht zu Ausbildungslehrgängen herangezogen.«
»Sie klingen nicht besonders mutig, aber realistisch. Sind Sie Pazifist?« Annegret sagt es ohne Tadel.
»Wenn man kann, sollte man das Gewehr zu Hause im Schrank lassen, denke ich.«
Sein Vater würde es Feigheit nennen! Er hatte die Tradition von Pflicht, Verantwortung und Ehre sein Leben lang hochgehalten. Holms Bruder Walter war in diese Fußstapfen getreten.
»Sie sind anscheinend anders als viele Deutsche in Doorn«, unterbricht Annegret seine Gedankengänge, »erst recht als Ihr Vorgänger.«
Holm tut das kopfschüttelnd ab. »Esterberg? Kann sein. Ich denke, wenn es ums Überleben geht, ist sich jeder selbst der Nächste.«
»Da irren Sie sich! Was von den deutschen Herren zu uns durchsickert, ist manchmal sehr ... verstörend.«
Holm ist irritiert. »Wofür sollen diese alten Männer denn noch kämpfen? Ich bin mir ziemlich sicher, das neue Deutschland will von der Krone nichts mehr wissen. Was den Nazis nicht nützt, wird im günstigsten Fall noch gebilligt, ansonsten weggetilgt.« Er erinnert sich an das Gespräch mit Breddenburg und mag den Gedanken nicht fortführen.
»Herr Leinstermann, ich kenne die Geschichten aus Deutschland«, sagt sie gefasst. »Wir leben hier nicht hinter dem Mond. Es spricht sich schnell herum, was die Nazis mit Andersdenkenden machen.«
»Sie sagen Nazis, meinen aber die Deutschen, habe ich recht?«, fragt Holm.
Die junge Frau wirkt sehr überlegt und entschlossen, als sie antwortet: »Sie sind deutsch, ich bin deutsch. Was unterscheidet die Menschen, die in Gefängnisse und Lager gesperrt werden, von uns beiden? Was gibt jemanden das Recht, ihnen die Lebensgrundlage zu nehmen? Es fängt doch schon damit an, denen vorzuschreiben, wann und wo sie sich noch frei bewegen dürfen. Sie nehmen ihnen die Radios weg, schließen die Schulen, und am Schluss verhindert niemand, dass ihnen das Gotteshaus niedergebrannt wird.«
Nach einer kurzen Pause fährt sie fort – schärfer, ernster: »Wer, Herr Leinstermann? Wer gibt seinen Segen, Menschen wegzusperren, wenn es gerade passt? Wessen Verantwortung ist es, wenn jemand in einem Lager verschwindet und es über Monate kein Lebenszeichen mehr gibt?«
Sie schaut ihn an, aber Holm antwortet nicht. Die Erinnerungen an die Ereignisse in Hamburg und später in Weener unterdrücken die Worte.
»Viele Menschen hier meinen, die Deutschen bekommen das, was sie verdient haben!«, erklärt Annegret. »Deutschland ist selbst schuld, weil es die Nazis in den Sattel gehoben hat.«
»Schuld ist ein großes Wort«, sagt Holm. »Ich fürchte, es bekommt eine noch viel größere Bedeutung, wenn man die Nazis gewähren lässt.«
»Sie sagen Nazis, meinen aber die Deutschen?«, gibt sie seine eigene Frage zurück.
Sie schauen sich einen Augenblick ratlos an.
»Wie ist die Stimmung diesbezüglich in Doorn?«, unterbricht Holm die Stille.
»Vor dem einheimischen Personal wird über Politik nicht gesprochen«, erwidert Annegret. »Aber, wie gesagt, manchmal sickert etwas durch, was hinter vorgehaltener Hand weitergetratscht wird.«
»Wie steht man zu den Juden?«
»Die sind auch in Holland nicht jedermanns Freund. Ich glaube, das sind sie nirgendwo auf der Welt. In den letzten Jahren sind viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland gekommen, das war sehr umstritten. Es wird gerade ein großes Lager gebaut, in das man die meisten Flüchtlinge schicken wird: Westerbork.«
»Das klingt, als hätte man eine Idee aus dem Reich importiert. Das werden sich die Flüchtlinge anders erhofft haben.«
»Mit Sicherheit! Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Naja, ein paar Verrückte spielen Nazis, allerdings ohne großen Rückhalt bei den Holländern.«
Die NSB, denk Holm, davon hatte er gehört und gelesen. Allerdings hatte das Ganze eine andere Stoßrichtung als im Reich. Holm ist sich nicht sicher: Nachahmer? Patrioten? Oder eher Idioten? Ein paar Opportunisten, die sich bei einem deutschen Überfall einen Vorteil ausrechnen?
Ja, er weiß aus Weener von deutschen Juden, die über die nahe Grenze in die Niederlande geflüchtet waren, oft mit Hilfe der Rheiderländer. Aber er kannte auch die anderen Geschichten: von den Gefängnissen, den Arbeitslagern, der völligen Entrechtung.
»Also sitzt ein Teil der deutschen Flüchtlinge in Lagern fest?«, resümiert er.
»Ja. Die holländische Regierung hat nicht gerade um diese Menschen gebettelt – und das ist noch vorsichtig ausgedrückt! Als meine Mutter mit mir gekommen ist, war die Situation noch ganz anders. Aber in den letzten Jahren waren deutsche Flüchtlinge hier unerwünscht. Wohin auch mit ihnen? Im Moment sind fast alle in verschiedenen kleineren Lagern verteilt, aber es wird dieses neue, zentrale Kamp geben.«
»Was für eine Ironie: Die Menschen fliehen, um frei zu sein – und landen wieder in einem Lager.«
Annegret schüttelt den Kopf. »Sie fliehen, um zu leben. Einfach nur zu leben! Auch wenn es viele selbst nicht wahrhaben wollen: Ich bin überzeugt, nur darum geht es letztendlich.«
Holm weiß, dass viele jüdische Familien aus dem Rheiderland nicht geflohen sind, und er konnte es verstehen – damals. Fliehen oder bleiben? Alles zurücklassen, das Hab und Gut, die Freunde, die Heimat? Oder sehenden Auges in den Untergang, darauf hoffend, dass letztendlich alles doch nicht so schlimm werden würde? Er hatte es verstehen können.
Allerdings könnte er selbst auch bald in der Falle sitzen! Wenn die Wehrmacht erst vor den Toren von Huis Doorn steht, wird sich die Geheime Feldpolizei für die wehrfähigen Deutschen und ihren Werdegang interessieren – und Holm letztendlich doch eine Waffe in die Hand drücken.
Annegret spürt, dass er mit sich ringt.
»Jan und die anderen machen sich viele Sorgen. Vielleicht ist das unnötig. Noch ist nichts passiert.«
»Er sorgt sich wegen Ihnen«, stellt Holm mehr fest, als dass er fragt. »Warum sind Sie damals aus Deutschland fortgegangen?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnet Annegret. »Ich war noch ein Kind. Meine Mutter spricht nie darüber, und es gibt sonst niemanden, den ich danach fragen könnte. Sie hat alle Brücken nach Deutschland abgebrochen.«
»Hm. Aber wie auch immer: Jan will Sie beschützen, das liegt auf der Hand.«
Annegret schüttelt den Kopf und sagt trotzig:
»Ich will das nicht! Ich bin eine erwachsene Frau und kann gut auf mich selbst aufpassen! Mit einer eigenen Familie wäre das sicher etwas anderes. So aber habe ich nur Mutter und die Kleinen, auf die ich achten muss.«
»Auch das ist eine Aufgabe. Haben Sie Jans Unterstützung, was Ihre Familie betrifft?«
»Ja, ich denke schon. Wenn man wüsste, was kommt, könnte man sich vorbereiten. Aber wer weiß das schon?«
Holm zuckt mit den Schultern. »Ich habe mir eingebildet, das alles wäre noch weit weg.«
Annegret lächelt bitter. »Wenn Sie Jan fragen, ist das alles, wie Sie es nennen, verteufelt nahe! Was denken Sie, wird aus diesem Land, wenn die Nazis angreifen? Was wird aus den Menschen?«
»Ich weiß es nicht, aber ...«
»Jan und die anderen sagen, dass nichts bleiben wird, wie es ist. Die Menschen haben Angst.«
»Wenn das so käme, dann ist es keine gute Idee von den Holländern, die jüdischen Flüchtlinge alle in einem großen Lager zusammenzupferchen«, denkt Holm laut nach.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Holm schnaubt verächtlich.«Es macht den Nazis die Sache denkbar einfach.«
Annegret sieht ihn entsetzt an und kann für einen Moment nicht einordnen, ob es sich um einen hässlichen Scherz oder eine bittere Erkenntnis handelt.
Unter heftigen Schmerzen richtet sich Holm ein Stück weit auf und sieht ihr in die Augen: »Wenn die Nazis wirklich angreifen und siegen, müssen die Juden hier längst weg sein. Alle! Ich stand daneben, als in Deutschland die Synagogen gebrannt haben.«
Sie schüttelt den Kopf. »Wo sollen die Menschen denn hin, Herr Leinstermann? Sie können sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Und wer weiß, wie weit der Arm der Nazis reicht?«
»Ich jedenfalls nicht! Bis gerade eben habe ich mich in Doorn noch recht sicher gefühlt.«
Die beiden sitzen eine Weile schweigend nebeneinander.
Schließlich ergreift Holm wieder das Wort:
»Ich trage Jan nichts nach, sagen Sie ihm das! Er ist ein guter Kerl. Sie sollten jetzt zu ihm gehen.«
Er muss das schwer zu definierende Gefühl unterdrücken, nicht ganz ehrlich zu sein.
Annegret nickt. »Danke«, sagt sie, wieder mit dem typischen Lächeln auf dem Gesicht.
Es kommt näher, denkt Holm. Was für eine Illusion: allem entfliehen zu können, alles hinter sich zu lassen!
Wenn er es recht bedenkt, packen ihn in diesen Tagen alle Themen am Hemdkragen, die er am liebsten in einem abgrundtiefen Brunnen versenkt wüsste.
6
Doorn, 10.04.1939, Ostermontag
Lieber Paul!
Hab vielen, vielen Dank für Deinen Brief! Natürlich macht es mich betroffen, dass Du Dich wieder in Behandlung begeben musstest. Ich hoffe, dass die Bemühungen der Ärzte Früchte getragen haben und endlich die erwünschte Besserung eingetreten ist. Ich mag mir nicht vorstellen, wie Dich die von Dir beschriebenen Krämpfe quälen. Habe Mut und lass die Hoffnung nicht sinken, dass es Dir recht bald besser geht! Vielleicht wirst Du viel schneller gesund als erhofft – und Du kannst mich einmal in Doorn besuchen?
Mir selbst geht es hier, von kleineren Missgeschicken abgesehen, recht gut. Mit Beginn des Frühjahres gibt es deutlich mehr zu tun als zur Winterzeit, die mit Holz schlagen und zerteilen ziemlich eintönig ist.
In den ersten Wochen meiner Tätigkeit war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die Unterlagen meines Vorgängers zu sichten und mich mit den holländischen Gartenarbeitern bekannt zu machen. Das war nicht immer einfach, was zu einem Großteil der Sprache geschuldet ist. Gut, dass ich sowohl aus Hamburg als auch verstärkt aus Weener mit dem Plattdeutschen vertraut bin! So sprechen wir mittlerweile ein Kauderwelsch aus Deutsch, Holländisch und Plattdeutsch – aber es reicht für die Verständigung. Dennoch ist mir sicherlich auch der ein oder andere derbe Scherz entgangen, der hier in den ersten Wochen über mich gemacht wurde. Denn die Holländer nehmen kein Blatt vor den Mund, zumindest nicht unter Ihresgleichen! Aber: Das ein oder andere Problem hat sich bereits gelöst. Zudem lerne ich Holländisch – ich habe einen engagierten Lehrer, der mir nach Feierabend hilft und sehr geduldig und beharrlich ist.
Mittlerweile ist das Gelände bunt von Frühlingsblumen, die Bäume beginnen Blätter zu tragen – Du kannst Dir nicht vorstellen, was für eine Veränderung das ist! Wir haben etliche neue Pflanzen gesetzt und so einen Teil der Verluste ausgleichen können, die der alte Kaiser durch seine »Holzarbeit« erzeugt. Du glaubst es nicht, aber der alte Herr hat, mit Hilfe vieler tüchtiger Hände freilich, vor allem im nahe gelegenen Wald etliche tausend Bäume und Bäumchen geschlagen und säuberlichst zerteilt. Seine männlichen Gäste müssen regelmäßig mit ran, was dem ein oder anderen älteren Herren gewaltig den Schweiß auf die Stirn treibt. Das Holz wird zu einem großen Teil im Winter an die Armen im Dorf verteilt, der Rest geht an Bedienstete oder wird direkt hier verfeuert. Recht so, dann sind diese herrlichen alten Bäume wenigstens nicht umsonst gefallen!
Dem alten Kaiser selbst bin ich bisher immer nur kurz begegnet. Er geht häufig im Park spazieren, oft auch mit Gästen, und grüßt im Allgemeinen freundlich. Er erkundigt sich nach dem Stand einzelner Arbeiten und ist dadurch meist auf der Höhe des Geschehens. Der Großteil seiner eigenen Aktivitäten beschränkt sich auf das Holzschlagen und -zerteilen. Zu früheren Zeiten muss er beim Bepflanzen, Wässern und Pflegen der Anlagen mitgewirkt haben. Das Personal scheint recht erleichtert, dass dem jetzt nicht mehr so ist – und diese Ansicht teile ich, natürlich unausgesprochen. Schuster, bleib bei Deinen Leisten!
Die aktuelle Politik spielt natürlich in Doorn eine große Rolle, wenn der Einfluss auf die tägliche Arbeit auch nicht immer spürbar ist. Die deutschen Herren, die sich in ihren Diensten regelmäßig abwechseln, sind durch allabendliche Vorträge und Zusammenstellungen von Pressemeldungen stets gut über die Geschehnisse in Deutschland informiert. Dass Hitler seit meinem letzten Brief Teile der Tschechei und das Memelgebiet ins Reich eingegliedert hat, macht hier einige mächtig stolz, vor allem von den Gästen. Der klare, unverstellte Blick auf die Dinge scheint diesen Menschen verloren gegangen zu sein. Man hört hin und wieder von den Fesseln von Versailles4. Ich kann mich gut erinnern, dass die Zeitungen seinerzeit voll davon standen – und später noch einmal, als Hitler versprach, sie zu durchtrennen. Ich frage mich, über welche weiteren Entwicklungen ich im nächsten Brief schreiben muss. Der Wahnsinn ist entfesselt und scheint unaufhaltsam seinen Lauf zu nehmen!
Was Du über den Besuch von Mutter und Vater berichtet hast, überrascht mich nicht im Geringsten. Ich für meinen Teil habe mit Vater abgeschlossen, so bitter das klingen mag. Er hat mich sehr deutlich wissen lassen, dass er von meinem »Versagen« (was für ein Wort!) bitter enttäuscht ist. Mutter betet wahrscheinlich jeden Abend für meine Bekehrung und mein Seelenheil, die Gute! Dennoch: Auch bei ihr bin ich auf harte Ablehnung gestoßen, als die Schwierigkeiten mit Sigrid immer größer wurden.
Paul, ich weiß um die Fehler, die ich begangen habe – sie sind sicherlich schwerwiegender, als Du ahnst. Aber ich teile Dein Gefühl: Wie bitter ist es, wenn man selbst den Eltern gegenüber nicht ehrlich werden kann! Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, diese Themen spätestens im Rheiderland zurückzulassen. Ganz kann ich die Gedanken aber nicht verdrängen. Vor allem die Kinder! Heinrich und Agnes fehlen mir sehr. Aber wie ich mich auch bemüht habe, eine Lösung zu finden: Es ging einfach nicht! Letztendlich stand ich allein gegen alle, die meinten, etwas zu sagen zu haben.
Ich merke, dass ich hitzig werde, deshalb lass mich lieber von etwas anderem schreiben.
In Doorn gibt es, sogar länger schon als in Weener, die gleichen Schäden an den Rhododendren. Mein Vorgänger, der mir die Geschäfte ansonsten in sehr ordentlichem Zustand überlassen hat, hat sich zuletzt nicht mehr damit auseinandergesetzt.
Alles erscheint so, wie es bisher auch von anderen Experten beurteilt worden ist: Zu beobachten sind grau-braune, abgestorbene Blütenknospen, teilweise geht der Schaden bis hinunter in die Zweige. Vieles spricht für eine Pilzkrankheit; aber auch Schädlinge sind denkbar, da man hier im vergangenen Sommer kleine, bisher unbekannte Insekten beobachtet haben will. Ob es einen Zusammenhang gibt, will ich weiter herausfinden. In den vergangenen Jahren ist viel Importware gepflanzt worden, vor allem aus England. Vielleicht muss ich noch einmal Kontakt zu Hesse aufnehmen, damit man dort ebenfalls die Herkunft der befallenen Exemplare zurückverfolgt. Das wäre zumindest eine Spur.
Ansonsten kann ich nur wiederholen, was ich eingangs schon schrieb: Die Vielfalt der Blüten (viele verschiedene Tulpen) ist überwältigend! Der Rosengarten, angelegt zu Ehren der alten Kaiserin Auguste, erwacht langsam und wird eine wahre Pracht sein. Das Hauptbeet enthält übrigens neuerdings ein größeres Element in Form eines Eisernen Kreuzes – man wird hier immer an die militärische Vergangenheit des Kaisers und der meisten der deutschen Herren erinnert. Ich hoffe inständig, es wird nicht auch unsere Zukunft!
Ich muss nun schließen. Der preußische Hofprediger, der derzeit in Doorn weilt, wird gleich eine Andacht mit heiligem Abendmahl halten. Major von Ilsemann, ein enger Vertrauter des Kaisers und eine Art Mittler zwischen dem Haupthaus und den sonstigen Bediensteten, hat mich wissen lassen, dass meine Anwesenheit erwünscht ist. Also dann! Nun werde ich auf meine alten Tage wieder zum Kirchgänger, Paul.
Lass es Dir gut gehen und verliere nicht die Hoffnung!
Herzliche Grüße,
Holm