Читать книгу Leinstermann in Doorn - T. Janssen - Страница 19
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Er legt das Lehrbuch und Else Böhler zur Seite.
»Ich habe noch eine Frage ...«, setzt Holm an.
»Wie wäre es mit einer neuen Regel für unser Frage-Antwort-Spiel?«, unterbricht ihn Annegret mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das zu meinem Vorteil ist – wenn Sie es schon so vorschlagen. Sie haben sich das schön zurechtgelegt, und ich stehe dumm da.«
»Ach kommen Sie«, ermutigt Annegret und klopft ihm auf die Schulter. »Nun geben Sie sich mal einen Ruck! Vertrauen Sie mir!«
»In Ordnung«, entgegnet Holm, »ich vertraue Ihnen.«
»Gut! Wir machen es so: Wir stellen uns abwechselnd jeweils drei Fragen, die man mit Ja oder Nein beantworten kann.«
»Wo ist der Unterschied zu vorher?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Wir verpflichten uns beide, die Wahrheit zu sagen.«
»Oh, ist das neu? Haben Sie das bisher nicht getan, wenn wir uns unterhalten haben?«
Plötzlich wird Annegrets Gesichtsausdruck sehr ernst.
»Ich lüge nie, Herr Leinstermann! Vielleicht spare ich das ein oder andere Detail aus, aber ich lüge nicht! Schon gar nicht, wenn es anderer Menschen Schaden ist. Merken Sie sich das!«
»Ich schreibe es mir hinter die Ohren«, entgegnet Holm. »Gibt es weitere Bedingungen?«
»Ja: Keine Rückfragen oder Anmerkungen zu den Fragen! Weder zum Inhalt noch zur Intention, warum die Frage gestellt wurde. Abgemacht?«
»Abgemacht.«
Annegret grinst: »Sie beginnen!«
»Was? Ich muss erst überlegen, das kommt etwas plötzlich.«
»Sie hatten doch vorhin eine Frage?«
»Ja, aber jetzt ...«
»Überlegen Sie nicht zu lange! Sie wissen, meine Zeit ist ein kostbares Gut.«
»Also«, macht Holm den Anfang, »hatte Schwerin einmal was mit Anni Brandt?«
»So eine blödsinnige Frage!«, lacht Annegret. »Aber ich denke, die Antwort ist Nein.«
»Es war nur ein Test«, erklärt Holm. »Mir ist so schnell nichts anderes eingefallen.«
»Hab ich mir gedacht. Ich bin dran. Hatten Sie vor Ihrer Frau eine andere Liebschaft?«
»Nein.«
Das ist die schlichte Wahrheit. Vor und nach Sigrid hatte es niemanden gegeben. Abgesehen von der Begegnung mit Anni Brandt in der Pension, aber das war etwas ganz anderes.
»Sie sind dran!«
»Werden Sie Jan heiraten?«, fragt Holm.
Annegret zögert, dann antwortet sie: »Vermutlich Ja.«
Einen Augenblick ist es still zwischen beiden.
»Sind Sie ein freier Mensch?«, ist Annegrets nächste Frage.
Holm pustet aus den Backen. »Sie können Fragen stellen ...«
»Von mir aus grübeln Sie; aber antworten Sie mit Ja oder Nein!«
Eigentlich muss Holm nicht lange nachdenken. Es gibt zwei Wege, sein Leben auf diese Frage hin zu durchleuchten. Der eine ist, dass er vor allem in den letzten Jahren seine Wege selbst gewählt hatte. Niemand hatte ihn gezwungen, bei Hesse anzuheuern oder die Stelle in Doorn anzunehmen. So gesehen ist er frei.
Andererseits gab es Beweggründe für seine Wahl. Die Umstände hatten ihm nahegelegt, seinen angestammten Platz zu verlassen und die Weite der Fremde zu suchen. Er war geflohen, mehrmals, und er weiß es. So gesehen war er nie frei in seinen Entscheidungen gewesen – und ist es vielleicht heute noch nicht, obwohl Doorn ihn der Freiheit weiter entgegenbringt.
»Nein«, ist seine Antwort.
Keine Reaktion von Annegret. Sie sitzt einfach da.
Holm denkt über seine nächste Frage nach.
»Gibt es etwas, was Sie an Ihrem Leben gerne ändern würden?«
Annegret lächelt, aber es wirkt bitter. »Ja.«
»Was?«
Statt einer Antwort bekommt er einen Tadel:
»Keine Nachfragen, Herr Leinstermann!«
Dann stellt Annegret ihre letzte Frage:
»Sind Sie glücklich, so wie Sie leben?«
»Ja, ich denke schon. Es gibt immer Dinge, die ...«
»Nur Ja oder Nein, Herr Leinstermann. Ist Ihre Antwort Ja?«
»Ja.«
Es erstaunt ihn selbst, wie einfach ihm dieses Wort fällt. Glücklich ist der falsche Ausdruck, das weiß er. Zufrieden würde es besser beschreiben, aber auch nur in Grenzen. Aufbrechen, hinter sich lassen, woanders Ankommen, sich zurechtfinden – er hat keinen Namen für das Gefühl, das ihn weitertreibt.
»Wissen Sie«, sagt Annegret nach einer ganzen Weile, »als ich größer wurde, hat mein Vater – also, der Eisenbahner – mich oft gefragt, ob ich glücklich bin. Und es ist seltsam! Selbst wenn ich mir morgens absolut sicher war, dass dem nicht so ist – wenn er mich gefragt hat und wir darüber sprachen, dann wusste ich: Ich bin glücklich.«
»Was hat er Ihnen denn gesagt?«
Annegret schüttelt den Kopf. »Eigentlich nicht viel. Er hat zugehört, mal nachgefragt. Nichts Weltbewegendes.«
»Wie war Ihr Vater?«
»Er war gut zu mir. Es machte für ihn keinen Unterschied, dass ein Anderer ... Sie wissen schon. Das ist auch so geblieben, als meine kleinen Schwestern geboren sind.«
Holm nickt.
»Vater wollte mit mir reisen. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich an seinen Lippen gehangen habe, wenn er von den Zügen erzählt hat! Manchmal ist er mit mir zum Stellwerk in Maarn gegangen. Das waren die schönsten Tage – und ja, ich war wirklich glücklich.«
Sie lächelt, als wäre dieses Glück noch greifbar.
»Ich habe jahrelang jeden Cent zurückgelegt, um Fahrkarten für mich und Vater kaufen zu können.«
»Davon ist jetzt nichts mehr übrig, nehme ich an.«
»Sie sagen es! Es ist nicht einfach, die Familie durchzubringen. Jeder muss seinen Beitrag leisten. Aber es ist ohnehin vorbei. Er ist tot – und mit ihm dieser Traum.«
»Das tut mir leid«, sagt Holm, aber Annegret überhört seine Worte.
»Wir wollten mit der Eisenbahn die Welt entdecken! Vater hat immer gesagt, dass die Gleise von Utrecht aus in alle Himmelsrichtungen gehen.« Ihre Augen glänzen, als sie weiterspricht. »Gott, was habe ich davon geträumt! Ich ahnte, es würde nie so werden wie in meinen Träumen. Und trotzdem habe ich es geliebt, weiter zu träumen. Verrückt, oder?«
»Sie werden eines Tages diese Gleise befahren«, entgegnet Holm. »Wenn ich irgendwie kann, werde ich dafür sorgen. Das verspreche ich Ihnen!«
»Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Leinstermann«, flüstert Annegret vor sich hin. »Sie wollten wissen, wie Vater war? Ich glaube, er hat oft das gesehen, was einmal sein könnte. Soweit es ihm möglich war, hat er an diesen Träumen festgehalten. Er hat Wert darauf gelegt, dass ich eine gute Schulbildung erhalte, um später viele Türen offen zu finden. Ich weiß auch, dass er in einer extra Schatulle Geld zurückgelegt hat, damit die Kleinen später einen guten Start haben.«
Holm schüttelt den Kopf und entgegnet: »Für meine Eltern wären das alles nur Hirngespinste gewesen. Ich glaube, Vater war einfach nur wichtig, dass ich etwas Bodenständiges mache. Aber darüber hinaus? Nein.«
»Naja, diesen Wunsch haben Sie ihm als Gärtner doch mehr als erfüllt?«
Holm lacht. »Wenn Sie so wollen, ja. Er hat sich fürchterlich geärgert, als ich die Stelle im Kontor meines Schwiegervaters ausgeschlagen habe. Naja, dazu muss man sagen, dass einer meiner Brüder als Musiker durch die Lande gezogen ist und sich damit aus Vaters Sicht mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt verdient hat.«
»Warum hat? Tut er das jetzt nicht mehr?«
Holm zögert einen Augenblick, bevor er weiterspricht. »Er ist krank und befindet sich seit längerem in einer Heilanstalt.«
»Wird er wieder auf die Beine kommen?«
Wieder zögert Holm. Wunsch und vermeintliche Wahrheit ringen miteinander um die Antwort.
»Nein. Ich fürchte, nein.«
»Das tut mir sehr leid, Herr Leinstermann. Das muss schwer für Sie sein – zumal Sie hier in Doorn sind und Ihr Bruder in Deutschland. Haben Sie Kontakt zu ihm?«
»Ja, wir schreiben uns von Zeit zu Zeit.«
Annegret hat nicht den Eindruck, dass Holm an einer Fortführung des Themas interessiert ist.
»Was ist mit Ihrer Mutter?«, fragt sie stattdessen.
»Das ist schnell erzählt«, entgegnet Holm, »für sie ist jeder auf dem richtigen Weg, der nur fromm genug ist.«
»Oh«, schmunzelt Annegret, »Sie klingen nicht so, als hätten Sie diesem Ideal entsprochen.«
»Sie ist kein schlechter Mensch und wollte auch für niemanden etwas Schlechtes. Belassen wir es dabei.«
»Es scheint Sie nicht besonders froh zu machen, wenn Sie an Ihre Familie denken, Herr Leinstermann.«
Holm lacht bitter, dann schaut er Annegret lange an. Schließlich sagt er: »Besser, ich spreche an dieser Stelle nicht weiter über mich. Aber Sie haben recht, gewissermaßen. Mein Bruder ist da vielleicht eine Ausnahme.«
Annegret nimmt plötzlich seine Hand und streichelt sie sanft, wie eine Mutter ihr Kind beruhigen würde. »Ich glaube, Sie sind ganz in Ordnung, Herr Leinstermann. Etwas wunderlich vielleicht, aber in Ordnung! Ich hoffe, wir können uns bald wiedersehen, denn ich muss jetzt fahren.«
»Bleiben Sie noch, ich ...«
»Es tut mir leid, es geht nicht«, sagt Annegret, während sie sich schon auf das Fahrrad schwingt.
»Lesen Sie weiter in Ihrem Buch, Sie machen gute Fortschritte!«
Holm schüttelt verwirrt den Kopf, als er der jungen Frau nachsieht. Schließlich nimmt er Else Böhler und sein Lehrbuch wieder zur Hand und kämpft sich durch Vestdijks Gedanken. Das vertreibt die eigenen, und das tut im Augenblick gut.
*
Hub6, 26.05.1939
Lieber Bruder,
Ich schreibe Dir nun aus dem Badischen! Man hat mir von Seiten der Ärzte geraten, mich nach Möglichkeit in die Kreispflegeanstalt in Hub, am Rand des Schwarzwaldes, verlegen zu lassen. Hier gäbe es eine speziellere Behandlung für meine Hysterie. Da mir durch die Medikamente nur kurzfristig geholfen werden konnte, habe ich diese Möglichkeit ergriffen, mich meiner Krankheit (und das ist es für mich!) zu stellen und auf eine langfristige Besserung zu hoffen.
Erstaunlicherweise waren unsere Eltern sofort einverstanden, den nötigen finanziellen Beitrag zu leisten. Wenn man es im Guten betrachten will, hat Vater diese Art der Hilfe stets dem persönlichen, zugewandten Gespräch vorgezogen. Vielleicht ist es aber einfach so, dass er es leid ist, sich das Elend seines nutzlosen Sohnes weiter mit anschauen zu müssen. Er ist, wie er ist, Du kennst ihn! Mutter wird mir dagegen in nächster Zeit fehlen, denn ich rechne mit einem längeren Aufenthalt. Sie hat mir zum Abschied eine kleine Taschenbibel überlassen. Beim Durchblättern ist mir aufgefallen, dass sie einige Passagen für mich angestrichen hat. Typisch Mutter!
Ich bin nun in der zweiten Woche hier und habe erste Eindrücke gewonnen. Zumindest hat man bereits kurz nach der Ankunft ein Gespräch mit mir geführt und sich ausführlich mit meinen Unterlagen auseinandergesetzt. Man legt hier großen Wert auf Beschäftigung, was mir im Vergleich zu der Zeit im Krankenhaus sehr entgegenkommt. So habe ich bereits mehrere Stunden im Anstaltsgarten gearbeitet; wir sind also gewissermaßen Kollegen, Holm! Durch Deinen Brief war ich ja über die Schäden an den Rhododendren informiert und habe mir bei meinen Spaziergängen verschiedene Pflanzen angeschaut. Allerdings ohne Ergebnis: Hier sieht alles gesund aus. Was für eine Ironie: Alle sind hier krank, aber die Pflanzen sind gesund!
Auch in der Bäckerei habe ich bereits geholfen. Vielleicht lerne ich hier endlich, kleine Brötchen zu backen – wie Vater es immer vorschlug, wenn ich ihn früher um Geld bitten musste.
Die Anstalt verfügt über mehrere Abteilungen, die im Ort verteilt liegen. Meine Abteilung (»Psychiatrische Leiden«) liegt etwas abseits der Straße nach Neusatz. Wir leben in großen Gebäuden auf einem weitläufigen Areal, in dessen Mitte sich das Haupthaus mit der Küche, Speiseraum und einer Anzahl an Behandlungs- und Ärztezimmern befindet. Mein behandelnder Arzt ist ein junger Mediziner, Doktor von Fresenburg. Im Gegensatz zu den Ärzten im Krankenhaus in Hamburg hat er sich viel Zeit genommen, um mit mir über meine Vergangenheit und die Entwicklung der Krankheit zu sprechen. Ich hatte den Eindruck, sein Stift stand während des Gespräches gar nicht mehr still und beschrieb unablässig eine Art Aufnahmeformular. Auch die Pfleger sind zumindest menschlich und vermitteln mir das Gefühl, dass es hier mit mir vorankommen kann. Der Anstaltsleiter, Doktor Geering, hat sich mir ebenfalls bei einer Untersuchung vorgestellt.
Was ich allerdings bei meinen ersten Rundgängen an Leidensgenossen gesehen oder in Erzählungen gehört habe, hat mich sehr erschrocken! Ich habe Menschen gesehen, die in einem geschlossenen Flur ziellos auf und abgehen, ohne jede Regung der Gesichtszüge. Einige wiegen dabei fortwährend mit dem Oberkörper vor und zurück, andere gehen so steif und unbeweglich in den Gliedern, als wenn alle Gelenke in viel zu feste Verbände gewickelt wären. Hermann, ein älterer Patient aus meinem Haus, berichtete von elektrischen Schocks, die einigen Patienten zur Lebensrettung verabreicht werden. Diese Menschen verweigern stumm jede Nahrung und wirken völlig in sich versunken, so dass sie innerhalb weniger Tage versterben würden. Die armen Teufel! Allerdings halten sich auch Gerüchte, dass es neben den Stromstößen noch andere Schockbehandlungen gibt, die nicht nur an den regungslosen Patienten erprobt werden.
Besonders unter den älteren, männlichen Patienten finden sich viele, die das Grauen des Weltkrieges seelisch nicht verkraftet haben. Die Bilder im Kopf lähmen immer noch den ganzen Körper. Laut Hermann mussten einige gänzlich neu das Laufen erlernen – wie kleine Kinder! Insofern bin ich froh, dass es mich nicht schlimmer getroffen hat. Zuletzt hatte ich zwar nachts häufiger wieder Anfälle von Angst und Zittern, kann aber tagsüber ohne große Einschränkungen an Behandlungen und Beschäftigung teilnehmen.
Zu denken gibt mir der Zustand der alten Soldaten. Wie hat Vater das alles erlebt? Manchmal frage ich mich, ob in seinem Innern nicht doch die Erinnerungen nagen, besonders was den Stellungskrieg in Frankreich betrifft. Vielleicht erinnerst Du Dich, wie unser Vetter einmal bei einem Besuch den Tod von Onkel Helmut und Onkel Franz im Kampf von Gumbinnen erwähnte. Mutter hat das sehr getroffen, sie musste seinerzeit unter Tränen den Raum verlassen. Vater dagegen war hart und abweisend. »Krieg ist Krieg«, Du kennst ihn. Heute ist von Mackensen ein gefeierter alter Herr, damals sind ihm die Soldaten scharenweise weggestorben!
Nun habe ich wieder viel über mich und meine Gedanken geschrieben – aber wie geht es Dir? Kommst Du mit den Gartenarbeitern zurecht? Und wie ist das Leben in Doorn, außerhalb des Hofes?
Dass Du Heinrich und Agnes vermisst, verstehe ich gut. Als Mutter und Vater mich nach meinem letzten Besuch in Hamburg zum Zug begleitet haben, haben Deine Kinder sich ebenfalls am Bahnhof eingefunden, um mich zu verabschieden. Die alten Villers haben sie gebracht, blieben aber mit dem Fahrer außerhalb des Gebäudes – wohl um die Begegnung mit Vater und Mutter zu vermeiden.
Die Kinder sind seit unserer letzten Begegnung noch einmal kräftig gewachsen, so kommt es mir vor. Heinrich ist ein feiner, junger Herr, hat sich aber sein verschmitztes Spitzbubenlächeln bewahrt. Agnes ist noch Kind und zeigt ihr Missfallen nach wie vor durch die ihr eigene Verweigerung. Aus dem abfahrenden Zug konnte ich noch erkennen, wie sie mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf bockig am Bahnsteig stehen blieb, als Heinrich schon unseren Eltern zum Ausgang folgen wollte.
Es steht mir als Dein jüngerer Bruder nicht zu, Dich mit Fragen nach der Vergangenheit zu belästigen. Aber ich habe nie ganz verstanden, was den Bruch mit Sigrid – und damit auch den Kindern – verursacht hat. Dass unsere Familien sehr unterschiedlich sind, liegt auf der Hand. Und sicherlich hat Sigrid – bei allem Respekt – Seiten an sich, die manchmal nur schwer ertragbar sind. Dennoch hätte ich Euch gewünscht, dass Ihr Euren anfangs so guten Weg gemeinsam weitergehen könnt. Du schreibst, dass Du viele Fehler begangen hättest – aber tut das nicht jeder Mensch, gerade in der schonungslosen Nähe einer Ehe?
Du musst mir darüber nicht schreiben, wenn Du nicht willst. Aber vielleicht hilft Dir das Aufschreiben weiter, wie mir hier die Gespräche mit den Ärzten – hoffentlich! – Erleichterung bringen.
Übrigens hat mir Mutter vor meiner Abreise noch mitgeteilt, dass Walter derzeit nicht weit von hier stationiert ist, und zwar in Rastatt. Sollte es tatsächlich zu einer Revanche mit den Franzosen kommen, hat er wenigstens einen kurzen Anmarsch.
Ich werde mich nun ein wenig an das alte Hausklavier setzen. Es ist in erbärmlichem Zustand, erfüllt jedoch noch leidlich seinen Zweck. So habe ich das Gefühl, der Musiker zu sein, der ich immer sein wollte. In gewissem Sinne hatte Vater also recht: Ich war verrückt, als ich Musiker werden wollte! Jetzt bin ich in einer Anstalt für Verrückte – und spiele für Verrückte. Was für ein Witz, Holm!
Ich wünsche Dir eine gute Zeit und freue mich auf Deinen nächsten Brief!
Frühsommerliche Grüße,
Dein Paul
*
»Das Experiment scheint fehlgeschlagen zu sein.«
»Ganz Ihrer Meinung«, antwortet Piet, während er aufmerksam den grünen, äußerst kräftig und gesund wirkenden Sprössling inspiziert. »Ich frage mich allerdings, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist.«
»Wir müssen uns etwas anderes überlegen, um dem Problem auf die Spur zu kommen. Offenbar sind wir auf einer völlig falschen Fährte.«
Holm schließt den Deckel des umfunktionierten Aquariums wieder und macht sich eine Notiz in seinen Unterlagen. Immer noch nichts Konkretes! Die Schäden an den Pflanzen verteilen sich auf den gesamten Park, so dass eine Infektion durch einzelne andere Pflanzenarten ausgeschlossen werden konnte. Bis auf kleine, gelbe Larven hatten sie noch nichts gefunden, was sich sinnvoll in einen Zusammenhang bringen ließ. Jedenfalls war ihr Versuchsobjekt nicht befallen.
So beiläufig wie möglich wechselt Holm das Thema, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen: »Dieser Esterberg – was war das eigentlich für ein Typ?«
Piets Rücken spannt sich, er atmet einmal tief durch. Dann scheint er sich eines Besseren zu besinnen und zeigt sein in den letzten Wochen allgegenwärtiges, verschmitztes Lächeln: »Sie meinen Ihren Vorgänger? Warum fragen Sie mich das?«
Holm macht einen letzten Vermerk, schlägt seine Kladde zu und erwidert das Lächeln seines holländischen Gefährten. »Manchmal ist es gut, wenn man die Vergangenheit kennt und aus ihr lernt.«
Piet muss lachen: »Die Vergangenheit kann man nicht ändern, nur die Zukunft – habe ich gehört.«
Treffer!, denkt Holm. »Man könnte meinen, Sie sträuben sich, über den Mann zu reden«, spielt er Piet den Ball erneut zu.
Der Holländer winkt ab: »Ganz so ist es nicht. Nur, fürchte ich, fällt die Antwort auf Ihre Frage nicht gerade besonders ritterlich aus.«
Holm breitet unschuldig die Arme aus. »Wirke ich auf Sie besonders ritterlich?«
Piet schmunzelt, während er mit seiner Antwort zögert. Ja, beschließt er innerlich: Wenn die Frage ernst gemeint wäre, dann ist die Antwort Ja.
»Nein, natürlich nicht.«
Als Holm ein künstlich beleidigtes Gesicht macht, schiebt Piet schnell hinterher: »Ein kleines bisschen vielleicht.«
Da der Holländer nach wie vor keine Anstalten macht, die Frage nach Esterberg zu beantworten, macht Holm den Anfang:
»Wie Sie wissen, war ich einige Jahre in Weener, nicht weit von Groningen übrigens. An sich lief es dort ganz gut; mein Chef, Otto Luyken, hatte wirklich Ahnung von seiner Arbeit. Auch mit den Arbeitern gab es wenig Probleme.«
Dass es auch in Weener unter den Arbeitern den Hang zur Trinkerei gab, spart Holm an dieser Stelle lieber aus. Die Schnapsfabrik gegenüber dem Stammsitz hatte einige Symbolkraft.
»Warum sind Sie dann aus diesem Paradies geflohen?«, fragt Piet schnippisch.
Holm winkt ab: »Das hatte mehrere Gründe.«
In der Tat war der Abschluss des Registers für den Bepflanzungsplan des Parks nur ein schwaches Argument, die Zelte im Rheiderland abzubrechen. Er hätte bleiben können. Und es wäre gelogen zu behaupten, dass Luyken sich nicht um ihn bemüht hätte. Dennoch war er zu allererst gegangen, um vor dem drohenden Dienst in der Wehrmacht zu fliehen. Vielleicht hatte er auch mehr Distanz zwischen sich und seine Vergangenheit bringen wollen.
Nein, nicht nur vielleicht.
Als Holm aus seinen Erinnerungen erwacht, entsinnt er sich seines Anliegens.
»Was ich aber eigentlich sagen wollte: Es gab in der Baumschule eine Person, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte – ich wage zu behaupten, dass es umgekehrt ähnlich war.«
Piet zieht eine hässliche Grimasse. »Glauben Sie nicht, dass ich der Einzige bin, der Probleme mit Esterberg hatte! Fragen Sie, wen Sie wollen: Der Kerl ist ein ausgemachtes Arschloch!«
Holm muss lachen. Dass Piet die Sache stets zügig auf den Punkt bringt, schätzt er mittlerweile sehr.
»So in etwa verhielt es sich mit Janßen auch. Das Problem war, dass es keinen Weg an ihm vorbei gab. Er ist Büroleiter; ich war gezwungen, mich mit ihm auseinanderzusetzen.«
Piet nickt. »Mag sein, aber Esterberg hat uns das Leben zur Hölle gemacht! Oder sagen wir mal so: Er hat es zumindest versucht.« Der Holländer rümpft angewidert die Nase. »Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch so abwertend sein kann. Wenn er einen guten Tag hatte, hat er uns lediglich beleidigt. Wenn nicht, konnte man sicher sein, dass er eine besondere Gemeinheit ausbrüten würde, der Scheißkerl!«
»Janßen hat einen einfach am ausgestreckten Arm verhungern lassen, um zu zeigen, wer der Chef ist. Am liebsten tat er einfach so, als wenn er keine Notiz von seinem Gegenüber nehmen würde. Mit besonderer Vorliebe, wenn man es eilig hatte. Ich habe es gehasst!«
Sie steigern sich in ihren Berichten über das menschliche Versagen ihrer Peiniger. Dabei wechseln sich persönliche Erlebnisse mit den Erfahrungen Dritter ab. Während Janßen die einfachen Baumschularbeiter für ungebildete Rüpel hielt und sie, wo immer möglich, schnitt, wurde Esterberg nicht müde, die Unfähigkeit seiner Arbeiter bei jeder Gelegenheit bloßzustellen. Auf Jan schien er sich besonders eingeschossen zu haben.
Eins verbindet die Geschichten auf makabre Weise: Weder in Weener noch in Doorn wurde aus dem Verhalten der beiden Menschenfeinde Konsequenzen gezogen. Es wurde schlichtweg ignoriert.
»Immer das Gleiche! Wer genug Einfluss und die entsprechende Position hat, kann sich benehmen, wie er will!«, resümiert Holm.
Piet nickt. »Was Esterberg betrifft, kann ich das nur bestätigen! Ein hundertprozentiger Nazi, zudem einer mit exzellenten Verbindungen in höhere Kreise! Schauen Sie sich mal seine geschäftlichen Briefe an – ich wette, die sind alle mit deutschem Gruß unterzeichnet. Am liebsten hätte er sich wohl noch ein Hakenkreuz in die Dienststempel geschnitzt.«
Das hatte Holm bei der Durchsicht von Esterbergs Unterlagen offenbar übersehen. Vielleicht ist ihm die Veränderung im Sprachgebrauch mittlerweile auch zu vertraut, um noch aufzufallen.
»Was wollte so ein Mensch überhaupt in Doorn?«, fragt er.
Piet zuckt mit den Schultern: »Das habe ich mich auch oft gefragt! Er wusste über vieles hier sehr gut Bescheid und hat sich überall genau umgesehen – übrigens auch unter den Röcken der Frauen. Die Jahre mit Esterberg waren die Hölle, glauben Sie mir – und das nicht nur für mich!«
»Das verstehe ich«, pflichtet ihm Holm bei. »Sie müssen heilfroh gewesen sein, als er wieder das Weite gesucht hat.«
Der Holländer winkt ab und spuckt aus.
»Wissen Sie was? Als Abschiedsgeschenk hat der Hund mir Stein und Bein geschworen, dass ich bis zum Weltuntergang warten könnte, bevor ich wieder Hofgärtner werde. Dafür hätte er schon gesorgt. Und dann kamen Sie ...«
Holm lacht und klopft seinem alten Widersacher auf die Schulter.
»Ich verstehe.«
Wahrscheinlich habt Ihr Esterberg ähnlich malträtiert, um ihn loszuwerden.
»Piet, lassen wir die Vergangenheit ruhen und schauen nach vorne.«
»Einverstanden, Herr Leinstermann!«
Kaum ausgesprochen, wird Holm nachdenklich. Als die Wut über den Büroleiter in Weener und seinen Vor-Vorgänger in Doorn weicht, breitet sich in ihm eine düstere Vorsehung aus:
»Vielleicht bekommen Sie Ihre alte Stelle eher wieder, als Sie vermuten.«
Piet schaut den Deutschen sichtlich irritiert an: »Wie meinen Sie das?«
Als Holm antwortet, fühlt es sich an, als würde er eine Todesnachricht ansagen: »Die Welt, wie wir sie kennen, könnte wesentlich schneller untergehen, als wir vermuten.«
»Aber wie wollen Sie nach vorne schauen, wenn Sie gleichzeitig davon ausgehen, dass alles den Bach runter geht? Das ist doch eine hoffnungslose Dämlichkeit!«
»Dass jemand, der vor nicht allzu langer Zeit seinem Leben im Nederrijn ein Ende setzen wollte, mich an das hohe Gut der Hoffnung erinnern muss, ist schon eine interessante Konstellation«, bemerkt Holm.
Piet schmunzelt. »Wenn Sie so wollen, warum nicht? Denken Sie doch an Ihr Volk: Manchmal braucht es einfach eine starke, rettende Hand, um aus der Hoffnungslosigkeit herauszukommen.«
Er deutet mit dem gekrümmten Zeigefinger den Schnauzbart des Führers an und schlägt zackig die Fersen aneinander. »Für Führer, Volk und Vaterland!«
Holm schaut den Holländer erstaunt an. Er erinnert sich an den Spruch – zumindest in ähnlichem Wortlaut. In den Jahren des Weltkrieges war er allgegenwärtig, fast jede Familie kannte ihn: Väter, Söhne oder, wie in seinem Fall, zwei Onkel waren im Feld geblieben.
Holm korrigiert: »Für Kaiser, Volk und Vaterland!«
Piet lacht. »Die Zeiten sind längst vorbei.«
Er funkelt mit den Augen und imitiert sehr überzeugend Holms Tonfall: »Lassen wir die Vergangenheit ruhen und schauen nach vorne.«
*
Als Piet seine abendlichen Lektionen beendet hat, verabschieden sich die beiden Gärtner und Zimmernachbarn. Seine Tagesaufzeichnungen helfen Holm nur wenig, die vielen Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Besonders die kurze Begegnung mit Anni Brandt im Büro hatte ihm zu denken gegeben. Selten hatte er die Prokuristin so verunsichert, aber auch in gewisser Weise lethargisch erlebt. Obwohl sie alleine waren, wollte kein Gespräch zu Stande kommen. Holm kann sich die Verstimmung nur so erklären, dass ihr erneuter Versuch, eine männliche Bekanntschaft zu schließen, nicht erfolgreich gewesen ist.
Er geht, entgegen seiner Gewohnheit, noch einmal alleine nach unten und ein Stück in den Park. Die Luft ist angenehm klar und hilft ihm, für einen Moment alles zu vergessen und sich ganz für seine mittlerweile vertraute Umgebung zu öffnen. Die majestätischen Buchen wirken in der einsetzenden Dunkelheit wie schwarze Riesen, die sich dem Himmel emporrecken. In gewisser Weise ist Holm durchaus Romantiker, was die Schönheit der Natur und ihrer Geschöpfe betrifft, seien es Pflanzen oder Tiere. Andererseits sieht er den Zeitpunkt nahen, an dem er nüchtern und berechnend abwägen wird, welche Schritte für ihn die richtigen und möglicherweise lebenserhaltenden sind.
Er atmet tief durch, schließt die Augen und lächelt in sich hinein. Der Unterricht bei Piet war anstrengend, aber Holm ist mit seinen Fortschritten zufrieden. Während er wieder die Augen öffnet, reift in ihm der Entschluss, seine Kenntnisse nun auch dem Praxistest zu unterziehen.
Als er sich wieder dem Dienstgebäude zuwenden will, hört er zu seiner Überraschung eine Fahrradklingel hinter sich. In einiger Entfernung sucht sich der Lichtkegel einer Fahrradlampe den Weg über die schwach beleuchteten Pfade, bis Holm die Person auf dem Rad näher ausmachen kann.
»Guten Abend, Herr Leinstermann«, sagt Annegret, aber es klingt ungewohnt kraftlos. »Es ist schön, gerade Sie hier zu sehen.«
»Ich wollte nur ein wenig mein Gehirn durchlüften. Eigentlich bin ich völlig abgekämpft«, erklärt Holm, »aber irgendwie war mir noch nicht danach, mich zurückzuziehen. Mir geht dieser Tage allerlei durch den Kopf.«
»Da haben wir etwas gemeinsam«, entgegnet Annegret und steigt vom Fahrrad. Sie tut es viel langsamer als gewöhnlich.
»Tatsächlich?«
Die Frau stellt ihr Fahrrad ab, sieht sich kurz um und kommt langsam näher an Holm heran, was ihn aufmerksam werden lässt. Es ist keine fröhliche Stimmung, die von ihr ausgeht. Eher wirkt sie müde, gebeugt, vielleicht vom langen Arbeitstag. Als sie bis auf einen Schritt heran ist, wird Holm im schwachen Licht bewusst, dass Annegret einen Teil ihres jugendlichen Aussehens eingebüßt hat.
Die obersten Knöpfe ihres Mantels sind geöffnet, der dünne Schal ist beiseite gerutscht, so dass Holm dem Blick auf ihren wohlgeformten Ausschnitt nicht entkommen kann. Aber das ist nicht das Einzige, was ihm auffällt.
»Sie haben sich verletzt«, bemerkt er und zeigt auf den Übergang zwischen Hals und rechter Wange.
»Wie? Nein, das ist nur eine Kleinigkeit.« Sie rückt hastig den Schal zurecht.
»Als wir uns heute Vormittag sahen, hatten Sie das noch nicht. Zeigen Sie ...«
»Nein!«
Holm zuckt zurück. »Sie sind doch geschlagen worden! Hat Jan Ihnen das angetan?«
Annegrets Antwort ist an Klarheit nicht zu übertreffen. »Nein! Lassen Sie das, Herr Leinstermann! Ich kann und will nicht darüber reden!«
»Ist ja gut, ich meinte ja nur. Sie wirken heute so anders als sonst, und dann das.«
Als Annegret ihn ansieht, kann Holm ihrem klaren Blick aus den dunklen Augen kaum standhalten. Eine erste Träne findet ihren Weg die geschundene Wange herunter.
»Helfen Sie mir, bitte! Aber stellen Sie keine Fragen mehr«, wispert die junge Frau. »Ich weiß gerade einfach nicht, wohin mit mir.«
»Das tut mir leid«, ist das Einzige, was er hervorbringt.
Als er noch die in ihm aufsteigenden, gegensätzlichen Gefühle sortiert, umfassen ihn bereits zwei Arme. Ihn befällt eine Empfindung, der er in der Hast des Momentes keine Namen geben kann. Zu der Überraschung gesellt sich Vorsicht. Schnell schaut er sich um – sind sie wirklich allein?
»Bitte tun Sie das nicht«, sagt er und versucht, sich möglichst sanft von ihrer Berührung zurückzuziehen.
Sie wendet den Blick ab, lehnt den Kopf an seine Brust und flüstert: »Halten Sie mich einfach fest, Herr Leinstermann. Ich kann nicht mehr.«
Was er tun soll, ist nicht im Einklang mit seinen Empfindungen. Holm steht einfach regungslos da, ohne irgendeine Idee, was richtig wäre. Selbst wenn er die Frau festhalten wollte: Seine Arme hängen kraftlos neben ihm, als gehörten sie einem Anderen.
Annegret spürt seine Zurückhaltung und lässt ihn los. Sie sieht ihn an, während sie einen Schritt zurück macht. »Entschuldigen Sie ...«
Die Umarmung hinterlässt eine wüstenhafte Leere in Holm, als sie vorübergeht. »Es tut mir leid«, stammelt Holm. Er zwingt sich, klare Gedanken zu suchen.
Annegret blickt stumm zu Boden und rauft sich die Haare. »Ja, das weiß ich. Aber das hilft mir jetzt nicht«, gibt sie leise zurück.
Holm wähnt sich auf der richtigen Fährte und versucht gleichzeitig, von seiner eigenen Verunsicherung abzulenken. »Was kann ich tun?«
Sie lässt ihre Haare los, schließt die Augen und massiert mit beiden Händen die Stirn. Nachdem sie ein paar Mal tief durchgeatmet hat, antwortet sie:
»Herr Leinstermann, es gibt Situationen, da hilft alles Reden nichts.« In ihrem Tonfall liegt etwas Vorwurfsvolles, als sie fortfährt. »Manchmal braucht man einfach jemanden zum Anlehnen, wenn das Schicksal zuschlägt.«
Holm ist nicht bereit, sich diesen Schuh anzuziehen, obwohl er den Appell durchaus wahrnimmt.
»Ich fürchte, dann kann ich Ihnen nicht helfen, Ihre Schwierigkeiten zu überwinden.«
Annegrets Gesichtszüge werden hart, während ihre Augen ihn böse anfunkeln.
»Was wissen Sie schon von meinen Schwierigkeiten, Herr Hofgärtner? Ihr kluges Gerede macht es nur noch schlimmer!«
Diese Art der Ansprache gefällt Holm überhaupt nicht, so dass er deutlicher wird, als ihm lieb ist:
»Entschuldigen Sie, aber ich glaube nicht, dass Ihr Tonfall passend ist! Was habe ich Ihnen denn getan?«
Die junge Frau gerät immer mehr in Rage und kommt ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger sehr nahe. »So, mein Tonfall passt Ihnen nicht? Wollen Sie mir vielleicht vorschreiben, wie ich zu reden habe? Eine Dijkstra klagt nicht – ist es das? Das höre ich jeden Tag!«
Holm ärgert sich über den Verlauf der Konversation und wehrt ihren Finger mit der Handfläche ab. »Ich denke, wir beenden das Gespräch jetzt besser.«
Zu seiner Überraschung schlägt die Frau mit der rechten Faust einige Male an seine Brust. »Ach, und das entscheiden auch wieder Sie? Für wen halten Sie sich?« Sie überschreitet die Grenze zum Schreien, während er vor der Attacke zurückweicht. »Wissen Sie was? Sie sind genau so ein Spinner wie die hohen Herren da drüben!«
Annegret zeigt auf das Haupthaus, um mit der nächsten Offensive den Zeigefinger in Holms Magengrube zu bohren. »Immer nur reden! Fragen! Antworten! Bewerten, abwägen! Aber einfach handeln, das tun die nicht – ich könnte kotzen!«
Holm platzt der Kragen, so dass er ihre Hand unsanft zur Seite fegt.
»Jetzt reicht es mir aber! Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?«
Einerseits weiß er, dass er gehen sollte – andererseits fühlt es sich seltsam gut und vertraut an, seinem Ärger freien Lauf zu lassen. Etwas in ihm gerät in Bewegung. Etwas, das lange Zeit geruht hatte. Im Gegensatz zu früher ahnt Holm die Gefahr.
»Ich gehe jetzt besser«, sagt er deshalb. »Wenn Ihnen in meiner Gesellschaft so übel wird, dann haben Sie von mir aus jetzt alle Freiheiten, auch das Weite zu suchen! »
Annegret hält für einen Moment inne, um dann mit unveränderter Energie fortzufahren: »Freiheit? Ich habe die Freiheit, zu gehen?« Sie beginnt lakonisch zu lachen.
»Wohin soll ich denn gehen, außer in den Kerker, den ich an guten Tagen unser Zuhause nenne! Ich arbeite von morgens bis abends, versorge zwischendurch meine kleinen Schwestern, höre mir jeden Tag die Sorgen meiner Mutter an – und Sie sprechen mir gegenüber von Freiheit? Pah!«
Ihr Puls bringt Annegret immer mehr in Wallung.
»Wissen Sie, was ich seit dem Ende der Schule für meine eigene Zukunft tun konnte? Nichts, absolut nichts! Es geht immer nur um andere, nie um mich! Ob es die Mädchen sind, Mutter, Jan – immer die anderen!«
Sie wird wieder ruhiger, und eine kaum fassbare Bitterkeit steht zwischen ihr und Holm.
»Niemand holt mich da raus! Jan wird eingezogen, das ist seit heute sicher. Und selbst wenn er es übersteht: Es wird so weitergehen wie bisher. Ich werde nie die Möglichkeit haben, wirklich zu leben! Dafür wird Mutter schon sorgen, solange sie über diese Erde geht. Und danach wird jemand anderes kommen.«
»Was wäre Ihnen denn lieber? Dass Sie nichts und niemanden hätten, um den Sie sich kümmern müssen? Dass Sie ungebunden, aber unendlich einsam sind? Dann könnten Sie frei sein und tun und lassen, was Sie für richtig halten.«
Holm wird sehr ernst, während sein Ärger langsam verraucht. Dafür melden sich plötzlich heftige Stiche in der Magengegend, die ebenso schnell wieder gehen, wie sie gekommen sind. Als er sich wieder fängt, fährt er fort, jetzt viel ruhiger: »Glauben Sie mir, es wird Ihnen nicht gefallen, wenn niemand mehr etwas von Ihnen wissen will.«
»Falls Sie von sich selbst sprechen, sind Sie ein Idiot, Herr Leinstermann! Sie bemerken gar nicht, was Sie den Menschen bedeuten! Und warum? Weil Sie immer und ewig nur mit sich selbst, Ihrer eigenen Geschichte und Ihren heiligen Pflanzen beschäftigt sind! Ihrem Gehirn fehlen ein paar Drähte nach außen.«
»Manchmal ist man sich selbst ein Freund, manchmal der schlimmste Feind«, entgegnet Holm. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich beides gleich gut beherrsche.«
»Verdammt, was meinen Sie denn jetzt schon wieder? Können Sie nicht allgemeinverständlich ausdrücken, was Sie denken?«, fragt Annegret. Das Schmunzeln vertreibt die Wut aus ihrem Antlitz.
Holm schüttelt den Kopf; weiß er doch selbst nicht, wie er sein Gefühl beschreiben könnte. Einerseits ist er froh, dass der schlimmste Sturm zwischen Ihnen offenbar vorüber ist. Andererseits kann er nicht glauben, dass ihr Streit ohne Folgen für die Zukunft bleibt. Das schlechte Gewissen lässt nicht lange auf sich warten.
Wortlos dreht er sich in Richtung Eingang, um der quälenden Stille zwischen den beiden zu entgehen – doch Annegret hält ihn zurück.
»Seien Sie kein Idiot, Herr Leinstermann! Bleiben Sie doch hier«, sagt sie.
Tatsächlich bleibt er stehen und wendet sich wieder Annegret zu.
Der flüchtige Kuss, den sie ihm auf die Wange gibt, lässt ihn ratlos zurück.
Während Holm der jungen Frau nachsieht, die sich hastig auf ihr Fahrrad schwingt und davonfährt, schüttelt er nur den Kopf.
Das erleuchtete Fenster im oberen Geschoss fällt ihm erst auf, als er zur Eingangstür des Dienstgebäudes trottet. Es gehört zu Piets Zimmer, und bei genauem Hinsehen kann Holm den Schatten des Holländers ausmachen, der sich hastig vom Fenster wegbewegt.
Es ist kein gutes Gefühl, das sich in ihm breitmacht. Zudem melden sich seine Bauchschmerzen wieder und erinnern ihn daran, dass er bereits seit einigen Tagen nicht mehr richtig essen kann. Um dieses Problem würde er sich später kümmern müssen.