Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 20
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»Es tut mir leid, das zu hören«, äußert Holm sein Mitgefühl, »und Sie können sicher sein, dass ich mit Ihnen hoffe, dass niemals der Ernstfall eintritt.«
Es liegt ihm auf der Zunge, dass er bereits von dem Mobilmachungsbefehl an Jan und andere junge Männer aus dem Dorf weiß, aber er verschweigt die abendliche Begegnung mit Annegret lieber. Es reicht, wenn Piet sie beobachtet hat.
»Danke, Herr Leinstermann, das hoffen wir alle«, sagt Jan. »Ich werde Ihnen eine Nachricht zukommen lassen, sobald die Ausbildung beendet ist und ich zurückkehren kann.«
Diese Ausbildung, wie Jan sie bezeichnet, erinnert Holm unangenehm an die Lehrgänge für Männer der weißen Jahrgänge, wie sie in Deutschland genannt werden: zu jung, um im Weltkrieg gekämpft zu haben – und eigentlich zu alt, um in einen neuen Krieg zu ziehen.
Auch in den Niederlanden führt die allgemeine Mobilmachung zu massenhaften Aufrufen. Holm ist den deutschen Maßnahmen bisher nur durch die Flucht entkommen; zuerst nach Weener, zuletzt nach Doorn. Doch das ist kein Wissen, das er zu diesem Zeitpunkt mit Jan teilen will; der Holländer würde keine Möglichkeiten haben, davonzulaufen.
Holm spürt, dass die Magenschmerzen sich wieder melden.
»Herr Leinstermann, auch wenn es vielleicht bald gegen Ihre Heimat geht: Ich möchte, dass Sie wissen, dass Sie persönlich uns immer gut behandelt haben.«
Jan streckt dem deutschen Hofgärtner die Hand entgegen, die dieser nur zögerlich ergreift. Wieder ein Stechen im Oberbauch.
»Nach dem Streit neulich in Ihrem Zimmer ... Sie wissen, was ich meine? Sie haben mich das nie spüren lassen. Sie sind ganz anders als Esterberg!«
Holm ist die Situation unangenehm, weil er in diesem Moment mit den Gedanken bei Annegret ist. Drückt er eben die gleiche Hand, die der Frau die Verletzung am Hals zugefügt hat?
Nein.
Piet, der im anderen Ende des Schuppens die Werkzeuge für die Holzarbeit im Wald zusammensucht, blickt Holm aus dem Augenwinkel finster an.
Was hat er beobachtet?, geht es Holm durch den Kopf. Er schüttelt die Bedenken ab.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Jan. Ich konnte und kann Ihre Sorgen gut nachvollziehen.«
Er fasst sich ein Herz, drückt die Hand des jungen Holländers fester und fügt hinzu: »Ik wens u alleen het beste, Jan.«
Zum ersten Mal seit Tagen sieht er den jungen Holländer kurz lächeln. Piets Miene entspannt sich etwas: Er zwinkert Holm zu, als wenn er sagen will, dass der Lehrer mit dem Erfolg des Schülers sehr zufrieden ist.
»Dank u, mijnheer Leinstermann!«, antwortet Jan, währendl die Sorgen und die Furcht vor dem Kommenden bleischwer auf seiner Seele liegen.
Holm klopft dem jungen Mann auf die Schulter, und in diesem Moment bricht die Fassade des Holländers. Die Nerven an seinem Kinn beginnen unkontrolliert zu zucken, während ihm Tränen in die Augen steigen. Die Hände der beiden Männer gleiten langsam auseinander.
Holm erträgt den Anblick nicht und wendet sich ab. Wieder trifft ihn ein heftiger Schmerz, als sich seine Eingeweide zu einer Faust zusammenballen. Es fällt Holm schwer, zu atmen. Seine Schultern fühlen sich an, als wären sie durch kalte Stahlbänder versteift und würden ihn wie ein Korsett zusammenpressen. Ein heimtückischer Schwindel befällt seine Sinne, so dass sich Holm reflexartig an der Holzwand des Schuppens abstützt. Ihm wird übel, ohne dass ihn ein Erbrechen schnell davon erlöst. Aus dem Augenwinkel sieht er noch, wie Piet dem jungen Holländer den Arm auf die Schulter legt. Jan sagt etwas, doch Holm hört die Worte nicht mehr.
Dann wird es dunkel; der Strudel des Schwindels reißt sein Bewusstsein in die Tiefe.
Holm lässt die Augen geschlossen, als seine Sinne langsam zurückkehren. Er nimmt Gesprächsfetzen wahr, kann die Worte jedoch nicht ihrem Sinn zuordnen. Der Schmerz in der Magengegend pulsiert noch, hat an Heftigkeit jedoch nachgelassen. Die Trockenheit im Mund wird begleitet von einem bitter-sauren Geschmack, den er am liebsten ausspucken würde.
Holm spürt, dass er von mehreren Händen auf eine Liege oder ein Bett gehoben wird. Unter der Decke, die ihm sorgfältig übergelegt wird, entwickelt sich schnell eine angenehme Wärme und Schwere. Holms Bewusstsein verabschiedet sich langsam wieder in tiefere Sphären, er schläft ein.
Als er erwacht, fühlt sich sein Körper völlig entspannt und warm an. Sein Magen scheint sich beruhigt zu haben. Holm öffnet die Augen und findet sich im Behandlungszimmer der Leibärzte in der Orangerie wieder.
»Da sind Sie ja endlich«, stellt Piet am Krankenbett mit einem Augenzwinkern fest.
Holm schaut sich um – sie sind allein. »Was ist passiert?«
»Ich dachte, das könnten Sie mir sagen«, antwortet der Holländer. Wenn Piet aufgrund seiner Beobachtungen aus dem Fenster argwöhnisch ist, lässt er es Holm nicht spüren.
»Wie geht es Ihnen?«
»Ich bin in Ordnung, denke ich«, antwortet Holm, während er seine Arme und Beine streckt. Es fühlt sich einerseits gut an, anderseits wie ausgelaugt nach starken Krämpfen. Sein Bauch signalisiert ihm durch heftiges Grummeln und Glucksen, dass ein wenig Nahrungszufuhr nicht schaden würde.
Piet nickt zufrieden. »Das freut mich zu hören. Doktor Green wird gleich noch einmal nach Ihnen sehen.«
»Nochmal?«
Der Holländer lacht und erklärt: »Sie waren einige Minuten nicht ansprechbar. Der Arzt hat noch auf dem Holzhackplatz die ersten Untersuchungen gemacht und Entwarnung gegeben.«
Holm ist irritiert. »Wer hat den Arzt gerufen?«
Bevor Piet antworten kann, öffnet sich die Tür und Doktor Green tritt ein. Der Arzt wirkt alt, älter als die meisten deutschen Herren in Doorn. Der schlanke Mann mit einem schütteren silber-weißen Haarkranz geht bedächtig, als wenn er jede Bewegung bewusst auskostet. Die kleine Nickelbrille ist ihm weit auf die Nasenspitze gerutscht, so dass sie jeden Augenblick herunter fallen könnte. Holm war dem Doktor in Doorn bisher nicht begegnet, wahrscheinlich aufgrund der wechselnden Dienste der Leibärzte.
»Na, was macht denn unser junger Patient, Piet?«
Green schlägt dem Holländer unerwartet schwungvoll auf die Schulter, so dass dieser zusammenzuckt. Bevor er antworten kann, hat sich Green einen Hocker an das Krankenbett herangezogen und drückt Holms rechte Hand.
»Herzlich willkommen zurück im Diesseits. Wie fühlen Sie sich, mein Freund?«
Holm erwidert den Händedruck der knochigen Hand und erklärt: »An sich ganz passabel, ich bin nur müde. Und ich habe Hunger.«
Der Arzt schmunzelt: »Das wundert mich nicht! In Ihnen rumort und arbeitet es gewaltig. Aber ich kann Sie beruhigen: Ihr Zusammenbruch hat zunächst einmal nichts mit Ihrem Herz zu tun. Ihr Puls und Blutdruck sind völlig normal, und ich kann auch sonst keine Störungen feststellen. Hatten Sie in der Vergangenheit bereits einmal ähnliche Probleme?«
Holm schüttelt den Kopf. »Nicht in dieser Form. Es gab Phasen, in denen ich Schwierigkeiten mit dem Magen hatte, aber nichts Außergewöhnliches.«
Dr. Green zeigt auf Holms Bauch. »Ich würde Sie gerne noch einmal genauer untersuchen. Machen Sie bitte den Oberkörper frei?«
Die Untersuchung dauert lange, da der Arzt aufmerksam die einzelnen Bereiche seines Bauches betastet, immer wieder zum Stethoskop greift oder Fragen zu Holms Gesundheitszustand und Lebenswandel hat.
»Was haben Sie in den letzten Tagen gegessen, junger Freund?«
Zu wenig, denkt Holm, behält die Antwort jedoch lieber für sich. »Eigentlich ganz normal«, schwindelt er ersatzweise.
»Ihr Bauch macht Geräusche, als wenn Sie kubikmeterweise Luft geschluckt hätten. Hatten Sie in letzter Zeit Probleme mit Flatulenzen?«
Holm ist irritiert, während Piet den Sinn der Frage verstanden hat und kichert.
»Flatu... was?«, fragt Holm.
Der Arzt schmunzelt: »Blähungen. Leibwinde. Furz!«
Doch, durchaus, denkt Holm. An manchem Morgen hatte er das dringende Bedürfnis, das Fenster seiner kleinen Kammer weit aufzureißen, um nicht in den eigenen Gasen zu ersticken.
»Nicht, dass mir das aufgefallen wäre«, lügt er vor Scham.
Der Doktor runzelt die Stirn. »Seltsam! Wie dem auch sei: Ich denke, Sie sollten sich ein paar Tage schonen. Essen Sie regelmäßig kleine, gut verdauliche Mahlzeiten. Meiden Sie alles, was Flatulenzen verursacht oder den Magen belastet.«
»Und ausreichend schlafen«, ergänzt Piet. Holm versteht den Seitenhieb – der Holländer hatte ihn in der Nacht mit Annegret beobachtet, dessen ist er sich spätestens jetzt sicher.
Holm entschließt sich, der Sache auf den Grund gehen: »Was fehlt mir denn?«
Der Doktor hebt den Zeigefinger, während er freudig doziert: »Ein kürzlich verstorbener Mediziner-Kollege, Gott hab ihn selig, hat sich ein paar Gedanken zu Ihrem Leiden gemacht. Ludwig von Roemheld hieß der gute Mann. Die Ohnmacht kommt, wenn Ihr Bauch über das Zwerchfell auf Lunge und Herzbeutel drückt. Dann gehen bei Ihnen die Lichter aus – allerdings nur im Extremfall. Und den müssen Sie vermeiden lernen.«
Holm wird augenblicklich nervös, doch Green kann ihn beruhigen.
»Keine Angst, damit können Sie hundert Jahre werden«, lächelt der Arzt ihn väterlich an. Dann wird er plötzlich sehr ernst.
»Ihre Probleme mit dem Bauch können auch aus der Seele entstehen. Also: Achten Sie auf sich, seien Sie sich selbst ein Freund.«
Leichter gesagt als getan, widerspricht Holm in Gedanken.
Der Arzt geht zum vollgestellten Arbeitstisch, schiebt diverse Utensilien beiseite und macht einige Notizen. Im letzten Moment, bevor sie von der Nase rutscht, rückt Doktor Green seine Brille wieder an ihren Platz.
»Sie tragen einen außergewöhnlichen Namen«, stellt er beiläufig fest.
»Meine Familie ist sehr norddeutsch geprägt. Es hat in der Vergangenheit mehrere Vorfahren mit dem Vornamen Holm gegeben.«
Der Arzt schreibt weiter und wirkt abwesend, bis er den Stift beiseitelegt und sich seinem Patienten zuwendet.
»In der Tat, auch ein außergewöhnlicher Name – aber das meinte ich nicht. Haben Sie Kenntnisse über die Herkunft Ihres Familiennamens?«
Holm schüttelt den Kopf. »Damit habe ich mich nie beschäftigt. Ich kann nur sagen, dass es in Hamburg und Umgebung keine weiteren Namensträger außerhalb der Familie zu geben scheint.«
Der Arzt wirkt angestrengt, als er tief in seinen Erinnerungen kramt. Wieder hebt er den Zeigefinger, um die folgende Erzählung mit schwungvollen Bewegungen zu untermalen:
»Wissen Sie, vor vielen Jahren – es war noch vor dem Krieg – war ich zu Studienzwecken in Hamburg. Als ich mit einigen Kollegen abends ein Lokal im Vergnügungsviertel aufsuchte, spielte dort eine irische Musikgruppe. An den Namen kann ich mich nicht ganz genau erinnern: Leinstermen, Leinsterboys ... Etwas in diese Richtung. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang?«
»Möglich«, antwortet Holm. Sein Name war ihm in der Vergangenheit häufig ein Ärgernis gewesen, so dass er bisher wenig Interesse an einer Aufklärung hatte. Kleinstermann ...
»Wie dem auch sei, die Musik hat uns hervorragend unterhalten, an soviel kann ich mich erinnern«, erklärt Doktor Green, um dann mit einem Schmunzeln fortzufahren: »Und wer weiß, vielleicht wird Hamburg einst wieder das Ziel englischer Gruppen sein – in besseren Zeiten.«
Piet grinst. »Sie meinen sicherlich englische Truppen.«
Das Gesicht des alten Arztes gefriert.
»Um Himmels willen, nein! Ihre Scherze sind im Laufe der Jahre nicht besser geworden, Piet!«
»Entschuldigen Sie, Doktor«, gibt der Holländer mit einem Augenzwinkern klein bei.
Doktor Green reißt den Zettel mit seinen Notizen geräuschvoll vom Block ab und kommt zu Holm.
»So, mein junger Freund! Ich habe ihnen hier einige Dinge notiert, die Ihnen helfen sollten. Beherzigen Sie das bei der Nahrungsaufnahme, und es wird sich bald Besserung einstellen. Ich informiere die Küche und sehe noch einmal in einer Stunde nach Ihnen.«
Im ersten Augenblick ist Holm durch die Verabschiedung von dem alten Arzt abgelenkt. Was er schließlich auf der Liste liest, lässt seine Augen von Zeile zu Zeile größer werden.
Nie im Leben!, geht es ihm augenblicklich durch den Kopf.
*
Nachdem Doktor Green gegangen ist, atmet Holm einige Male tief durch. Sein Körper fühlt sich gut an, und bei Kleinem nimmt das Hungergefühl überhand. Sein Magenknurren entgeht auch Piet nicht, der sich schließlich ebenfalls zur Küche aufmacht, um sich auf die Suche nach etwas Essbaren zu machen.
Er ist gerade fort, da klopft es an der Tür zum Behandlungszimmer. Als Holm sich umdreht, traut er für einen Moment seinen Augen nicht, doch auch sein Gegenüber staunt nicht schlecht.
»Wenn ich auch bisher nicht an das Schicksal geglaubt habe, scheint es zumindest mit Ihnen und mir etwas Besonderes auf sich zu haben«, lacht Holm.
»Jemand hat mal zu mir gesagt, vor mir gäbe es kein Entkommen«, erwidert Annegret. »Aber was tun Sie hier? Sind Sie am Ende wieder mit dem Fahrrad gestürzt?«
Sie stellt ein Tablett mit einer dampfenden Tasse und Gebäck auf dem immer noch überfüllten Arbeitstisch des Arztes ab.
Holm steigt der Duft frischen Kaffees in die Nase, woraufhin sein Magen noch stärker zu knurren beginnt.
»Eigentlich warte ich nur auf mein Frühstück, aber das hat sich ja nun schon von selbst ergeben«, zwinkert er ihr zu.
Sie kommt näher und setzt sich zu ihm an das Fußende des Krankenlagers. Die Nähe weckt in Holm einerseits angenehme Erinnerungen an die Nacht mit Anni Brandt, andererseits schütteln ihn die Gedanken an das abendliche Streitgespräch am Dienstgebäude. Diese Rose hat Dornen.
»Das Frühstück ist leider für den Doktor. Geht es Ihnen wirklich gut?«
Für einen Moment ist Holm im klaren Blick ihrer dunklen Augen gefangen. Sie strahlt eine Selbstsicherheit und Stärke aus, die er bei so jungen Menschen selten beobachtet. Und das, obwohl Jan geht.
»Danke der Nachfrage! Alles in Ordnung, es ist nichts«, schwindelt er.
»Wie Sie meinen«, antwortet sie und steht auf. »Ich muss jetzt wieder gehen.«
Nein!, rauscht es durch Holms Kopf.
Selten war er sich einer Sache so klar wie in diesem Moment. Er hält Annegret am Arm zurück.
»Halt, warten Sie!«
Die Frau ist in ihrem Schwung derart gebremst, dass sie das Gleichgewicht verliert, ins Rutschen kommt und rückwärts auf Holms Krankenbett fällt.
Beide müssen lachen. Doch als sich ihre Blicke treffen, ist es für einen Moment völlig still. Annegret legt den Kopf auf die Seite.
»Was ist?«
Ihr schüchternes Lächeln verzaubert Holm augenblicklich.
Er kann dem Drang nicht widerstehen, Annegret näher an sich heranzuziehen. Sein Verstand schreit ihn an, die Finger von Jans Verlobter zu lassen – just an dem Tag, an dem er eingezogen wird! Doch es ist eine unbändige Kraft, die wie ein Raubtier im Blutrausch die Nähe und Wärme ihres Körpers sucht.
Sein Atem geht schneller, in ihm beginnt es wieder zu rumoren. Annegrets anfängliche Zurückhaltung weicht, als auch sie begreift, auf welchem Gleis dieser Zug unweigerlich seinem Ziel entgegenrast.
Sie lässt es geschehen. Als sich ihre Wangen schon berühren, streichelt Annegrets rechte Hand Holms Oberkörper – dort, wo vor Kurzem die Faust aufgeschlagen war.
Die Berührung nimmt Holm die Luft zum Atmen, seine Eingeweide zerreißen ihn. Es würde ein schöner Tod werden.
In diesem Moment öffnet sich plötzlich die Tür. Das Bild, das sich Piet bietet, bringt Becher und Teller auf dem Tablett aus dem Gleichgewicht. Beides poltert lautstark zu Boden, ohne zu zerbrechen. Drei Herzen bleiben vor Schreck stehen!
Annegret reagiert als Erste, löst sich aus der misslichen Lage und geht in Windeseile zur Tür. Als sie Piet passieren muss, treffen sich für einen Moment ihre Blicke. Das Gesicht des Holländers bleibt regungslos, während Annegret hastig den Kopf senkt. Holm kräuseln sich die Nackenhaare, als sich sein Magen blitzartig zusammenzieht.
Nachdem Annegret die Tür geschlossen hat, beginnt Piet bedächtig, die Reste der Mahlzeit vom Boden aufzusammeln. Der Holländer stellt das Tablett neben das für den Doktor und geht zum Fenster, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stehenbleibt. Nach einer Weile sagt er leise: »Es ist nicht so, wie ich denke. Oder, Herr Leinstermann?«
»Nein, es ist nicht so, wie Sie denken, Herr Beurtman.«
Holm entscheidet sich dafür, sich nicht ohne Gegenwehr seinem Ankläger auszuliefern. »Abgesehen davon: Was denken Sie denn?«
Piet blickt eine Weile stumm aus dem Fenster, bevor er antwortet. »Nun, was denke ich? Ich sehe, wie Sie abends von der Verlobten eines ihrer Arbeiter geküsst werden. An dem Tag, an dem er eingezogen wird, liegt diese Frau hier auf Ihrem Krankenbett. Sagen Sie mir doch, was ich denken soll! Sie haben etwas mit dieser Frau, so sieht es aus!«
Holm will protestieren, doch er weiß, dass er Piet nicht vollends überzeugen kann. Das hat einen Grund: Piets Rückschlüsse sind zwar nicht in Gänze richtig – aber auch nicht völlig abwegig.
Der Holländer wendet sich ihm zu und sieht ihn mit finsterem, feindseligem Blick an:
»Bisher war ich davon überzeugt, dass Sie ein ehrlicher, ritterlicher Mann von großer Reputation sind. Jetzt habe ich Zweifel, ob Sie sich wirklich von Esterberg unterscheiden. Sollte sich bestätigen, wie die Dinge jetzt erscheinen, sind Sie der unehrenhafteste, kleinste Mann, den ich kenne!«
Holm gerät augenblicklich in Rage und richtet sich auf: »Wie haben Sie mich gerade genannt? Kleinstermann?«
»Ja, warum? Wenn jemand in dieser Situation die Verlobte ...«
Holm stützt sich ab und bringt sich auf die wackeligen Beine. Er tritt dem Holländer entgegen.
»Darum geht es nicht, und es ist auch nicht so!«
Er nimmt alle Kraft zusammen und schreit Piet ins Gesicht: »Niemand nennt mich Kleinstermann! Niemand! Erst recht nicht Sie!«
Holms Gesichts wird vom Hals her rot, als die Wut wie eine unaufhaltsame Sturmflut in ihm aufsteigt.
Piet erkennt die Warnsignale, ist jedoch nicht bereit, die Flucht zu ergreifen. So überrascht er von dem Ausbruch seines Chefs ist, so unverständlich bleiben ihm die Hintergründe.
»Was soll das? Wovon reden Sie überhaupt? Sind Sie noch bei Trost, mich so anzublöken?«
Holm atmet schwer, als der Schwindel ihn erneut erfasst. Er gerät ins Wanken und droht zu fallen, doch Piet macht einen schnellen Schritt, packt ihn kraftvoll unter den Armen und schiebt ihn zurück auf das Bett.
»Kleinstermann ...«, stammelt Holm, während sich sein Bewusstsein mit einem freundlichen Winken wieder in die Dunkelheit verabschiedet.
*
»Mein lieber Freund, Sie sollten sich nicht so viel aufregen, das tut Ihnen gar nicht gut!«
Doktor Greens Stirn zeigt einige Sorgenfalten, während er einen Schluck Kaffee nimmt. Er ist kalt.
Der Arzt wendet sich Piet zu. »Ich überlege, ob er nicht im Krankenhaus in Utrecht besser aufgehoben ist – zumindest für ein paar Tage, zur Beobachtung.«
Piet nickt, doch Holm beschwichtigt: »Das wird nicht nötig sein! Ein bisschen Schonung, regelmäßiges Essen, wie sie es angeordnet haben – dann wird es schon bergauf gehen.«
»Wie Sie meinen. Aber achten Sie auf sich! Falls sich Ihr Zustand nicht bessert, melden Sie sich bei mir. Bevor ich nach Magdeburg zurückfahre, möchte ich Sie auf jeden Fall noch einmal sehen.«
»In Ordnung«, stimmt Holm zu – dankbar, einem Krankenhausaufenthalt entgangen zu sein.
Piet begleitet seinen Kollegen nach oben zu den Zimmern im Dienstgebäude. Holm ist noch wackelig auf den Beinen, aber er ist froh, bald in seinem Zimmer alleine sein zu können.
Doch diesen Gefallen tut ihm Piet nicht. Schon nach kurzer Zeit kommt er wiederum mit einer Stärkung vorbei.
Anfangs mit Widerstand, dann begierig stürzt sich Holm auf die Mahlzeit, die aus einem Becher seltsam riechenden Tees und zwei Scheiben Brot mit Honig besteht. Sein Hungergefühl verlangt nach viel mehr, doch die Vernunft rät ihm zum Maßhalten und behutsamen Genießen.
Nachdem Holm zufrieden den letzten Bissen vertilgt hat, macht sich Piet wieder bemerkbar.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?«
»Danke«, entgegnet Holm, während er sich einen Rest des süßen Honigs vom Finger leckt, »das war gut.«
»Sagen Sie, was war das vorhin für eine Sache mit dem kleinster Mann? Warum haben Sie sich so aufgeregt?«
Holm lächelt, der Ärger ist längst verraucht.
»Das ist eine alte Geschichte. In Kindertagen haben sich meine Spielkameraden manchmal über mich lustig gemacht. Alle anderen hatten gebräuchliche Spitznamen: Aus Hans wurde Hansi, Friedrich war Fritz und so weiter.«
»Bei Holm gab es wohl keine kreativen Einfälle?«, mutmaßt der Holländer.
»Sie sagen es. Und da ich bis zu meinem 15. Geburtstag noch weniger mit Körpergröße geglänzt habe als heute, wurde aus Leinstermann der Kleinstermann.«
Holm hält kurz inne, als die Bilder von damals vor seinem inneren Auge spazieren gehen.
Kleinstermann kommt da gar nicht ran!, war ihr Lieblingsreim gewesen, wenn er seinen Kameraden auf ihren Klettertouren durch die Gärten in Blankenese nicht folgen konnte.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischt er die unangenehmen Gedanken beiseite.
»Ich habe es gehasst!«, sagt er aus tiefster Überzeugung.
Piet nickt. »Es ist vorbei, Herr Leinstermann. Ärgern Sie sich nicht mehr darüber, das frisst Sie auf.«
Holm nimmt seinen Becher und trinkt behutsam einige kleine Schlucke des seltsamen Tees, während er zum Fenster heraus sieht. Er weiß, dass diese Episode seiner Vergangenheit vergleichsweise einfach hinter sich zu lassen ist – von der Ausnahme heute vielleicht abgesehen.
»Was Annegret betrifft ...«, setzt er an – doch Piet unterbricht ihn umgehend.
»Herr Leinstermann, im Grunde kann es mir egal sein, was Sie tun oder lassen, und ich bin auch nicht in der Position, Ihnen Vorschriften zu machen ...«
»Das weiß ich«, fällt ihm Holm seinerseits ins Wort, »aber ich möchte trotzdem mit Ihnen darüber sprechen.« Er macht eine kurze Pause und wählt die nächsten Worte mit Bedacht.
»Es bedeutet mir etwas, dass Sie mich verstehen.«
Piet nimmt sich den Stuhl von Holms Schreibtisch und setzt sich zu ihm ans Bett.
»Also gut: Helfen Sie mir, Sie zu verstehen!«
Der Holländer schaut Holm gleichsam erwartungsvoll und herausfordernd an. Das verunsichert Holm ebenso wie die Tatsache, dass sich sowohl seine Gedanken als auch seine Gefühle Annegret gegenüber geschickt jeder Kategorie entziehen.
»Nun, wir sind uns ein paar Mal begegnet und ins Gespräch gekommen, das ist alles«, erklärt er. »Zusammen mit Jan hat sie mich dann hier besucht, ähnlich wie Sie heute. Im Grunde ist es das: zufällige Begegnungen, mehr nicht.«
Piet ist nicht so leicht zu überzeugen. »Das sah aber sowohl unten vor der Tür als auch gerade eben ganz anders aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
»Wegen gestern befragen Sie besser Annegret! Sie war völlig aufgelöst, sicherlich wegen Jans Einberufung. Ich versichere Ihnen, ich habe nichts getan oder gewollt, was unschicklich wäre.«
Holm ist zufrieden mit dieser Aussage, die sein Gewissen vorläufig besänftigt.
»Wie dem auch sei«, entgegnet Piet, »lassen Sie das Mädchen in Ruhe! Es ist und wird schon schwer genug für sie – da braucht es keinen Obergärtner, der ihr das Glück mit Jan verleidet!«
Die Schärfe der letzten Worte hallt in Holms Ohren nach; er wird aufmerksam.
»Es liegt mir fern, jemandem zu schaden, das verspreche ich Ihnen«, setzt Holm ruhig an, um dann genauer nachzufragen. »Aber warum Obergärtner? Wovon reden Sie?«
Der Holländer schweigt und blickt zur Seite, doch Holm lässt nicht locker.
»Piet? Ich habe Sie etwas gefragt.«
Nach einem Moment des Widerstandes gibt Piet auf. Wie von einer Last befreit sagt er nur ein Wort: »Esterberg.«
Holm ist es leid, immer wieder mit Andeutungen und halben Geschichten über seinen Vorgänger abgespeist zu werden, und richtet sich im Bett auf.
»Was ist denn nun schon wieder? Der Kerl hat anscheinend überall seine Spuren hinterlassen. Sagen Sie nicht, Annegret hat sich mit ihm eingelassen – das nehme ich Ihnen nicht ab.«
Piet schüttelt den Kopf. »Nicht Annegret«, korrigiert er, »sondern Anni Brandt.«
Seine Stirn zeigt tiefe Sorgenfalten, als er erklärt: »Es ist schief gegangen, sogar mehr als das! Der Blödmann hat sie doch nur ausgenutzt – das hat jeder gewusst, der die Geschichte mitbekommen hat. Jeder, außer Anni Brandt natürlich! Die schlichte Seele ist ihm zuletzt nach Deutschland nachgereist, um die Sache irgendwie zu retten. Danach war sie ein paar Tage nicht mehr sie selbst. Dieser Scheißkerl!«
Holm macht große Augen. »Wann war das?«
»Weiß ich nicht mehr genau. Das heißt, doch! Ungefähr in der Zeit, als Sie und Ilsemann mich das erste Mal in meiner Wohnung aufgesucht haben.«
»Oh«, sagt Holm, während sich die Gedankenfetzen wie ein Puzzle zusammenfügen.
Das erklärt einiges. Zum Beispiel die nächtliche Begegnung auf dem Flur der Pension Marijke.