Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 16
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»Au, verdammt!«
Es fällt Holm noch schwer, ohne große Umstände vom Fahrrad abzusteigen.
Einen Tag hatte er geruht, sich danach entgegen dem ärztlichen Rat aber wieder mit seinen Aufgaben befasst. Anfangs behinderte ihn die Verletzung vom Fluss sehr, aber im Laufe der Woche war Besserung eingetreten. Nur bei bestimmten Bewegungen hat er das Gefühl, ein Blitz würde in seinem unteren Rücken einschlagen. Als er versucht, das Bein über die Fahrradstange zu heben, ist es wieder soweit.
»Sie bewegen sich wie ein alter Tattergreis«, spottet Annegret, nachdem sie es sich auf der Bank bequem gemacht hat.
Holm blickt sie grimmig an. »Vielen Dank für das Kompliment! Ich möchte Sie mal sehen, wenn Sie sich nur so eingeschränkt bewegen können. Immerhin ...«
»Immerhin was?«
»Äh ... Immerhin bin ich der Rinderherde entkommen, und das zählt!«
»Haben Sie etwa Angst vor Kühen?«
Holm überlegt. Grundsätzlich ist die Wahrheit einfach, aber er will sich keine Blöße geben.
»Naja, nennen wir es Respekt! Es gibt Dinge, vor denen ich wirklich Angst habe.«
Annegret sieht ihn interessiert an. »Zum Beispiel?«
»Wasser! Ich meine, tiefes Wasser! Ich bin kein besonders guter Schwimmer, müssen Sie wissen.«
»Tatsächlich? Das hätte ich gar nicht gedacht.«
Sie sitzen eine Weile beieinander, während Holm darauf wartet, dass die Schmerzen sich verziehen.
Schließlich fragt Annegret: »Hat Jan mit Ihnen gesprochen?«
»Nein. Vielleicht empfindet er es ähnlich wie ich: dass da nichts zu klären ist.«
Die Frau zuckt mit den Schultern. »Typisch Mann! Erst das Maul zu weit aufreißen, und dann die Zähne nicht auseinander kriegen, um die Sache geradezubiegen!«
»Ich denke, es gibt Dinge, über die kann ich hinwegsehen. Jans berechtigte Sorgen gehören dazu.«
»Wenn das Ihre Entscheidung ist, will ich Ihnen nicht widersprechen.« Sie zuckt mit den Schultern und erklärt: »Jan ist gleichzeitig Heißsporn und Schaf. Er regt sich fürchterlich schnell auf, lässt sich aber ebenso leicht einschüchtern und manipulieren. Fragen Sie Ihren Vorgänger!«
Holm muss darüber schmunzeln, wie er Annegret über ihren Verlobten reden hört. Dann fragt er:
»Sagen Sie, dieser Esterberg: Was ist das für ein Mann?«
Annegret wiegt ein paar Mal den Kopf hin und her und lächelt dann.
»Naja, er hat ungefähr Ihre Statur, aber trotzdem eine stattliche Ausstrahlung.«
»Im Gegensatz zu mir, meinen Sie? Vielen Dank für das Kompliment! Ich meinte mehr sein Verhalten.«
Annegret überhört den Einwand und erzählt:
»Er hat Schmiss und weiß, was er will! So viel ist sicher, auch wenn ich ihm nur selten begegnet bin. Ach, ich kann noch nicht einmal sagen, dass ich ihn nicht mochte. Wenn Sie aber die Arbeiter fragen, werden die Ihnen erzählen, dass Esterberg zwischenmenschlich ein paar Groschen an der Mark fehlen! Darüber hinaus hat er immer sehr viel Wert auf Pünktlichkeit und Gründlichkeit gelegt.« Annegret lacht. »Er ist eben durch und durch ein Deutscher! Jan meinte einmal, es würde nirgendwo auf der Welt einen Gärtner geben, der so wenig mit der Schippe und so viel mit dem Stift arbeitet.«
Holm nickt. »Der Umfang und die Detailtiefe seiner Aufzeichnungen sind tatsächlich sagenhaft.« Dann kommt ihm ein anderer Gedanke: »Ihr Verlobter hat sich nicht besonders gut mit Esterberg gestellt, nicht wahr?«
»Das ist eine grobe Untertreibung, Herr Leinstermann! Jan macht täglich drei Kreuze, das Esterberg weg ist! Er hatte enormen Respekt vor dem Mann. Nein, ich glaube, es war Angst.«
»Was ist mit Piet Beurtman? Hatte der auch Respekt vor dem Hofgärtner?«
Annegret zuckt mit den Schultern. »Ja und nein. Das ist sehr kompliziert und verworren. Machen Sie besser Ihre eigenen Erfahrungen mit Piet.«
Holm grinst. »Das habe ich bereits getan – schon vergessen?«
Sie zögert eine Weile, bevor sie antwortet.
»Was Sie erlebt haben, ist nur ein Bruchteil des Puzzles, fürchte ich! Die genauen Zusammenhänge kenne ich auch nicht. Aber ich weiß, dass Piet schon mehrfach Thema bei den Herren vom Dienst war. Vielleicht auch wegen Esterberg – aber das ist nur eine Vermutung.«
Holm kann sich sehr gut vorstellen, dass es zwischen den beiden Männern nicht zum Besten bestellt war – bei allem, was er bisher über seine Vorgänger in Erfahrung gebracht hat.
»Wie dem auch sei«, sagt er und tastet sich weiter vor, »wie ist Piet nun mit Esterberg klargekommen?«
»Was soll ich sagen?« Annegret zuckt mit den Schultern. »Piet ist einer der wenigen hier, die ein Kräftemessen mit Esterberg einigermaßen unbeschadet überstanden haben – von Schwerin und Ilsemann einmal abgesehen, aber das ist eine andere Kategorie. Ich denke, dass Esterberg umgekehrt auch einen gewissen Respekt vor Piet hatte.«
»Fachlich oder menschlich?«
»Das eine kann ich nicht beurteilen; das andere zu behaupten, wäre reine Spekulation.«
»Ich weiß noch nicht so recht, was ich von der ganzen Sache halten soll«, bekennt Holm. »Mir war klar, dass ich hier keine Brache vorfinde. Aber die ganze Vorgeschichte und die dazugehörigen Nachwehen scheinen mir doch recht komplex zu sein.«
»Das Beste wird sein, wenn Sie sich Ihr eigenes Bild machen«, sagt Annegret. »Esterberg ist nicht mehr hier – also müssen Sie sich an die anderen halten.«
Holm nickt und denkt sich seinen Teil. Wenn er in Doorn überleben will, geht kein Weg an dem unbequemen Holländer vorbei. Nicht einmal die Treppe im Dienstgebäude kann er mehr erreichen, ohne die Tür zu Piets Kammer zu passieren.
»Warum machen Sie sich so viele Gedanken über Ihre Vorgänger?«, fragt Annegret. »Sie sind doch jetzt der Hofgärtner!«
»Das ist richtig ...«, entgegnet Holm. »Wissen Sie, während der Anreise nach Doorn habe ich einen Fachkollegen kennen gelernt. Wir haben lange miteinander gesprochen. Während wir uns verabschiedet haben, hat er mich nach meinem Vorgänger gefragt.«
»Und?«
»Er meinte, manchmal wäre es gut, etwas über die Vorgänger zu wissen. Man muss nicht alles so weiterführen, kann sich aber das ein oder andere Fettnäpfchen sparen.«
Annegret lacht. »Ich glaube, Sie sind ganz anders als Esterberg – als Piet sowieso! Haben Sie Vertrauen in sich und tun Sie, was Sie selbst für richtig halten. Vielleicht sind Sie einfach zu zaghaft?«
Könnte sein, denkt Holm und nickt.
*
Ein kurzer Schrei, ein Scheppern, begleitet vom Klimpern einer kleinen Glocke. Adini ist wieder da, diesmal ohne Prinz Eitel als Aufpasser. Wie sie es geschafft hat, sich erneut ein Fahrrad zu organisieren, ist Holm und Piet ein Rätsel. Das Kronprinzenpaar ist weit und breit nicht zu sehen, so dass die beiden Gärtner sich auf den Weg zur gestrauchelten Prinzessin machen.
»Ich will Fahrrad fahren!«, ruft Adini ihnen vorwurfsvoll entgegen, während sie am Boden kauert und sich die Knie reibt. Als Holm und Piet nahe genug herankommen, erkennen sie, dass die junge Frau unverletzt geblieben ist. Der Holländer hat keine Berührungsängste, geht auf Adini zu und hilft ihr auf.
»Prinzessin, was machst Du wieder für Sachen?«, spricht er sie an.
In Holms Wahrnehmung ist es ungewohnt feinfühlig, fast liebevoll. Diese Saiten hatte Piet in seiner Gegenwart bisher nicht angeschlagen.
Adini nimmt den Holländer, ebenfalls für Holm überraschend, in den Arm und beginnt zu schluchzen: »Es geht einfach nicht, Piet! Das ist ungerecht! Cecilie kann es auch!«
Beruhigend streichelt der Gärtner der jungen Frau über den Rücken und entgegnet: »Ich weiß, Prinzessin, ich weiß. Aber das ist nicht schlimm.«
Als wäre er der Vater, denkt Holm, während er die ungewohnte Szene betrachtet. Er empfindet sich als Zuschauer, kein Teil des Geschehens. Das stört ihn: Es fühlt sich falsch an.
Adini hat ihre Stimmung gewechselt und protestiert: »Ist wohl schlimm, Piet! Alle können das, Du auch. Aber ich nicht!« Sie löst sich aus der Umarmung und will das Fahrrad aufheben.
Piet lässt sie und sagt nur: »Vorsichtig, Prinzessin.«
Furchtlos und ohne Erinnerung an den erlittenen Schmerz hebt Adini umständlich das Fahrrad vom Boden auf, streicht selbstbewusst die Haare zurecht und nimmt einen erneuten Anlauf, dem Gefährt ihren Willen aufzuzwingen. Holm will eingreifen, erkennt aber im gleichen Moment, dass es zwecklos ist. Der Wunsch der Prinzessin ist stärker als ihre Vernunft. Adini stößt sich mit den Beinen ab, springt in den Sattel und versucht, das wilde, eiserne Tier unter sich zu bändigen.
Diesmal sind es einige Meter, bevor das bekannte Schlingern einsetzt und sie zu Boden fällt.
Die Szene von kurz zuvor findet eine fast identische Wiederholung, in der Piet seine Rolle ebenso ruhig und zugewandt ausfüllt wie beim ersten Mal.
Endlich kommt der Kronprinz hinzu, ebenfalls auf dem Fahrrad. An seinem Gesichtsausdruck lässt sich ablesen, dass er über den Mut seiner Tochter nahezu verzweifelt ist. Er steigt vom Rad und tritt zu der Gefallenen und ihrem Tröster: »Alexandrine, was machst Du wieder für Sachen?«
Der Kronprinz, inzwischen mehr weiß als grau, aber dennoch in seinen Gesichtszügen jung, fast schelmisch, spricht Piet in einem stark akzentuierten Holländisch an: »Sie müssen die Fahrräder besser verstecken, Piet!«
Der schüttelt den Kopf, löst sich behutsam aus der Umarmung der Prinzessin und entgegnet: »Wenn wir sie noch besser verstecken, finden wir sie selbst nicht mehr wieder!«
Beide lachen über den Scherz, die Prinzessin hat sich weitestgehend beruhigt. Nur Holm steht nach wie vor unbeteiligt daneben, auch wenn er der Unterhaltung sprachlich einigermaßen folgen kann.
»Was macht Mutters Rosengarten?«, fragt der Kronprinz, während er die Hand seiner Tochter hält – vermutlich, damit sie nicht einen weiteren Fahrversuch unternimmt.
»Alles in bester Ordnung. Wir haben kürzlich ein neues Beet angelegt.«
Piet schaut zu Holm, der sich zunehmend fehl am Platze fühlt.
»Darf ich Ihnen übrigens unseren neuen Hofgärtner vorstellen? Das ist Holm Leinstermann.«
Wieder ein kräftiger Händedruck, begleitet von einem schelmischen »Angenehm, dann viel Erfolg mit der Bande hier!«, jetzt auf Deutsch.
Holm erwidert die Begrüßung, wird bei der Bemerkung des Kronprinzen jedoch hellhörig.
Der Prinz wendet sich wieder Piet zu: »Was ist denn aus Obergärtner Esterberg geworden? Habt Ihr den vergrault?«
Der Holländer scheint seine Gefühle im Zaun halten zu müssen, als er antwortet: »Der ist zum Jahresende wieder zurück nach Deutschland.«
Oder dahin, wo der Pfeffer wächst, ergänzt sein Blick.
Nachdenklich runzelt der Kronprinz die Stirn. »Na, lange hat er es ja nicht ausgehalten.« Er war dem ehemaligen Hofgärtner Esterberg nur zweimal begegnet, hatte sich bei diesen Gelegenheiten jedoch ausführliche Klagen über die holländischen Arbeiter anhören müssen. Vielleicht wird sein Nachfolger mehr Glück und Geschick in der Zusammenarbeit haben.
»Ich würde mir gerne den Rosengarten ansehen. Mögen Sie mich begleiten?«, lädt er die beiden anderen Männer ein. Adini blickt traurig auf das Fahrrad, ist ihr Ausflug doch vorläufig beendet. Im Schlepptau ihres Vaters trottet sie den beiden Gärtnern widerwillig hinterher.
Der Kronprinz inspiziert die Gestaltung der Neuanlagen.
»Mutter hätte ihre Freude an diesem Fleckchen Erde gehabt! Ich werde im Sommer wiederkommen, wenn alles blüht!«
Mit der Prinzessin an der Hand geht er einige Schritte durch die Anlage, bis er Holm anspricht: »Wo waren Sie vorher tätig, Herr Leinstermann?«
»In Weener, bei den Hesse Baumschulen.« Er ergänzt: »Allerdings gab es in Möhlenwarf, einem kleinen Ortsteil, eine umfangreiche Parkanlage. Dort habe ich die meiste Zeit verbracht.«
»Interessant«, bemerkt der Kronprinz, als sie ein Beet mit englischen Rosensorten passieren. »Haben Sie Kenntnisse in der Rosenzucht?«
Holm sind fachliche Nachfragen willkommen, führen sie ihn doch auf sicheres Terrain.
»Ein wenig. Es gibt im Hesse-Park ein Rosarium, dessen Pflege auch in meinen Aufgabenbereich fiel.«
Der Kronprinz lacht: »Nun, davon, dass man mal ein paar Rosen schneidet, wird man sicherlich noch kein Züchter.« Belustigt fügt er hinzu: »Von welcher Größe sprechen wir denn?«
Holm schmunzelt, fühlt er sich doch bei er Ehre gepackt.
»Nichts Großes. Um die 5000 Pflanzen«, entgegnet er.
Der Kronprinz nickt beeindruckt.
Um das aktuelle Oberwasser auszunutzen, nimmt Holm das Gespräch in die Hand: »Haben Sie selbst einen Bezug zu Rosen?«
Der Kronprinz schüttelt den Kopf, dann grinst er. »Nein, leider nicht. Ich kann mich sehr für Schönes und Anmutiges begeistern, aber viel weiter reicht mein Interesse ehrlich gesagt nicht.«
Piet macht hinter seinem Rücken eine vielsagend zweideutige Geste und feixt: »Ja, Schönes und Anmutiges!«
Der Kronprinz schaut den Holländer irritiert an, woraufhin Piet das Thema wechselt: »Als Seine Majestät im Exil auf Wieringen5 interniert war, hat er sich als Schmied überaus gut gemacht, erzählt man sich. Von dort hat er übrigens auch seinen fürchterlichen Akzent!«
Die Scherze kommen bei dem Kronprinzen nicht gut an: »So spotten darf nur ein Freund, Piet.«
»Freund? Ich fühle mich geehrt, Majestät!«, frotzelt der Holländer.
»Wie ist die Lage in Deutschland aktuell?«, lenkt Holm das Gespräch in andere Bahnen.
»Das ist eine Frage der Perspektive, junger Mann«, entgegnet der Kronprinz, »und die hängt sehr damit zusammen, wessen Geistes Kind man ist.«
Holm will eine Nachfrage stellen, als das Gespräch plötzlich abbricht.
»Adini!«, ruft der Kronprinz seiner soeben klammheimlich entflohenen Tochter hinterher, die sich mit erstaunlichem Tempo auf dem Weg zu ihrem stählernen Ross macht.
»ADINI!« Doch die junge Prinzessin ist nicht offen für irgendwelche väterlichen Ansprachen.
»Ich will Fahrrad fahren!«, brüllt sie trotzig zurück, während sie sich bereits wieder auf den Sattel schwingt.
Einige Meter, ein Schlingern. Ein kurzer Schrei, ein Scheppern, begleitet vom Klimpern einer kleinen Glocke.
»Scheiße!«, entfährt es dem Kronprinzen.
»Jedes Mal die gleiche Scheiße.«