Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 8

Оглавление

*

Für Ende Januar ist es ein ungewöhnlich freundlicher, klarer Sonnentag. Holm blickt dem Zug nach, der die Gleise aus dem Bahnhof in Richtung Utrecht weiterkriecht.

Da bin ich nun, denkt er.

Vor seinem inneren Auge erscheinen Bilder von seiner Ankunft in Weener vor einigen Jahren. Es ist wie damals: ein Bahnhof, ein Zug, der weiterzieht, der sein Ziel noch nicht erreicht hat. Ein neuer Abschnitt, eine neue Aufgabe. Diesmal heißt der Bahnhof Driebergen-Zeist.

Holm geht einige Schritte, überfliegt die Aushänge in holländischer Sprache, hört unverständliche, aber auf gewisse Weise vertraute Gesprächsfetzen. Menschen umarmen sich zur Begrüßung, Gepäck wird entgegengenommen. Eine junge Frau läuft eilig ihrer großen Liebe entgegen und springt dem Mann in die Arme. Das Pärchen küsst sich innig; sie zerdrückt dabei fast den Blumenstrauß, den er ihr noch gar nicht übergeben konnte.

Holm findet die Treppe hinunter zur Straße und hebt seine beiden Koffer an.

Leicht. Seltsam, wie leicht das Leben ist.

Für einen Moment steht Holm noch still, lässt die Sonne in sein Gesicht strahlen und hört das Stimmengewirr.

Das ist nun also Holland.

An der Straße stehen kahle Lindenbäume, die Beete unten am Bahnsteig sind im Winterschlaf.

Die letzten Stufen liegen noch vor ihm, als er auf einen drahtigen Mann mit schneidigen, südländischen Gesichtszügen aufmerksam wird. Er ist eben aus einem eleganten, silbernen Mercedes ausgestiegen und blickt suchend zur Treppe. Sein Gesicht wirkt mürrisch und wenig einladend. Er überquert zügig die Straße, ohne auf die anderen abfahrenden Fahrzeuge und Radfahrer zu achten.

Als sich ihre Blicke treffen, haben beide den Gesuchten gefunden.

»Herr Holm Leinstermann?«

»Ja, angenehm!«

Das Gesicht seines Gegenübers wirkt plötzlich viel freundlicher.

»Nazzareno Spetti, herzlich willkommen! Werde Sie nach Doorn bringen.«

Der Händedruck ist überwältigend – dieser Mann ist kein Schreibtischtäter.

»Kommen Sie, helfe Ihnen mit dem Gepäck.«

Schwungvoll packt Spetti beide Koffer und trägt sie über die Straße zum Auto. Beim Verladen fällt Holm auf, dass Spetti an den Fingern der linken Hand wohl eine schwere Verletzung erlitten hatte. Als wenn der die Blicke gespürt hätte, erklärt er lächelnd:

»Ach, das! Keine Sorge – hab damals die Hand nicht mehr rechtzeitig aus dem Motorraum gekriegt. Wissen Sie, war nicht immer Aushilfsfahrer – bin eigentlich Mechaniker.«

Die Fahrt ist kurz, so dass sie kaum sprechen. Als sie den Dorfkern von Doorn durchfahren, meint Spetti:

»Ist noch viel Trubel im Haus! Der Achtzigste Seiner Majestät hat viele Gästen gebracht. Hatte alle Hände voll zu tun: holen, fortbringen, ins Dorf fahren, das ganze Gepäck! Das schaffen zwei Chauffeure nicht, da braucht es einen Spetti! Wird vielleicht etwas dauern, bis wir Sie überall bekannt gemacht haben, Herr Leinstermann.«

»Das findet sich«, murmelt Holm halb abwesend.

Seine Majestät ...

Die Zeitungen und Illustrierten hatten in den ersten Jahren nach dem verlorenen Krieg noch regelmäßig über Wilhelm II. berichtet. Seit die Nazis am Ruder sind, scheint der Kaiser von der Presse-Landkarte wie ausradiert. Dafür sind die Prinzen umso mehr im Fokus der Öffentlichkeit, allen voran Kronprinz Wilhelm und August-Wilhelm, genannt AuWi. Richtig verfolgt hatte Holm die Schlagzeilen noch nie – Klatsch und Tratsch sind seine Sache nicht.

»So, sind da.«

Spetti hupt zweimal und hält den Wagen vor einem langgezogenen Backsteingebäude mit zwei Treppengiebeln und mehreren kleineren und größeren Türmen. In seiner Breite verdeckt das merkwürdig geschwungene Bauwerk zusammen mit den umstehenden Bäumen und Hecken das dahinter liegende Gelände. Nur durch das große Tor in der Mitte des typisch holländisch wirkenden Baus kann man eine Parkanlage mit einem schlossähnlichen Gebäude im Zentrum erahnen.

Holm spürt Nervosität in sich aufsteigen. Während Nazzareno Spetti noch das Gepäck aus dem Kofferraum wuchtet, tritt ein Mann aus einer Seitentür im Torbogen. Er trägt sein Haar sauber nach hinten gekämmt und wirkt trotz einer gewissen formellen Steifheit sehr freundlich. Sein Alter ist schwer zu schätzen – Ende 40, vielleicht auch älter. Spetti und Holm begegnen ihm auf halben Weg zum Torgebäude.

»Herr Leinstermann, herzlich willkommen in Doorn!«, ruft der andere Holm entgegen.

Spetti lässt die beiden Koffer aus den Händen gleiten und stellt den bisher Unbekannten vor. Erneut ein kräftiger Händedruck, scheinbar allgegenwärtig in Doorn.

»Darf vorstellen: Major Sigurd von Ilsemann, Flügeladjutant seiner Majestät.«

Eben wollen sich die beiden Deutschen bekannt machen, als sie vom Langbroekerweg her durch ein dumpfes Knattern gestört werden. Als Holm sich umdreht, erblickt er ein unwirkliches Bild:

Auf einer Mischung aus Dreirad, Fahrrad und Motorrad sitzt ein Mann mit Mütze, kupferfarbenem Schnauzbart und Holzklumpen an den Füßen. Hinter seinem Rücken, zwischen den Hinterrädern, thront ein großer Sperrholzaufbau auf der Ladefläche. Der Schriftzug darauf ist wie die Farbe darunter ausgeblichen und verwaschen, aber noch erkennbar: Flottweg, liest Holm mit zusammengekniffenen Augen. Er muss schmunzeln: Der Name scheint Programm zu sein.

Als das Gefährt sie mit ohrenbetäubendem Lärm passiert, grunzt der Fahrer etwas in ihre Richtung. Der Flügeladjutant und Spetti bleiben regungslos stehen und folgen der Lärmquelle mit ihren Blicken.

Nachdem der Mann auf seinem eisernen Ross im Park verschwunden ist, fragt Holm: »Was war das denn?«

Der Major und der Italiener werfen sich vielsagende Blicke zu.

»Das? Ist Ihr Vorgänger«, erklärt Spetti.

»Naja«, wendet Ilsemann ein, »nicht direkt. Das war Piet Beurtman. Sie werden bald Gelegenheit haben, ihn kennen zu lernen.«

Die letzten Worte klingen in Holms Ohren seltsam mehrdeutig.

Spetti empfiehlt sich zurück zum Fahrzeug. Stattdessen übernimmt es Ilsemann, Holm auf einem Rundgang über das Gelände zu führen. Nachdem sie die Koffer im Büro im Torgebäude deponiert haben, machen sie sich auf den Weg durch den Park, der trotz zahlreicher immergrüner Rhododendren noch sehr winterlich-kahl ist.

Majestätische Buchen säumen die Wege, die gut befestigt wirken.

Hauptsache kein Schlamm, denkt Holm.

Besonders nach übermäßigen Regenfällen im Winter hatten sie mit diesem Problem in der Baumschule und im Park häufig zu kämpfen gehabt. Als der alte Hesse das Hauptgelände angelegt hatte, war ein Hauptaugenmerk auf ein ausgefeiltes Entwässerungssystem gelegt worden. Trotz aller Vorzüge konnte dieses Konstrukt aus Gräben und kleinen Kanälen nicht verhindern, dass die Wege sich zuweilen als Rutschpartie entpuppten.

Nach einigen Schritten Gesprächspause übernimmt Ilsemann die Initiative:

»Ich freue mich, dass Sie sich auf den Weg nach Doorn gemacht haben. Hatten Sie eine gute Anreise?«

»Danke, ja. Ich habe im Zug einen Kollegen kennengelernt. Haben Sie noch vielen Dank für das Abholen am Bahnhof.«

»Keine Ursache«, erwidert Ilsemann. »Wissen Sie, Seine Majestät ist sehr froh, einen so erfahrenen Mitarbeiter in seinen Reihen zu wissen. Ihr Empfehlungsschreiben hat bei Seiner Majestät und dem Hofmarschall Eindruck hinterlassen, darf ich sagen.«

Selbst gelesen hatte Holm es nicht. »Es freut mich, dass ich hier arbeiten kann. Pflanzen sind Leben – auch mein Leben.«

Oder das, was davon übrig geblieben ist, fügt er in Gedanken hinzu. Zwei leichte Koffer.

Da sie mehr marschieren als schlendern, bleibt Holm kaum Zeit, um neben dem Gespräch Eindrücke von der Bepflanzung des Parks zu sammeln. Insgesamt wirkt die gepflegte Anlage sehr durchdacht, auch wenn es in der Planung der Wege, Elemente und Sichtachsen im Laufe der Zeit Anpassungen gegeben haben muss.

Sie halten sich links, passieren eine Weide mit einem mächtigen Taubenschlag und überqueren einen breiten Graben.

»Seine Majestät lebt hier seit 1920. Das Haupthaus wurde schon im 18. Jahrhundert in seine heutige Form gebracht, so dass trotz zwischenzeitlicher Erneuerungen einige Umbauten nach dem Erwerb nötig waren«, erklärt Ilsemann. »Zum Haus gehören noch drei Bauernhöfe, sie sind langfristig verpachtet. Zwei liegen direkt hier in der Nähe, einer weiter draußen. Bei diesem letzten Hof ist vor einer Weile der Pächter verstorben; man muss abwarten, wie es dort weitergeht. Normalerweise werden Sie mit den Höfen jedoch nichts zu tun haben.«

Holm hört es, ohne es wirklich zur Kenntnis zu nehmen.

Sie kommen an ein langgezogenes Grün mit üppiger Rhododendronbepflanzung und langen Blumenbeeten an beiden Seiten. Von diesem Standpunkt liegt das efeubewachsene herrschaftliche Haus im Zentrum des Blickfeldes, als wenn hier in früheren Zeiten ein Hauptweg verlaufen wäre.

Rhododendren.

Holm wird sofort aufmerksam. Er hatte bereits im Vorfeld von den Händlern aus Boskoop erfahren, dass um das Haus Doorn eine äußerst vielfältige Bepflanzung unterschiedlichster Herkunft existiert.

Ob es hier ähnliche Schädigungen an den Pflanzen gibt?, fragt er sich.

Ilsemann bemerkt die Aufmerksamkeit seines Gegenübers für die Anlage.

»Dies ist der Hermo-Garten, den Seine Majestät für seine zweite Ehefrau angelegt hat, die Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath.«

Holm wendet sich schnell seinem Gesprächspartner zu. Es ist ihm unangenehm, dass er bei Themen, die seine Arbeit betreffen, immer wieder in Gedanken abgleitet und dann überrascht ist, dass er Gesprächen nicht folgen kann. Im Zug war es ihm bei den Begegnungen mit den anderen Reisenden ähnlich gegangen – bis er auf der letzten Etappe an den deutschen Gartenbauingenieur als Sitznachbar geraten war, dessen Gedanken sich in der gleichen Welt bewegten.

Pflanzen sind mir vielleicht die angenehmere Gesellschaft, seufzt Holm innerlich und folgt Ilsemann weiter in den Park.

»Hier links sehen Sie den Auguste-Viktoria-Rosengarten. Die alte Kaiserin lebte leider nur noch ein knappes Jahr in Doorn – nicht mehr lange genug, um den Garten in voller Blüte zu erleben. Seine Majestät hegt und pflegt die Anlage, als wäre sie sein zweites Herz.«

Verschiedene Elemente, eine große Rosenlaube englischen Stils, eingefasst wiederum in Rhododendren-Hecken. Ein wahrhaft majestätisch wirkender Garten, auch jetzt im Winter.

Was für ein Unterschied zur Blumenwiese für die zweite Frau, grinst Holm.

Rosen zählten früher nicht zu seinem Spezialgebiet, doch hatte er im Rosarium des Hesse-Parks Gelegenheit gehabt, diese Wissenslücke zu schließen. Zum Abschied hatte Holm ein mächtiges Nachschlagewerk zu allen erdenklichen Aspekten der Rosenzucht geschenkt bekommen. Das Buch musste ein Vermögen gekostet haben – man war mit seiner Arbeit zufrieden gewesen. Persönlich mitgeteilt hatte ihm das nie jemand – dafür waren die Rheiderländer Holms Erfahrung nach zu wortkarg, besonders verlegen im Ausdruck von Lob. Dennoch: Das Buch und das positive Empfehlungsschreiben von Luyken sprachen ihre eigene Sprache.

»Wie kommt es, dass es Sie nach Holland verschlägt?«, reißt ihn Ilsemann aus seinen Gedanken.

Es wird ihm aufgefallen sein, dass ich nicht ganz bei der Sache bin, ärgert sich Holm. Schon wieder ...

»Nun«, beginnt er zögernd, »es war ein Entschluss mit Vorlauf. Ich war einige Jahre bei den Späthschen Baumschulen in Berlin. Dort hing im Büro ein großes Foto von Prinz Eitel Friedrich, auf dem er eine Eberesche hier aus dem Park zum 200. Jubiläum der Firmengründung überreicht. Das Bild hat sich mir sehr eingeprägt. Außerdem gab es vor einer Weile einen interessanten Artikel in der Gartenwelt über Doorn; es ging um Tulpenzwiebeln.«

Holm geht langsamer und schaut sich um, als wolle er im Geiste den Park kartografieren.

»Und wenn ich die Anlage hier sehe, dann merke ich, dass ich hier richtig bin! Dieser Eindruck begleitet mich, seit ich von der freien Stelle als Hofgärtner erfahren habe.«

Auch Ilsemann verlangsamt sein Marschtempo und geht ins Schlendern über. »Sie haben sich auf dieses Gefühl hin bei uns beworben?«, fragt er erstaunt. Aber Holm nimmt noch etwas anderes in seiner Stimme wahr, das er jedoch nicht deuten kann.

»Letztendlich ist es für mich wohl nicht so wichtig, wo, und vielleicht auch, unter welchen Umständen ich arbeite. Mir ist wichtig, dass meine Arbeit gebraucht wird. Dass sie an dem Platz, wo ich sie tue, einen Wert hat.«

»Das kann bei uns in Holland so sein?«, fragt Ilsemann nach.

Holm beschleicht das Gefühl, dass ein preußischer Major nicht der richtige Gesprächspartner für solche Themen ist.

»Ja, Herr Ilsemann«, antwortet er. »Und ich möchte mich in den kommenden Tagen möglichst umgehend mit den Aufgaben hier vertraut machen, um mit der eigentlichen Arbeit beginnen zu können.«

»Ich verstehe«, entgegnet Ilsemann schmunzelnd auf den Themenwechsel. »Lassen Sie mich Ihnen noch versichern, dass Ihre Anwesenheit hier tatsächlich gebraucht wird. Insofern täuscht Sie Ihr Gefühl sicherlich nicht.«

Sie kommen an einen freien Platz, an dem ein Holzschuppen mit allerlei Gerätschaften und Unmengen von säuberlich gespaltenem und gestapeltem Brennholz steht. Ilsemann runzelt gequält die Stirn, als sie – nun plötzlich wieder mit schnellerem Schritt – vorbeieilen.

»Wie lange sind Sie schon hier in Doorn im Dienst?«, fragt Holm.

Ilsemann atmet mit Blick zurück auf den Schuppen einmal tief durch, wie um die Fassung zu bewahren.

»Fast zwanzig Jahre«, sagt er.

Zwanzig manchmal sehr lange und mühsame Jahre, fügen seine Gesichtszüge unausgesprochen hinzu.

Mit wachem Auge taxiert Holm während ihres Rundganges die Bepflanzung des Parks. Schließlich führt sie ihr Weg zu einer großen Ansammlung verschiedenster Nadelgehölze.

Das also muss das Pinetum2 sein, von dem die Kollegen aus Boskoop sprachen, schlussfolgert Holm.

Der Major macht einige Bemerkungen, lässt seinen Gast jedoch die Zeit, selbst Eindrücke zu sammeln. Holm macht davon Gebrauch, denn er hat selten die Gelegenheit, eine solche Ansammlung unterschiedlicher Sorten zu begutachten. Um die Geduld seines Gegenübers nicht überstrapazieren zu müssen, belässt er es zunächst bei einem kurzen Überblick.

Ilsemann lächelt zufrieden, bemerkt er doch, wie schnell sich Holm mit seiner Aufgabe auseinandersetzt.

Obwohl er im Gespräch etwas verhalten ist, scheint er genau zu wissen, was er tun muss, beobachtet Ilsemann. Welch wohltuende Abwechslung!

Die letzte Station ihres Rundgangs ist der große Nutzgarten, gelegen hinter dem Dienstgebäude, in dem Teile des Personals untergebracht sind. Alles liegt im Winterschlaf, doch erkennt Holm auf den ersten Blick, dass in Doorn viel Zeit und Energie für den Anbau von Gemüse und Obst verwendet wird. Er selbst würde ebenso viel Fleiß aufwenden müssen, um sich mit den Feinheiten dieser Fachrichtungen vertraut zu machen.

In der äußersten Ecke des Nutzgartens befindet sich ein Holzschuppen mit Anbau. Sie passieren eine ganze Reihe von Beeten, bis sie das Gebäude erreichen; es scheint Holm schon etwas in die Jahre gekommen. Die Fenster in dem grüngestrichenen Erker wecken seine Neugier – und das Flottweg-Motorrad, das quer auf dem Weg davor geparkt ist.

»Das ist unser Tuinhuis. Es ist der Treffpunkt der Gartenarbeiter. Hier nehmen sie üblicherweise auch ihre Mahlzeiten ein«, erklärt Ilsemann.

»Nur die Arbeiter?«

In der Baumschule in Weener gab es keinen Unterschied zwischen Arbeiter, Meister oder studiertem Botaniker. Nur die Mitarbeiter des Büros hatten ihre eigenen Räumlichkeiten; auf deren Gesellschaft legten die Arbeiter allerdings auch keinen gesteigerten Wert.

Ilsemann kratzt sich umständlich am Hinterkopf. »Ursprünglich haben die Männer mit Ihrem Vorgänger in der Personalküche im Dienstgebäude gegessen. Irgendwann ist es Brauch geworden, dass die Holländer im Tuinhuis sitzen. Herr Esterberg hat es dagegen vorgezogen, mit dem deutschen Personal zu speisen oder sich in sein Büro in der Orangerie zurückzuziehen.«

Der Tonfall des kaiserlichen Flügeladjutanten verrät eine gewisse Komplexität hinter der vordergründig einfachen Antwort. Holm beschließt, nicht weiter nachzufragen, sich diesen Zusammenhang jedoch zu merken.

»Soll Spetti Sie und Ihr Gepäck zur Pension bringen?«, fragt Ilsemann nach Ende des Rundganges.

»Ist es weit von hier?«

»Nein, Sie sind daran vorbeigefahren. Gut hundert Meter, dort entlang«, sagt Ilsemann.

»Dann nehme ich die Koffer selbst. Etwas Bewegung wird mir nach der langen Anreise guttun.«

»In Ordnung.« Ilsemann zieht einen Umschlag aus seiner Manteltasche. »Ihren Brief bringe ich gleich auf den Weg.«

Als er mit seinen Koffern aus dem Tor tritt, schaut Holm kurz zurück auf den Park.

Das also ist mein neuer Platz, denkt er. Fast nicht zu glauben.

*

Die Pension Marijke, in der Holm untergebracht ist, liegt ein Stück die Straße hinauf in Richtung Ortskern.

Die Sonne geht unter, die Straßen sind in angenehm orangenes Licht getaucht. Kälte kriecht die Jackenärmel und Hosenbeine hinauf, trotzdem geht Holm langsam. Ein seltsames, undefinierbares Hochgefühl macht sich in ihm breit. Schon häufiger hat er so empfunden, wenn er auf seinem Lebensweg an einem neuen Halt angekommen war: der Auszug aus bedrückender, emotionaler Enge in das eigene Zimmer im Studentenheim, der Umzug mit Sigrid nach Berlin, als er die Stelle bei der Baumschule Späth angenommen hatte. Die Flucht nach der Scheidung aus Hamburg nach Weener.

Und jetzt Doorn.

Er kann das Gefühl nicht beschreiben: eine Mischung aus Vaterstolz und dem Bewusstsein, dass neue Aufgaben auf ihn warten. Das Weiterreisen war wie ein angenehm kühler Luftzug in einem viel zu engen, stickigen Zugabteil, voll Staub und überfüllt von schwitzenden Menschen.

Das eigentümliche Licht weckt Erinnerungen an die Winternachmittage mit seinen Brüdern und Freunden in den Gärten in Hamburg-Blankenese. Jedes noch so kleine bisschen Sonnenlicht wurde ausgenutzt, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten. Die Hände waren oft so ausgekühlt, dass das Waschen mit warmen Wasser eine echte Qual war und die Haut in einen feuerroten, brennenden Belag verwandelte.

Er denkt an Paul, den Brief, malt sich aus, wie es ihm jetzt gehen mag. Die letzten Jahre waren keine guten Jahre für seinen Bruder gewesen. Nach seinem Wegzug aus Hamburg hatte Paul versucht, von Wiesbaden aus seine Laufbahn als Musiker voranzutreiben. In seinen Briefen an die Eltern war immer wieder die Rede von großen Engagements, die angeblich gerade in Reichweite waren. Leider wurde nie etwas daraus, und so musste sich Paul als Pianist zu verschiedensten Gelegenheiten verdingen. Mehr als einmal mussten die Eltern finanziell aushelfen. Im Laufe der Jahre mehrten sich die Nachrichten, dass es Paul gesundheitlich schlecht ginge. Scheinbar war dem unbekümmerten, offenen und durch und durch sympathischen jungen Kerl eine Veränderung widerfahren, die sich eher in seelischen als in körperlichen Leiden ausdrückte. Nachdem Holm Hamburg verlassen hatte, gab es in Familiensachen nur noch gelegentliche Informationen über einen Vetter, der nicht weit von Weener kaserniert ist. Viel war nicht zu erfahren, zuletzt war aber die Rede von einem neuen Krankenhausaufenthalt.

Auf den letzten Metern vor der verglasten Eingangstür ist Holm wieder in der Gegenwart angekommen. Links und rechts am Gebäude gibt es Anbauten mit großzügigen Fensterfronten, die mit hellen, leinenfarbenen Gardinen verhangen sind, durch die ein angenehmer Lichtschein leuchtet. Der Hauptgiebel mit zwei fast bodentiefen Fenstern zeigt zur Straße. Holm tritt ein paar Schritte zurück, um die Pension in ihrer vollen Größe zu betrachten. Zahlreiche beleuchtete Fenster erhellen den Bau, bis hinauf unter das Dach, wo Licht aus einem Aussteck scheint. Dieser Aussteck ist das einzige Element, das die ansonsten perfekte Symmetrie des Gebäudes stört. Da eine Unterbringung im Haus Doorn und den zugehörigen Gebäuden aufgrund der hohen Anzahl der Gäste derzeit nicht möglich ist, wird diese Pension vorübergehend Holms neue Bleibe sein.

Beim Eintreten geht er durch einen Windfang und steht unvermittelt in einem Speiseraum, in dem etwa ein Dutzend Gäste ihr Abendessen einnehmen. Es duftet angenehm nach einem würzigen Eintopf, wenn Holm auch die Vielzahl der Nuancen nicht sicher zuordnen kann. Die Gäste sitzen stumm und zufrieden kauend an ihren Tischen, es scheint zu schmecken. Links hinten im Raum steht eine Tür offen, durch die eine Frau zwei große Kannen hereinträgt, die unmissverständlich den Duft von frischem Kaffee versprühen. Holm werden zwei Dinge bewusst: Zum einen hatte er den Tag über kaum Nahrung zu sich genommen, andererseits war er durch die Reise und die vielen Informationen während der Begehung des Parks stärker ermüdet, als er es an der frischen, kalten Luft wahrgenommen hatte.

Irgendwo im Hintergrund spielt ein Radio-Apparat leise Musik. Kleine Lampen auf den von mächtigen, leinenfarbenen Gardinen umrahmten Fensterbänken tauchen den Raum in ein angenehmes Licht.

»Goedenavond meneer, kan ik iets voor u doen?«

Die Frau, die inzwischen den Kaffee ausgeschenkt hat und von Holm unbemerkt näher getreten ist, wischt ihre Hände in ihrer weißen Schürze ab und wirkt geschäftig. Zunächst ist er irritiert und unsicher, fehlen ihm doch die richtigen Worte, um in der Landessprache zu antworten. Dieses Problem hatte sich ihm bei den Begegnungen zuvor nicht gestellt.

»Guten Abend! Holm Leinstermann ist mein Name. Herr von Ilsemann hat aus Haus Doorn mein Kommen angekündigt.«

Die Frau nickt und bedeutet ihm mit den Händen, sich vorläufig nicht von der Stelle zu rühren. »Een moment, alsjeblieft.«

Sie ruft etwas in Richtung der offenen Tür, was keinen der Gäste zu stören scheint. Da sie vergeblich auf eine Antwort wartet, macht sie auf dem Absatz kehrt und geht.

Nach kurzer Zeit kommt sie mit einer weiteren Frau aus dem Raum, der offensichtlich die Küche beherbergt. Die andere ist groß gewachsen, sehr akkurat. Die beiden Frauen sprechen ein paar Sätze in ihrer Sprache, die Holm nicht versteht. Ilsemanns Namen und Huis Doorn hört er dennoch heraus. Die erste Frau wendet sich wieder den Gästen zu.

»Herr Leinstermann, herzlich willkommen«, spricht ihn die große, schlanke Frau mit verhaltenem Lächeln an. »Herr von Ilsemann hat Sie bereits angekündigt, es ist alles für Sie vorbereitet.«

Oft schon hatte Holm die Gärtner aus Boskoop mit mehr oder weniger starkem Akzent Deutsch sprechen hören. Die Klangfarbe, in der die Frau seine Sprache benutzt, lässt ihn schmunzeln. Andererseits ist er sich bewusst, dass er ihren Kenntnissen nichts entgegenzusetzen hat. Auf seiner imaginären Liste von zu bewältigenden Herausforderungen klettert die Sprachfrage um einige Positionen nach oben.

Holm beginnt, sich unwohl zu fühlen. Zwar achtet keiner der Gäste auf den Neuankömmling; niemand scheint von ihm Notiz genommen zu haben. Trotzdem ist es ein höchst unwillkommenes Empfinden, das er, wann immer möglich, vermeidet. Um dem Zustand keinen Raum zu gewähren, konzentriert er sich auf das Gespräch.

»Ich danke Ihnen sehr. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne mein Zimmer sehen und danach etwas essen.«

»Wie Sie wünschen«, entgegnet die Frau, »heute gibt es Stamppot mit Rookworst. Nehmen Sie einen der freien Plätze, und wenn Sie noch einen Wunsch haben, sprechen Sie mich oder Gesa an.«

Gut riechen tut es zumindest, denkt Holm, auch wenn die Speise auf den Tellern der anderen Gäste etwas undefinierbar bleibt.

Nachdem sie die Modalitäten des Aufenthaltes geklärt haben, bringt Holm über eine für diesen Zweck unangenehm schmale Treppe sein Gepäck zu seinem Zimmer im ersten Stock.

Es ist durchaus geräumig und beherbergt sogar einen kleinen Schreibtisch. Um die Zeit bis zum mit gemischten Gefühlen erwarteten, jedoch sehr benötigten Essen nicht zu weit auszudehnen, packt er zunächst nichts aus, sondern macht sich am Waschbecken frisch. Der Blick in den für ihn etwas zu hoch angebrachten Spiegel lässt Holm innehalten: Was er sieht, macht ihn aufgrund der gesunden Gesichtsfarbe, des noch vollen, blonden Haares und des für sein Alter tadellosen Gesamtzustandes zufrieden.

Was er jedoch in seinen eigenen Augen erkennt, hinterlässt eine Vielzahl von unbeantworteten Fragen.

Zufrieden legt er das Besteck ab – Stamppot steht den schmackhaften Eintöpfen in nichts nach, die im Möhlenwarfer Knotenpunkt serviert wurden. Nur die intensiven Gewürze, die Gesa und die andere Frau reichlich verwendet hatten, erscheinen ihm fremdartig, orientalisch.

Seine Augen suchen nach etwas zu trinken, um den letzten Brocken des frischen Brotes herunterzuspülen, als eine weitere Person von draußen den Speiseraum betritt. Die Frau in den Fünfzigern, gekleidet in einen schwarzen Wollmantel mit passendem Schal und Hut, geht zielstrebig zur Garderobe, begrüßt einige Gäste und schaut sich nach einem freien Platz um. Sie reibt im Gehen kurz die Augen und kommt dann auf Holms Tisch zu. Sie wirkt elegant, aber schwungvoll wie ein junges Mädchen. Sie ist erschöpft, hat aber dennoch eine große Wachheit in den dunklen Augen bewahrt, die zwischen den schon ergrauten Haarsträhnen hindurch funkeln.

Der Radioapparat, dessen Programm Holm zuvor nicht beachtet hat, spielt ein Stück, das er kennt: Solo Hop von Glenn Miller, einen von Pauls großen Favoriten.

»Herr Leinstermann, darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

Holm weiß nicht, was ihn mehr überrascht: Erstens spricht ihn die Frau in lupenreinem Deutsch an, zweitens kennt sie seinen Namen, drittens – und dass wiederum ärgert ihn – war er wieder so in Gedanken versunken, dass er ihr Näherkommen nicht bemerkt hat. »Bitte, nehmen Sie Platz«, bringt Holm zustande. Er ist so perplex, dass er es versäumt, aufzustehen und ihr den Stuhl anzurücken – wohl auch, da er lange nicht in Gesellschaft einer Frau gespeist hat. Er hätte allerdings auch keine Gelegenheit gehabt: Denn ebenso zielstrebig, wie sie sich bisher im Raum bewegt hat, nimmt die Frau Platz und winkt Gesa zu, die eben aus der Küche schaut. Offenbar kennt man sich gut.

»Ich sehe, die erste Mahlzeit in Doorn hat gemundet?«, fragt ihn die Frau freundlich, aber reichlich direkt. Holms Irritation wächst – war ihm etwas entgangen? Sein Gesichtsausdruck verrät allzu deutlich, dass er seine Tischpartnerin nicht zuordnen kann.

»Oh, ich verstehe: zu viele neue Namen heute, was?« Er nickt. Sie steht auf und reicht ihm die Hand – er erwidert die Geste.

»Anna Elisabeth Brandt. Wir haben uns vorhin kurz im Hofmarschallamt gesehen.«

Holm ist froh, dass Sie es mit der Wahrheit ihm zuliebe nicht so genau nimmt: Ilsemann hatte sie einander vorgestellt. Ihre Nachsicht lässt sein Unbehagen weichen.

»Holm Leinstermann, angenehm.« Er ringt sich zu einem Lächeln durch. »Aber das wissen Sie ja schon.«

Gesa bringt das Essen für Fräulein Brandt. Die Frauen wechseln einige Worte in der Landessprache miteinander, die seine Tischnachbarin fließend beherrscht. Holm fällt auf, dass die Deutsche ganz in Schwarz gekleidet ist.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Sie sind heute erst angekommen«, sagt Fräulein Brandt zu Holm. »Sie sind nicht der Erste, der sich Namen und Strukturen im Huis Doorn erst einprägen muss.« Sie beginnt, mit Appetit zu essen.

»Möchten Sie Kaffee?«, fragt sie und sieht sich, ohne seine Antwort abzuwarten, nach einer der Frauen um. Am Eingang zur Küche kommt es fast zum Zusammenstoß, als sich Gesa und die andere Frau gleichzeitig durch die Tür zwängen wollen. Offenbar ein häufig auftretendes Problem, lächeln sich die beiden doch kurz an und gehen dann ihres Weges. Die schlanke, sehr akkurat wirkende Frau kommt mit einer dampfenden Kanne an ihren Tisch. Wiederum folgen eine freundliche Begrüßung und ein paar kurze Sätze auf Holländisch. Holm bemüht sich, zumindest einige Worte zu verstehen, kann aber mit dem Gesprächstempo nicht mithalten.

»Frau Scheepers haben Sie bereits kennengelernt?«

Holm erhebt sich und holt die persönliche Begrüßung nach. Die Frau gibt ihm ebenfalls die Hand und mustert den wunderlichen Gast. Ihm ist das unangenehm.

»Es tut mir leid, dass ich vorhin so abwesend war. Der Tag war sehr ereignisreich, das macht mich manchmal etwas ...« – er sucht nach dem richtigen Begriff, findet aber keinen – »... etwas tüdelig.«

Die zwei Frauen sehen sich an, schmunzeln zunächst und beginnen dann leise zu kichern.

In Holm trifft diese Reaktion einen wunden Punkt. Er runzelt die Stirn und beißt die Zähne aufeinander.

Fräulein Brandt erkennt schnell, dass Holm verlegen ist.

Sie erklärt: »Bitte entschuldigen Sie, den Ausdruck kannten wir noch nicht, weder auf Deutsch noch auf Holländisch.«

Holm ärgert sich, dass er seine Reaktion nicht besser im Griff hatte. Was gewesen ist, sollte keine Auswirkungen mehr auf das Heute haben.

Frau Scheepers ist froh, dass der Deutsche in Fräulein Brandt jemanden zur Seite hat, mit dem er sich verständigen kann. Der Mann wirkt, als könne er etwas Starthilfe brauchen.

Nachdem er seine wenigen persönlichen Sachen im Zimmer verstaut hat, sieht er aus dem kleinen Fenster seiner neuen Unterkunft hinaus in den Nachthimmel. Die Sterne, die in dieser Nacht durch das Dunkel flimmern, haben ihn schon immer fasziniert. Er denkt zurück an die Begegnungen im Huis Doorn, wie der Sitz des alten Kaisers in der Landessprache genannt wird. Nach einer Weile greift Holm zu dem Notizbuch, das er noch in Weener erworben hatte. Einer seiner Entschlüsse für das neue Jahr ist, allabendlich seine Eindrücke und Gedanken des Tages zu ordnen und niederzuschreiben. Er blättert durch den Januar zurück bis zum ersten Eintrag am Altjahresabend. An diesem Tag hatte er das Register der Pflanzen im Hesse-Park in Möhlenwarf abgeschlossen. Es war ein feierlicher, aber gleichsam trauriger Moment. Als er das letzte Blatt aus der Schreibmaschine gezogen und seine Kladde zugeklappt hatte, wusste er: Dieser Abschnitt ist unwiederbringlich Geschichte. Dennoch hatte er etwas Bleibendes geschaffen: Wie die mächtigen Bäume und unzähligen Büsche und Blumen im Park noch lange Zeit Botanikern aus aller Welt Anschauungsobjekt sein werden, würde jeder stets seinen Namen lesen, der in den Unterlagen zum Park forscht.

Er überfliegt seinen Eintrag und bleibt bei dem Vorsatz für das neue Jahr hängen.

Nur zwei kurze Wörter: »Zu Haus«.

Holm greift zu seinem Füller und beginnt, die Ereignisse des Tages niederzuschreiben.

Die Zeit mit Fräulein Brandt hatte sich viel positiver gestaltet, als er es nach dem kleinen Aussetzer vermutet hatte. Sie ist bereits seit fast 15 Jahren in Doorn und damit nahezu so lange mit den Verhältnissen vertraut wie Sigurd von Ilsemann.

Es wird ein ausführlicher Eintrag für einen ereignisreichen Tag.

Holm findet keine Ruhe, als er sich tief in der Nacht schlafen legt. Er würde sich gerne einreden, dass der späte Kaffeegenuss seine Wirkung entfaltet. Doch er weiß, dass die Gedanken an den Tag ihn noch eine ganze Weile beschäftigen werden.

Schließlich – endlich! – übermannt ihn die Müdigkeit.

Leinstermann in Doorn

Подняться наверх