Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 12
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Gerade will er die letzten Schritte zur grünen Tür der Pension gehen, als vier Männer das Haus verlassen: Jan und die drei anderen – ohne Piet. Holm steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
»Herr Leinstermann, zu Ihnen wollten wir«, spricht ihn Jan in kantigem Deutsch an.
»Aber ... wieso? Warum kommen Sie hierher, ich wohne doch jetzt im Dienstgebäude?« Sollte Jan wissen können, was er ursprünglich geplant hatte? Holm tastet nach dem Zettel in seiner Tasche, entsinnt sich dann jedoch, dass die Arbeitskleidung in seiner Kammer liegt.
»Wir würden gerne mit Ihnen reden. Kommen Sie mit uns?«
Die anderen Männer wirken freundlich, so dass Holms Argwohn weicht.
»In Ordnung. Aber sagen Sie: Haben Sie mir die Nachricht zukommen lassen?«
»Ja, wir wussten sonst nicht, wie wir Sie treffen können, ohne ... ihn.«
Wen Jan meint, ist allen Beteiligten klar.
Gemeinsam gehen sie unter dem jetzt kompletten Sternenhimmel in Richtung Dorfkern, um schließlich im Oranier einzukehren. Holm weiß von dem Lokal, hat bisher jedoch weder Interesse noch Anlass gehabt, einen Blick hinein zu werfen.
Als sie eintreten, wogen ihnen dichte Schwaden von Qualm entgegen, gepaart mit dem undefinierbaren Gemurmel der für einen Wochentag überraschend zahlreichen Gäste – ausschließlich Männer, wie es scheint. Jan winkt der Frau hinter dem Tresen zu und bewegt sich zielsicher zu dem runden Tisch mit Eckbank, der eine der Nischen ausfüllt.
Die Gärtner setzen sich. Holm schaut in die Runde, um sich zu orientieren: Männer aller Altersklassen sitzen dichtgedrängt an der Theke und an den Tischen. Alles wirkt eng und vollgestellt, aber gemütlich. Die meisten trinken Bier, vereinzelt sieht man dampfenden Tee oder Kaffee. Auch Mahlzeiten werden gereicht. Der Oranier ist deutlich lebendiger als die Pension: Es wird viel gesprochen, lautstark diskutiert und gelacht.
Hier also treffen sie sich nach Feierabend, um über ihren neuen Hofgärtner zu diskutieren und Pläne auszuhecken, mutmaßt Holm.
Sie bestellen Getränke. Die Arbeiter verfallen kurz in ein belangloses Gespräch, bis Holm die Initiative ergreift.
»Worüber wollen Sie mit mir sprechen?«
Die Männer antworten nicht, sondern schauen in alle anderen verfügbaren Ecken des Raumes. Schließlich fasst Jan sich ein Herz und erklärt:
»Herr Leinstermann, was wir heute getan haben, war nicht richtig.«
Holm nickt und wartet auf die Fortsetzung.
»Es war nicht unsere Idee; es ist wegen Piet. Ich konnte es ihm nicht ausreden. Bitte ...«
»Piet, Piet! Immer nur Piet!«, wirft Holm ungehalten ein. »Sie haben doch selbst einen Kopf zum Denken!«
»Die Sache ist nicht so einfach! Piet hat für jeden hier am Tisch bei Graf Schwerin ein gutes Wort eingelegt, damit wir die Arbeit bekommen.«
Die anderen Männer nicken und halten sich an ihren Gläsern fest.
Für mich würde er das ganz sicher nicht tun, spottet Holm stumm.
»Mag sein«, erklärt er, »aber wenn er ein Problem mit mir hat, dann muss er mir das schon selbst sagen!«
»Das ist nicht ganz richtig«, wendet Jan ein. »Er hat kein Problem mit Ihnen, sondern wegen Ihnen.«
Einer der anderen Männer will etwas anmerken, vielleicht erreichen, dass Jan nicht weiterspricht.
Aber Holm ist es, der den jungen Holländer harsch unterbricht.
»Halten Sie sich einfach an Anweisungen und Absprachen, dann können Sie zumindest sicher sein, dass Sie Ihre Arbeitsstelle behalten.«
Die offensichtliche Drohung kommt an.
»Hören Sie, wir wollen keinen Ärger. Wir wollen einfach nur mit Ihnen reden«, sagt Jan.
Einmütiges Nicken in der Runde.
Na schön, denkt Holm. Vielleicht löst sich das Problem auch auf diese Weise.
»Einverstanden, dann reden Sie!«
Die Holländer stecken die Köpfe zusammen und tauschen ein paar kurze Sätze in ihrer Sprache aus. Sie reden sehr schnell, dennoch kann Holm aufgrund seiner bisherigen Lernerfolge ein paar Fetzen heraushören. Vor allem, dass die Männer sich nicht einig werden, was sie dem Deutschen anvertrauen können. Holm entgeht nicht, dass der älteste Mann, de grote Geerd, derjenige ist, der das letzte Wort hat.
»Also gut«, beginnt Jan nach Ende der Diskussion, »reden wir!«
Was für ein wirrer Tag!, vermerkt Holm als ersten Satz seiner Tagesaufzeichnungen. Einerseits ist er froh, dass Jan und die anderen ihn über einige Dinge von Tragweite in Kenntnis gesetzt haben. Andererseits belastet ihn die Sache mit Piet nun umso mehr – ist ein klärendes Gespräch oder ein deutlicher Verweis durch das Büro doch unumgänglich.
Piets Trinkerei ist kein neues Problem, sondern hatte sich im Laufe der Jahre gesteigert. Zunächst gehörte er zu den Arbeitern, später wurde er selbst Hofgärtner; ein sehr kundiger und tüchtiger offenbar. Bis man ihm – aus Sicht der Holländer – Friedrich Esterberg vor die Nase gesetzt hatte.
Obwohl der Neue in seiner Arbeit sehr korrekt gewesen sein muss, war er bei den Arbeitern alles andere als beliebt. Warum, das ließen Jans Ausführungen und die Gesichtsentgleisungen der anderen nur erahnen.
Als dann Holm die Stelle übernahm, brachen bei Piet alle Dämme, da er darauf gehofft hatte, seine alte Stellung zurückzuerhalten. Das allein wäre in der aktuellen Situation vielleicht schon eine Erklärung, nur blieb es nicht dabei:
Gesa, seine Frau, muss Piet unmittelbar nach einem heftigen Absturz vor die Tür gesetzt haben. Vielleicht auch, weil es ihm nicht gelungen war, die alte Stellung zurückzuerhalten.
Was will er?, denkt Holm beim Schreiben.
Mich vergraulen, wieder Hofgärtner werden, seine Ehe und Ehre retten?
Holm konnte nicht in Erfahrung bringen, welcher Zusammenhang zwischen den holländischen Gärtnern und Annegret besteht, dem Dienstmädchen und der Überbringerin der Botschaft.
Piet. Immer wieder Piet! Was für eine vertrackte Situation!
Jan hat in gewisser Weise recht: Piet hat kein Problem mit ihm, sonder wegen ihm.
Wie sagte Anni Brandt:
Wenn ich mit Piet zusammenarbeiten will, muss ich ihn verstehen lernen.
Holm notiert am Ende seines Eintrages, was ihm Tag für Tag immer klarer wird:
Ich kann nicht davor weglaufen – ich muss handeln.
*
»Ich vermute, Du weißt mehr über diese Sache«, hakt Holm bei Anni Brandt nach, als sie gemeinsam von der Besprechung im Haupthaus in Richtung Torgebäude zurücklaufen. Es ist ihr unangenehm, aber sie sieht keinen Sinn darin, sich zu verstellen.
»Das ist richtig – leider.« Mit den Händen macht sie eine Geste von Ratlosigkeit. »Weißt Du, ich sitze zwischen den Stühlen: einerseits die Nähe zu Gesa und Frau Scheepers in der Pension, andererseits Piet hier bei der Arbeit – das war und ist nicht immer einfach für mich.«
Sie gehen einige Schritte ohne Worte.
»Wenn Du auf seine Kündigung drängst, wird Schwerin diesmal vermutlich ein Einsehen haben«, erklärt Anni Brandt. »Wie die anderen Arbeiter reagieren werden, kann ich allerdings nicht vorhersehen.«
Diesmal?, bemerkt Holm.
Wieder Schweigen.
»Er hat die Stelle wegen der Trinkerei verloren?«, wagt Holm einen Vorstoß.
»Ja, es nahm überhand und er wurde unzuverlässig. So etwas bleibt hier nicht lange unbemerkt.«
»Kann man dem Mann in dieser Sache noch irgendwie helfen?«
Anni hebt resignierend die Hände. »Das musst Du die Ärzte fragen. Ich fürchte aber, nein. Zumindest zeigt das die Erfahrung.«
»Es ist nicht so, dass ich Dich in Verlegenheit bringen will. Aber es bleiben zu viele Fragen offen, die ich derzeit nicht klären kann. Ein vier-Augen-Gespräch mit Piet scheint mir schwierig, aber nicht unmöglich.«
Sie gehen weiter, bis der Weg sich vor ihnen teilt und jeder seine Richtung einschlagen will. »Was war dieser Esterberg wohl für ein Mensch ...«, überlegt Holm laut.
Annis Rücken strafft sich, bevor sie ihn mit ungewohnt ernstem Blick mustert. »Das hängt davon ab, wen Du fragst! Auf jeden Fall hätte Esterberg, an Deiner Stelle, Piet längst aufgegeben.«
Etwas bleibt unausgesprochen, das spürt Holm deutlich – doch es ist nicht der richtige Zeitpunkt, diesem Verdacht nachzugehen.
Er bedankt sich für das Gespräch und dreht zum Holzhackplatz ab.
Aufgeben? Nein. Jetzt oder nie!
*
Esterbergs altes Arbeitszimmer in der Orangerie ist klein und vollgestellt mit Regalen, Schränken und einem großen Arbeitstisch. Dass noch zwei Stühle für Holm und Piet hineinpassen, grenzt an ein Wunder. Ob dieser Ort für sein Vorhaben wirklich geeignet ist, daran zweifelt Holm. Aber er hatte nicht gewusst wohin, will er mit seinem Kontrahenten doch ungestört bleiben. Das Tuinhuis als Treffpunkt der Holländer ist für ihn keine Alternative.
Irritiert und unwillig war ihm Piet gefolgt, ahnte er wohl, dass sein Chef nicht wirklich Hilfe bei einem Problem sucht – zumindest bei keinem botanischen.
Als Holm den Holländer auffordert, ihm in den Raum zu folgen, verfinstert sich dessen Miene zusehends.
»Hören Sie, wenn Sie ...«, setzt Piet an.
»Rein da!«, unterbricht Holm. »Setzen Sie sich!«
Piet folgt der Aufforderung missmutig, nimmt aber demonstrativ die Mütze nicht ab, wie es üblich wäre. Als Holm ihm in die Augen sieht, betrachtet er einen verlebten, müden Mann. Die kupferfarbenen Haare und der breite Schnauzbart sind von grauen Strähnen durchzogen und wirken ungepflegt. Die grau-blauen Augen seines Kontrahenten vermitteln Holm eine zwiespältigen Schau in das Seelenleben: Einerseits ist der Blick stark und wehrhaft. Andererseits ruht in ihm eine tiefe Zerbrochenheit, wie ein tiefer, nicht zu kittender Sprung in einer kostbaren Porzellanschale, die nur noch zum Wegwerfen taugt.
Der Anblick bremst Holm ein wenig in seinem Elan, die Rollenverteilung in diesem Theaterspiel voll auszuleben.
»Was soll das alles?«, beginnt er seine Befragung.
»Wovon sprechen Sie?«, kontert Piet mit finsterer Miene.
»Sie wissen genau, was ich meine.«
»Nein, was?«
Holm schüttelt innerlich den Kopf.
Der Kerl ist nicht gewillt, es mir einfach zu machen!
»Warum haben Sie den Plan von dem Rosenbeet abgeändert?«
»Ist das wirklich Ihre Frage?«
Holm stutzt. Die Gegenfrage wirft ihn kurzfristig aus dem Konzept.
»Ich will wissen, wer den Plan abgeändert hat!«, sagt er ein wenig aufgebrachter, als es nötig gewesen wäre.
Piet zeigt keine sichtbare Reaktion.
»Wenn Sie das wissen wollen, warum fragen Sie nicht einfach die anderen?«, grunzt er wie ein trotziges Kind.
Holm winkt ab. »Warum sollte ich das tun, wenn ich auch mit Ihnen sprechen kann?«
»Offenbar sind Sie sonst auch gut informiert und sprechen mit allen möglichen Leuten über mich. Dann wird Ihnen das bei so einer Kleinigkeit auch nicht schwerfallen!«
Holm ist für einen winzigen Augenblick verunsichert – hatte er durch die Vertraulichkeit gebotene Grenzen überschritten? Er tut den Gedanken ab.
»Warum sind Sie neulich von der Arbeit verschwunden?«, wechselt Holm das Thema.
»Ist das hier ein Verhör?« Langsam zeigt Piets Gesicht Regung. »Ich dachte, Sie hätten ein Problem, das Sie mit mir besprechen wollen«, ergänzt er wütend, aber zunehmend nervös.
»Das habe ich auch, und das Problem sind Sie!«
Piet lacht: »Nun, dann haben wir wohl beide das gleiche Problem: Sie wollen mich loswerden, und ich Sie!«
Das Lachen verstummt schlagartig, als ihm bewusst wird, dass er die Wahrheit zu offen ausgesprochen hat.
Holm schmunzelt in sich hinein.
Touché!
»Das habe ich nie gesagt!«, gibt er künstlich entrüstet zurück.
Piet schweigt, sein Blick geht zu Boden. »Was wollen Sie dann noch von mir? Kann ich jetzt gehen?« Er wendet sich ein klein wenig ab, als wenn er aufstehen und den Raum verlassen will.
Holm setzt alles auf eine Karte: »Wenn Sie jetzt durch diese Tür gehen, gehen Sie für immer!« Er macht eine kurze Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen und die Reaktion seines Gegenübers zu beobachten. »Nur zu! Niemand hält Sie auf, keiner wird Ihnen Vorwürfe machen«.
Piet zögert. Er starrt auf seine Hände – und sagt nichts. Holm sieht ihn verstohlen an und wartet. Einen endlosen Moment.
Nichts.
Oder doch?
Holm weiß nicht recht, wie er das Gespräch fortsetzen soll. Keine sinnvolle Frage, kein guter Gedanke stellt sich ein, so sehr er auch sein Gehirn durchforstet. Vor ihm sitzt ein gebrochener, aber stolzer Mann, der die Möglichkeit, den Willen und die Mittel hat, ihm die Arbeit zur Hölle zu machen!
Schließlich spricht Holm aus, was ihm zuerst in den Sinn kommt:
»Was würde sich überhaupt für Sie verändern, wenn ich morgen meine Sachen packen und Doorn wieder verlassen würde?«
Er rechnet mit einer schnippischen Rückfrage, aber Piet schnauft nur verächtlich:
»Vermutlich nichts.«
»Wenn dem so ist: Warum machen Sie nicht einfach Ihre Arbeit wie die anderen auch?«
Schweigen.
Dann streckt Piet den Rücken und verschränkt mit wehrhaftem Blick die Arme vor der Brust.
»Sie wissen nichts. Gar nichts wissen Sie! Kann ich jetzt gehen?«
»Nein, verdammt!«
Die Anspannung in Holm steigt, er ringt um seine Fassung.
»Sie werden nicht gehen – und ich werde nicht dafür sorgen, dass Sie gehen müssen!«
Holm schreit die letzten Worte mit bebender Stimme:
»Sie werden mit mir zusammenarbeiten! Verstanden?«
Zum ersten Mal scheint Piet beeindruckt: Die Augen sind wacher, die Haltung seinem Widerpart zugewandt. Es dauert einen Augenblick, bis Holm durchgeatmet hat und fortfährt:
»Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
Der Holländer fährt sich mit dem Zeigefinger durch den Schnauzbart und antwortet: »Ja, das habe ich! Warum sind Sie und Ilsemann zu mir nach Amerongen gekommen?«
Die Frage erwischt Holm auf dem falschen Fuß. An jenem Abend war er nicht sicher gewesen, ob Piet überhaupt etwas von ihrem Besuch registriert hatte.
»Das besprechen wir ein anderes Mal. Und jetzt raus, an die Arbeit!«, umgeht er eine Antwort.
Piet erwidert nichts mehr, sondern verlässt ruhig den Raum.
In Weener hätte man zumindest mit der Tür geknallt!, denkt Holm und schüttelt den Kopf.
*
»Das kann ein Anfang sein,« sagt Anni, als Holm ihr im Büro die Bestellungen für die kommenden Projekte aushändigt. Sie sind allein, so dass Holm sie auf den neusten Stand betreffend Piet bringen kann. Anni macht einige Bemerkungen zu seinen Bestellungen, wirft die Papiere schwungvoll in eine Ablage und sucht dann wieder seine Nähe.
»Was machst Du eigentlich heute Abend?«
Viele Möglichkeiten gibt es nicht, halbwegs unerkannt einen Abendspaziergang durch Doorn zu unternehmen, zumal Anni nach all den Jahren in vielen Geschäften privat oder dienstlich bekannt ist. An diesem Abend treffen sie allerdings kaum auf andere Menschen, so dass sie unerkannt bleiben können.
Holm hatte in die Einladung gerne eingewilligt, fehlt ihm doch der abendliche Austausch in der Pension. Die gemeinsam verbrachte Nacht trübt ihre Haltung zueinander nicht. Zumindest sprachen sie nicht darüber – bis zu diesem Abend:
Nachdem sie allerlei Belangloses ausgetauscht haben, macht Anni den Anfang.
»Weißt Du, Holm, an diesem Abend, da ...«
Er spannt seinen Rücken; derlei Gespräche sind nicht sein Gebiet.
Sie spürt seine Anspannung und hakt sich behutsam bei ihm unter. Für einen Moment zuckt er zusammen, dann weicht das Unangenehme dem Vertrauten.
»Es ist nicht so, dass Du an diesem Abend der einzige Unglückliche warst«, erklärt Anni.
Schweigend gehen die beiden einige Schritte. Holm weiß nicht, was er fragen oder sagen soll.
»Ich hatte gerade meine Hoffnungen begraben, doch noch einmal glücklich zu sein«, sagt sie.
Sie bleiben stehen, und Holm sieht Anni fragend an. Meist war es bei ihren bisherigen Gesprächen um das Leben in Huis Doorn, die Sprache oder zuletzt um Piet gegangen.
»Warum?«, bringt er unsicher hervor. »Ich meine, was ist passiert?«
Sie spricht sehr leise, fast ein wenig wehmütig.
»Im Grunde liegt der Anfang der Geschichte schon viel weiter zurück, es ist schon einige Jahre her. Ich hatte damals einen Mann kennengelernt, über die Arbeit im Büro. Vielleicht hast Du ihn schon einmal getroffen: Ihm gehört der Buchladen im Ort.«
Else Böhler, denkt Holm. Er kann sich an den Buchhändler mit der großen Nase gut erinnern.
»Der Kaiser lässt sich täglich aus vielen Zeitungen berichten; einige davon beziehen wir über den Laden. Naja, die Geschichte ist eigentlich schnell erzählt: Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben, wir haben uns ein wenig kennengelernt, dann verabredet, aber ...«
Sie unterbricht den Gedanken.
»Es ist immer das Gleiche! Die Leute finden die Gespräche mit mir anregend und wollen natürlich Geschichten über den Kaiser hören. Man sagt mir, wie angenehm meine Gesellschaft ist, man würde sich über ein Wiedersehen freuen – und so weiter! Das klingt immer sehr freundlich, aber ...«
Sie sucht nach den richtigen Worten.
»Aber ich habe nie das Gefühl, dass mich jemand wirklich will – mich, nicht die Geschichten über den Kaiser! Mich, als Frau! Und das war es dann.«
»Das tut mir leid zu hören. Du hast es seitdem nicht wieder versucht?«, fragt Holm.
Anni zögert einen Moment und atmet einmal tief ein und aus.
»Doch. Weißt Du, Henk – der Buchhändler – er ist so freundlich, so aufmerksam, so friedlich.«
Sie lächelt für einen kurzen Moment, bevor sie ihren Blick senkt.
»Der Mann, den ich danach kennengelernt habe, ist das Gegenteil! Er ist stark, in gewisser Weise sogar skrupellos. Er nimmt sich, was er will. Anfangs hat mir das imponiert, sehr sogar! Aber später – zu spät – habe ich gemerkt, dass das Resultat das gleiche war – nur mit wesentlich mehr Kollateralschäden.«
Holm ist versucht, wütend auf diesen unbekannten Mann sein. Doch in gewisser Weise hatte er Annis Gesellschaft genauso genossen, ohne sein Herz für sie zu öffnen.
»Verstehe mich nicht falsch: Ich will nicht undankbar sein – aber die Sache mit der Liebe habe ich mir irgendwie anders vorgestellt, als ich jung war.«
Holm nickt. »Ich mir auch, ehrlich gesagt. Ich wollte es immer besser machen.«
Besser als Vater, fügt er in Gedanken hinzu. Dieser Vorsatz hatte in seinem bisherigen Leben wenig Früchte getragen.
Als sie die Straße zur Pension erreichen, hält Anni Holm sanft, aber bestimmt zurück. Es fühlt sich an wie in der Nacht vor ein paar Wochen, als sie ihn zurück in sein Zimmer geleitet hat.
»Holm, ich werde alt. Warum werden einige Menschen miteinander glücklich, und andere warten ihr ganzes Leben auf den einen Menschen an ihrer Seite?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet er ehrlich. »Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich hätte diesen Menschen gefunden. Aber vielleicht gab es diese Frau in der Realität nie.«
»Glaubst Du, dass man einen Menschen wirklich lieben kann, ohne beieinander zu sein? Dass man zusammen leben kann, ohne zusammenzuleben? Das es irgendwo jemanden gibt, den man liebt, der aber unerreichbar bleibt?«
»Darauf weiß ich keine Antwort, Anni. Der umgekehrte Fall scheint mir wahrscheinlicher.«
»Wie meinst Du das?«
»Ich denke, sehr viel häufiger leben Menschen eng beieinander, ohne wirklich noch miteinander zu leben. Man teilt Haus und Bett, aber jeder bleibt auf seiner Zinne, um den anderen argwöhnisch zu beäugen.«
Die beiden wenden sich wieder in Richtung Pension. Sie gehen einige Schritte.
»Warum bist Du eigentlich geschieden?«, fragt Anni. Es ist eine Spur zu wissbegierig.
»Woher weißt Du das?«
Sie lächelt. »Es hat manchmal Vorteile, im Büro zu arbeiten. Zum Beispiel, weil alle Personalunterlagen über meinen Tisch gehen.«
Hatte ich das angegeben? Offenbar schon, stellt Holm fest. Es ist ihm höchst unangenehm, dass sie dieses Thema anspricht. Leider ist die Pension noch zu weit entfernt, um einfach schweigend weiterzugehen. Er ringt mit sich – das bleibt auch Anni nicht verborgen.
»Du musst nicht darüber sprechen, wenn Du nicht willst.«
Er schüttelt kurz den Kopf.
Wollen ist nicht das Problem.
Er hatte es in seiner ganzen Zeit in Weener tunlichst vermieden, etwas über seine persönlichen Verhältnisse, seine Familie und seine Ehe preiszugeben. Instinktiv tasten seine Finger nach dem Ring, den er schon lange nicht mehr trägt.
»Es ist ... kompliziert«, bringt er mit einiger Mühe hervor. »Vielleicht ein anderes Mal.«
Beide wissen, dass an diesem Abend nicht alles gesagt ist; dennoch verabschieden sie sich schon ein ganzes Stück vor der Pension. Im Gehen wendet sich Holm noch einmal zu Anni um. Auch sie scheint noch einen Blick zurück zu riskieren.
»Du hast etwas Besseres verdient, als ewig auf die Liebe zu warten«, sagt er leise.
Er glaubt, ein kaum wahrnehmbares Danke zu hören.
So gut Holm unter den Rheiderländern seine Geschichte, seine Familie und seine Gedanken vor der Mitwelt verbergen konnte, umso mehr sieht er sich bei der Arbeit an seinem Tageseintrag zur Auseinandersetzung gezwungen.
Annis Frage wiegt schwer, beinhaltet sie doch echtes, ehrliches Interesse.
Mit dem Brief an Paul hatte Holm einen ersten Schritt getan, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Die Dinge in einem Gespräch, Auge in Auge, offen zu machen, ist eine ganz andere Herausforderung.
Der nächtliche Traum ist kurz, trifft ihn jedoch mit aller Wucht! Diesmal ist keine Anni Brandt in der Nähe, um ihn mit ihrer fürsorglichen Wärme zu beruhigen. Er ist allein in seiner Kammer.
»Vater«, ruft Holm eine Stimme ins Ohr.
»Vater!«
»Ich bin hier ...«, will Holm antworten, aber es kommt kein Ton über seine Lippen.
»Holm!« Eine Männerstimme ruft aus weiter Ferne.
»Ich bin hier ...« Wieder will Holm antworten, aber er bleibt stumm.
»Herr Leinstermann«, sagt das Dienstmädchen Annegret. Sie ist die Erste, die Holm nicht nur hören, sondern durch das Dunkel auch sehen kann.
Holm versucht erneut, sich bemerkbar zu machen. »Ich ...«
Wieder nichts.
Verzweifelt versucht er, zu winken, aber die Frau ist schon fort.
Alle sind fort.
Noch einmal ruft ihn die Stimme.
»Vater!«
Holm erwacht, nass vor Schweiß. Er zittert und ihm ist übel.