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Die ersten Tage in Huis Doorn vergehen wie im Fluge und folgen einem stetig wiederkehrenden Rhythmus: sich mit Menschen und Arbeitsumgebung bekannt machen, Aufgaben definieren und planen, zurück in die Pension, Abendessen mit Fräulein Brandt, gefolgt von einer meist unruhigen Nacht.

Als Herausforderung stellt sich früh die Zusammenarbeit mit den holländischen Gartenarbeitern dar: fünf kernige Typen gemischten Alters, leider nicht alle mit brauchbaren Deutschkenntnissen. Ihr Sprecher Piet, mit Ende 40 einige Jahre älter als Holm, ist durchaus in der Lage, sich verständlich zu machen. Die wenigen fehlenden Begriffe gleicht er einfach durch Einwürfe in seiner Muttersprache und wilde Gesten aus.

Die Sprache ist jedoch nicht der einzige Grund, der Holm über die Fruchtbarkeit der Zusammenarbeit zweifeln lässt.

Recht ausgeschlafen macht er seinen Weg durch das Torgebäude, wo er morgens den Dienstantritt meldet, in Richtung des Holzschuppens, in der die nötigen Gerätschaften für die Holzarbeit im Winter lagern. Da der alte Kaiser mit Ischias-Problemen das Haus nicht verlässt und fast alle Geburtstagsgäste abgereist sind, stand in den letzten Tagen kein Holzhacken im Wald an. Überhaupt hatte Holm den alten Kaiser bisher nur aus der Ferne gesehen.

Also Zeit, einige Pflegearbeiten durchzuführen, die Holms Vorgänger Esterberg noch in seinen gut sortierten und penibel geführten Unterlagen vorgeschlagen hatte.

In den ersten Begegnungen mit den Arbeitern hatte Respekt und Zurückhaltung geherrscht, was Holm als sehr angenehm empfunden hatte. Er schätzt es nicht, wenn bei der Arbeit viel gesprochen wird oder gar Scherze gemacht werden – am allerwenigsten, wenn es Scherze auf seine Kosten sind. Doch, so sein Eindruck, genau das war in den letzten Tagen vermehrt vorgekommen. Immer wieder hat er das Gefühl, das hinter seinem Rücken getuschelt wird. In den Pausen ist er stets allein oder trifft sich mit Ilsemann oder dem Hausmarschall, Graf von Schwerin, um das weitere Vorgehen bei einigen Arbeiten abzustimmen. Auch nutzt er die Zeit, um im Büro Bestellungen zu tätigen. Kommt er zurück zu den anderen, kommt es ihm oft so vor, als würde allgemeine Heiterkeit herrschen – bis eben zu seinem Erscheinen. Er kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er selbst der Grund für diese Heiterkeit ist. Seine fehlenden Sprachkenntnisse verhindern, dass er sich unauffällig Gewissheit verschaffen kann.

An diesem Tag aber scheinen die Dinge anders zu verlaufen. Piet, der jeden Morgen mit seinem alten Flottweg-Motorrad aus Amerongen kommt, erwartet ihn heute am Torgebäude und grüßt für seine Verhältnisse ungewöhnlich freundlich. Holm ist irritiert, umso mehr, als Piet ihm ein altes Fahrrad überreicht.

»Das ist unser Dienstrad. Für Sie, Chef!« – das ist Piets Lieblingsanrede für Holm. »Dann kommen Sie schneller voran. Wir sollten die Wege kontrollieren; es hat viel geregnet letzte Nacht!«

In der Tat, das Gelände ist weitläufig, und es kommt Holm entgegen, nicht mehr alle Wege zu Fuß machen zu müssen. Für Lasten steht ihnen neben einer Zugmaschine die treue Tine zur Verfügung, ein altgedienter Ackergaul.

»Wo sind die anderen abgeblieben?«, hakt Holm bei Piet nach.

Dieser erwidert mit dem unschuldigsten Lächeln, das er zu bieten hat: »Sie sind bei der Kapelle, Bäume beschneiden.«

Holm ärgert sich, dass Piets Mitstreiter ohne Rücksprache mit ihm die Arbeit aufgenommen haben. Er schätzt es nicht, wenn man seine Kompetenzen unterwandert oder in Frage stellt. Er beißt die Zähne zusammen und schwingt sich mit Elan auf das Fahrrad. Auch im Rheiderland war er viel mit dem Rad unterwegs, fuhr auch die Wege zwischen der eigentlichen Baumschule, dem Park und seiner Unterkunft im Knotenpunkt immer mit dem Drahtesel. Daher ist er gut in Form und tritt kraftvoll in die Pedalen. Er muss seine Mütze mit einer Hand festhalten, damit sie vom auffrischenden Wind nicht davonweht.

Als er den Weg in Richtung der Kapelle einschlägt, gerät sein Vorderrad plötzlich in tiefen Schlamm. Er beginnt zu schlingern und lässt seine Mütze los, um mit beiden Händen das Steuer zu packen. Aber zu spät: Holm gleitet aus und landet mit der kompletten linken Körperhälfte im braun-grauen Morast, das Fahrrad auf ihm.

Aus Richtung der Kapelle hört er verräterisches Gelächter. Holm ärgert sich über den Sturz, über das Lachen – und er hat rasende Schmerzen am linken Arm und der Hand. Langsam, ganz langsam befreit er sich von dem Fahrrad, ohne einen Blick in Richtung der Kapelle zu wagen. Diese Genugtuung will er den Spöttern nicht geben!

Eben beginnt Holm, seine Knochen zu sortieren und den Schlamassel auf seiner Kleidung zu begutachten, da mischt sich in das Gelächter eine weitere Stimme.

»Mijnheer, heeft u hulp nodig?«

Holm blickt hinter sich, um die Urheberin der weiblichen Stimme zu suchen.

Eine junge Frau – ein Mädchen? – schiebt ihr Rad auf dem seifigen Rasen in seine Richtung. Sie ist vergleichsweise klein, was ihr jugendliches Aussehen unterstreicht.

»Bent u gewond?«

Holm versteht nicht, schüttelt trotzdem den Kopf.

Die junge Frau blickt sich zur Kapelle um und kommt schnell zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gelächter und dem Sturz des Unbekannten gibt. Sie ruft erbost einige kurze Sätze in Richtung der Kapelle, als sich Piet nähert.

»Chef, Chef, alles in Ordnung mit Ihnen?«

Holm beobachtet, wie die Frau böse Blicke in Piets Richtung sendet – offenbar kennt man sich. Der Holländer tritt trotzdem näher und versucht, Holm aufzuhelfen. Auch hat das Gelächter mittlerweile Beine und nähert sich stumm und mit gesenkten Häuptern dem Ort des Geschehens. Es sind die anderen Gartenarbeiter, die Holm beim Aufstehen unterstützen, sein Fahrrad aus dem Schlamm ziehen und hastig den Dreck von seiner Kleidung und vom Fahrrad entfernen. Sein Arm schmerzt, ansonsten ist Holm beim Sturz gut davon gekommen. Gesagt wird nichts, dazu sind die Rollen in diesem Spiel zu klar verteilt.

Holm weiß nicht, ob er zornig oder dankbar sein soll. Er verabscheut die Schadenfreude, ist aber angetan von der Hilfe ohne viele Worte. Zuletzt reicht Piet ihm stumm das Fahrrad, daraufhin ziehen sich die Männer wortlos in Richtung Holzhackplatz zurück.

»Ihre Mütze.« Die Frau schmunzelt, als sie Holm die völlig ruinierte Kopfbedeckung reicht, die sie zuvor aus dem Morast gefischt hat. Die Versuche, den Dreck abzuwischen, ändern an dem Befund nichts mehr.

»Danke«, entgegnet Holm knapp, als er versucht, sich mit einem Tuch den Matsch aus dem Gesicht zu wischen. Einen Moment sieht die Frau ihm stumm zu; dann wendet sie auf dem Grün ihr Fahrrad und geht.

Holm will noch etwas sagen, da kommt Ilsemann aus Richtung des Haupthauses gelaufen. Piet und seine Mitstreiter beschleunigen ihren Rückzug und suchen das Weite.

»Herr Leinstermann, sind Sie in Ordnung?«, ruft der Major Holm entgegen.

»Ja, ich denke schon. Mein Arm hat etwas abbekommen, sonst geht es.«

So ein Mist!, fügt Holm in Gedanken hinzu. Und das in den ersten Tagen!

»Ziehen Sie sich erstmal um. Und wenn die Schmerzen bleiben, lassen Sie sich bitte vom Arzt untersuchen.« Ilsemann begutachtet Holms verdreckte Kleidung und das ramponierte Fahrrad. Dann wird er sehr ernst und fragt:

»Hat Ihnen niemand mitgeteilt, dass die Wege in diesem Teil des Parks nicht befestigt sind?«

»Nein, ich habe allerdings auch in diese Richtung keine Fragen gestellt. Warum?«

»Es sind schon vor Jahren Anweisungen erlassen worden, diese Wege im Winter auf keinen Fall mit Fahrrädern zu befahren. Eigentlich weiß das auch jeder.«

Holm beginnt einiges klar zu werden, was den bisherigen Verlauf des Tages betrifft.

»Wer hat Ihnen das Fahrrad gegeben und Sie auf die Reise geschickt?«, will Ilsemann in Erfahrung bringen.

Holm überlegt kurz, reicht dem Flügeladjutanten dann unvermittelt die noch schmutzige Hand, die dieser mit leichtem Zögern ergreift.

»Danke, diese Sache kläre ich lieber selbst«, erklärt Holm. Der Ehrgeiz reizt ihn, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Ilsemann ist überrascht. Zu häufig war er in den vielen Jahren mit Aussprachen über Konflikte, Meinungsverschiedenheiten und offener Feindseligkeit beschäftigt gewesen. Er ist sich sicher, dass Leinstermann und Piet die Sache unter sich regeln würden – Ausgang ungewiss ...

Für diesen Tag meidet Holm den Kontakt zu den Arbeitern. Er für seinen Teil zieht sich nach dem dringend benötigten Kleidungswechsel in den großen Nutzgarten hinter Dienstgebäude und Garage zurück. Eine ganze Reihe Obstbäume fasst den Garten ein, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hat. In der entlegensten Ecke befindet sich das Tuinhuis, das Hauptquartier von Piet und seine Komplizen.

Mit der Kladde seines Vorgängers Esterberg ausgerüstet, inspiziert er den großzügig angelegten Bereich. Sie enthält detaillierte, säuberlich festgehaltene Informationen über Fruchtfolgen, Probleme mit Schädlingen oder Mangelerscheinungen, Düngergaben und Ernteerträge. Das alles ist nicht Holms Metier, hatte er doch bisher wenig Berührungspunkte mit dem Gemüseanbau. In seinen Kindheitserinnerungen hatten er und die anderen Kinder die zarten Pflänzchen in den Nachbargärten beim Spielen zertrampelt und nahmen schnell die Beine in die Hand, wenn der Besitzer ihnen nachstellte.

Das Mittagessen in der Personalküche fällt für ihn dieses Mal aus. Stattdessen macht er sich mit dem Fahrrad, das er vorläufig als eine Art Kriegsbeute betrachtet, auf ins Dorf, um sich für den Konflikt mit Piets Kumpanen zu rüsten. Zwar kommt er sich reichlich kindisch vor, sieht aber dennoch die Notwendigkeit, sich in dieser Sache einen kleinen Vorteil zu verschaffen.

*

Als Holm abends in der Pension ankommt, sitzt Fräulein Brandt bereits zu Tisch.

»Sagen Sie,« beginnt Holm das Gespräch nach kurzer Zeit, »wie haben Sie so gut Holländisch sprechen gelernt?«

»Oh, das hat sich im Laufe der Jahre so ergeben. Das meiste habe ich durch Zuhören mitbekommen.«

»Sie haben die Sprache nie richtig erlernt?«

»Doch. Aber das Lesen in Büchern und das Zuhören – vor allem aber das Sprechen – sind zwei völlig verschiedene Dinge!«

Es entsteht eine kurze Gesprächspause, in der Holm seine Neuerwerbung aus dem Buchladen geräuschlos wieder in seine Arbeitstasche gleiten lässt.

»Warum fragen Sie? Wollen Sie Holländisch lernen?«, fragt Fräulein Brandt halb belustigt, halb anerkennend.

Holm weiß nicht recht, ob er sich ihr anvertrauen soll. Trotz der vergleichsweise häufigen Begegnungen an den Abenden in der Pension weiß er nicht viel von ihr. Sie ist freundlich und immer bereit, seine Fragen zu Huis Doorn, dem Umgang der Menschen dort und dem Leben im Ort geduldig zu beantworten.

Er lenkt das Gespräch zunächst in andere Bahnen, um zu erfahren, ob sich der Vorfall bei der Kapelle bereits herumgesprochen hat. Wenn es bei Hesse Vorkommnisse gab, die sich für betriebsinternen Klatsch und Tratsch eigneten, war das Büro in der Regel zügig informiert und diente allen anderen als Nachrichtenzentrale. Im Laufe der Konversation zerstreuen sich seine Bedenken: Offenbar hat Ilsemann geschwiegen – und Piet würde sich gegenüber dem deutschen Personal sicherlich nicht mit dem Vorfall brüsten.

Als die leeren Teller abgeräumt sind, fasst er sich ein Herz.

»Ich brauche nochmal Ihren Rat, in einer anderen Sache.«

»Nur zu! Worum geht es?«, ermuntert ihn Fräulein Brandt, während sie sich eine Tasse dampfenden Kaffee einschenkt.

»Wie gut kennen Sie Piet Beurtman?«

Zunächst zögerlich, dann immer lebhafter berichtet Holm von der schwierigen Zusammenarbeit und den Ereignissen von heute Morgen. Sie hört interessiert zu und kann sich an einigen Stellen ein Schmunzeln nicht verkneifen. Während Holm sein Erlebnis mit einer Mischung aus Entsetzen und Selbstironie schildert, scheint Fräulein Brandt wenig überrascht. Sie hört ihm bis zum Ende aufmerksam zu und ignoriert dabei die ein oder andere wütende Spitze in seinem Bericht.

»Wissen Sie«, entgegnet sie schließlich, »Ihr Vorgänger Esterberg hat Piet zwar grundsätzlich mitgenommen, wenn er Pflanzen reklamieren musste oder sonstige schwierige Begegnungen mit Holländern bevorstanden. Er hat nicht viel von Land und Leuten verstanden, also brauchte er Piet – gewissermaßen. Ansonsten würde ich das Verhältnis eher ... schwierig nennen.«

Das wundert Holm nicht.

»Piet kann ein ziemlich harter Hund sein, Herr Leinstermann, aber er ist als Gärtner sehr erfahren.«

Wieder Zustimmung – fachlich hat Holm über Piet nichts Negatives zu sagen.

Er spricht aus, was er vermutet:

»Kann es sein, dass er selbst gerne Hofgärtner geworden wäre?«

Fräulein Brandt schweigt eine Weile, während Gesa eine Kanne frischen Kaffee bringt. Stirnrunzeln und ein angestrengtes Lächeln sagen nichtsdestotrotz einiges aus.

Mit dem Gedanken an eine weitere unruhige Nacht würde Holm am liebsten auf eine weitere Tasse verzichten, weiß aber die für ihn unangenehme Stille nicht anders zu kaschieren. Nachdem Gesa gegangen ist, erklärt Fräulein Brandt:

»Lassen Sie es mich so sagen: Es ist vielleicht nicht immer einfach mit Piet, aber im Grunde ist er ein guter Kerl. Wenn Sie mit Piet zusammen arbeiten wollen, müssen Sie ihn und seine Geschichte verstehen lernen.«

»In Ordnung.« Holm nickt, ohne den Sinn der Antwort zu begreifen. Er zieht seine Neuerwerbung wieder aus der Tasche.

»Ich hätte da noch ein paar andere Fragen, sprachlicher Natur.«

*

»Mal Arm beugen, junger Mann. Daaaaaankeschön! Zurück. Prima! Hast Schmerzen?«

Nein, denkt Holm, eigentlich nicht. Er erwägt, ob es für seine Zwecke klug wäre, den Leibarzt Dr. Sortier dennoch vom Gegenteil zu überzeugen.

»Aua, ja!«

Der ältere, väterlich wirkende und sich ebenso verhaltende Bayer schürzt nachdenklich die Lippen, die größtenteils von seinem mächtigen Schnauzbart verdeckt werden.

»Magst mal das Handgelenk drehen? Soooooo. Schmerzen?«

Nein. Ja!

»Aua!«

»Hmmmm. Also, gebrochen hast nix. »

Das wäre mir aufgefallen, entgegnet Holm wortlos.

Der Leibarzt, der fast zeitgleich mit Holm in Doorn angekommen ist, beginnt, das Arztzimmer in der Orangerie nach etwas zu durchsuchen. Offenbar herrschen über die Ordnung unter den turnusmäßig wechselnden Leibärzten unterschiedliche Ansichten. Als sich der Doktor Holm wieder zuwendet, hält er einen noch verschlossenen Karton in den Händen.

Das Klopfen an der Tür unterbricht ihn in seinem Tun. »Kommen’s nur n’ein.«

Es scheint Zeit für das Frühstück zu sein, das der Arzt offenbar nicht im Speiseraum für das höhere deutsche Personal einnimmt. Gebracht wird es von der jungen Frau, die Holm gestern seine Mütze gereicht hat. Er ist mehr überrascht als sie, die ihm unauffällig zulächelt, um dann ohne Worte den Raum wieder zu verlassen.

Schwungvoll reißt Dr. Sortier den Karton auf und wendet sich in Richtung Waschbecken.

»Gehn ma auf Nummer sicher«, sagt er zu Holm und betrachtet die kleine Verpackung in seiner Hand.

»Also, Bursch, packen ma’s!«

Genau das, was ich brauche, denkt Holm zufrieden.

Die Blicke der anderen Männer am Holzschuppen verraten keine Gefühlsregung. Es wird weder gescherzt noch gesprochen, und Holm macht keine Anstalten, die Situation aufzulösen. Stumm setzt er sich zu den Arbeitern und betrachtet, so demonstrativ es geht, das alte Fahrrad, mit dem er soeben gekommen ist. Selbst Piet bleibt heute Morgen ungewöhnlich sprachlos. Holm genießt still das Gefühl, die Waage ein wenig zu seinen Gunsten ausgeglichen zu haben. Nach einer Weile ergreift er das Wort: Ohne einen der Arbeiter anzusehen, verteilt er die Aufgaben für den heutigen Tag. Dabei orientiert er sich an den Unterlagen seines Vorgängers. Er hat eben solche Tätigkeiten ausgesucht, die von Esterberg als unerledigt geblieben notiert waren – und die Holm als Strafmaßnahme geeignet erscheinen.

Mit seiner Theorie sollte er nicht falschliegen: Ohne, dass es Piets holländischer Erläuterungen bedürfte, entgleisen den Männern bei Holms Auflistung die zuvor versteinerten Gesichtszüge:

Ausbringen von Kuhmist im Gemüsegarten. Reinigung des Taubenschlags. Und zu guter Letzt: Beginn der Befestigung der Wege an der Kapelle.

Die Täter kehren immer zum Tatort zurück, frohlockt Holm still.

Hatte er Protest erwartet, so wird er enttäuscht: Langsam, aber ohne Murren trotten vier der Männer los, während Piet bei Holm zurückbleibt und seine innere Ruhe offenbar verloren hat.

»Chef, was gestern ...«

Holm schüttelt nur stumm den Kopf und macht, schmerzverzerrtes Gesicht inklusive, eine ablehnende Geste – mit seinem eingegipsten linken Arm.

Da er aufgrund seiner selbst auferlegten Behinderung keine körperliche Arbeit verrichten kann, zieht sich Holm mit seiner Neuerwerbung des gestrigen Tages in den Auguste-Rosengarten zurück. Um sein eigentliches Vorhaben zu tarnen, führt er zudem sein Nachschlagewerk über die Rosenzucht mit sich. Anfangs bleibt er in der Rosenlaube allein.

Viele der Wörter in seinem Lehrbuch der niederländischen Sprache wirken vertraut, viel weniger fremd als das Französische, das er in seiner Schulzeit neben dem Englischen erlernt hat. Er blickt sich mehrmals um, sich versichernd, dass niemand zusehen und vor allem zuhören kann. Er versucht, den Klang der Sprache nachzuahmen:

»Ik ben, je bent ...«

Vorsichtig tastet er sich weiter – und kommt sich dabei vor wie ein Kind, das unsicher die ersten Schritte ohne den stützenden Halt der Eltern geht. Das klare Ziel gibt Holm die kindliche Energie und den Willen, diese Aufgabe zu bewältigen. Immer mehr vertieft er sich in das Buch und feiert innerlich jede halbwegs gelungen klingende Aussprache.

Das Geräusch, das ihn aus seinen Gedanken reißt, kommt ihm sehr bekannt vor: ein kurzer Schrei, ein Scheppern, begleitet von einer Art Klimpern einer kleinen Glocke.

Holm legt seine Literatur beiseite und schaut sich um.

Aus Richtung Holzschuppen hört er ein leises Wimmern, wie von einem Kind. Er macht sich auf den Weg.

Holm sieht weiter vorn eine junge Frau neben einem Fahrrad kauern und sich Hände und Knie reiben. Er geht schneller, kann er sich doch anhand seines Sturzes von gestern vorstellen, wie viel härter der Aufprall auf den hier befestigten Wegen für diese Person gewesen sein muss.

Als er näher kommt, möchte er etwas sagen, ist aber kurz unschlüssig, wie er die Frau – das Mädchen? – ansprechen soll.

Da wendet sich die Gestürzte um und blickt in sein Gesicht.

Nein, er kennt sie nicht. Ihre Gesichtszüge wirken bekannt, aber in Mimik und Ausdruck eigentümlich und fremd.

Sie hört auf zu wimmern und schluchzt: »Ich bin gefallen.«

Sie umfasst mit ihren Armen die Knie, die offenbar keinen Schaden beim Sturz genommen haben. Dabei wogt sie sanft mit dem Oberkörper vor und zurück, wie das Schaukeln einer Wiege. Als die Bewegungen kaum mehr wahrnehmbar sind, passiert einen ewig langen Moment nichts. Schließlich zieht die junge Frau umständlich ein Tuch aus ihrem Mantel und schnäuzt sich geräuschvoll die Nase.

Holm ist sich nicht sicher, wie er reagieren soll. Vor ihm auf der Erde kauert eine offenbar erwachsene junge Frau, die aber eine ganz andere Wirkung auf ihn entfaltet. Sie erscheint kindlich und ein wenig unbeholfen, aber in ihrer Ausstrahlung sehr liebenswert und gleichsam hilfebedürftig.

Da er immer noch unsicher ist, welche Worte er wählen soll, tritt er noch einen Schritt näher und reicht ihr die gesunde Hand. Zögernd ergreift die Frau die Hilfe und steht auffallend ungelenk auf.

Diese Augen ...

Während Holm nach ihrem Fahrrad sieht, beginnt sie, aufmerksam ihre Kleidung zu begutachten. Sie wirkt betrübt, da zahlreiche Schäden erkennbar sind – es scheint nicht der erste Sturz an diesem Tag zu sein. Außer ein paar Kratzer an den Handballen ist sie selbst mit dem Schrecken davongekommen.

»Hier, bitte«, bringt Holm hervor, als er ihr das Fahrrad anreicht. Die Frau zeigt ein fremdartiges, aber einnehmendes Lächeln und will sich wieder auf das Fahrrad schwingen. In dem Moment, als das Aufsteigen mit ihrem Rock vorerst an dem Fahrradsattel scheitert, ertönt aus Richtung Hauptgebäude eine besorgte, aber ebenso erboste Stimme:

»Adini!« – die Frau zuckt erschrocken zusammen.

»Adini!« – sie entscheidet sich, der Stimme kein Gehör zu schenken und auf alle Fälle die Fahrradtour durch den Park fortzusetzen.

»Adini, bleib stehen!«

Holm macht einen stämmigen Herren aus, der in feinster Uniform die letzte Kurve zu ihnen entlang rennt. Vor Anstrengung ringt er deutlich sichtbar mit dem Atem.

»Ich will Fahrrad fahren!«, ruft die Frau mit entschlossenem, fast furchteinflößendem Blick dem Mann entgegen.

Holm schüttelt ungläubig den Kopf: Es ist Eitel Friedrich, einer der Söhne des alten Kaisers, der sich die letzten Meter, deutlich langsamer werdend, in ihre Richtung schleppt. Im Vergleich zu den Fotos aus jüngeren Jahren ist der Prinz sichtbar gealtert. Silbrig glänzen die kurz gehaltenen Haare, der charakteristische Schnauzbart ist in Ehren ergraut. Geblieben ist die respekteinflößende Statur, wenn auch der gewachsene Umfang des adeligen Leibes die Proportionen etwas zu Ungunsten der Größe verändert hat.

»A-le-xan-dri-ne! Bleib ... stehen! Du ... fällst!«

Zu spät! Wie ein bockiges Kind will Adini den Sieg erzwingen und besteigt, so gut es eben geht, das Fahrrad. Einige wenige Meter kann sie die Balance halten. Auf Holm wirkt diese Szene absolut unwirklich und seltsam verlangsamt. Für einen Moment hat er das Bild eines übergroßen, ungelenken Vogels mit mächtigen Schwingen vor Augen, der sich langsam vom Boden abhebt und durch die kühle Luft majestätisch der Wintersonne entgegenfliegt.

Die Vision dauert eben so lange, bis das allzu vertraute Geräusch eines Sturzes mit dem Fahrrad ertönt, gefolgt vom lauten Aufheulen der jungen Frau. Holm rennt sofort los.

»Scheiße!«, entfährt es Prinz Eitel, dem die Puste für einen neuerlichen Lauf fehlt.

»Da passt man einmal auf seine Nichte auf, und dann so was!«

Nach Luft schnappend steht er da, vorgebeugt und die Hände auf die Knie stützend, den Kopf schüttelnd.

»Mein Bruder wird alles andere als begeistert sein.«

Im nächsten Moment richtet sich der Prinz auf und wischt sich den perlenden Schweiß von der Stirn.

»Soll er doch das nächste Mal selbst aufpassen, der Blödmann!«, grantelt Eitel-Friedrich so leise, dass Holm es nicht hört.

Als der Prinz mit der eigentümlichen Adini von dannen zieht, kommt Piet den Weg aus Richtung Holzhackplatz gelaufen. Er stellt sich zunächst wortlos zu Holm: Gemeinsam schauen sie dem ungleichen Paar nach. Der große, massige Prinz schiebt mit einer Hand das Fahrrad, mit der anderen Hand stützt – oder leitet? – er seine zierlich wirkende Nichte auf dem Weg zurück zum Haupthaus. Sie scheint geschlagen, aber nicht ohne Stolz.

Die beiden Männer schweigen, aber es erscheint beiden nicht zwanghaft oder distanziert. Für den Moment sind die Waagschalen nahezu ausgeglichen.

»Wenn der dicke Eitel und der fette Göring so weiter fressen, wird es nur ein kurzer Krieg – wenn es einen gibt«, meint Piet trocken.

»Warum?«

»Weil euren Soldaten bald der Proviant ausgeht.«

Obwohl Holm es eigentlich nicht will, kann er sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

Beide wenden sich voneinander ab.

Waffenstillstand?, denkt Holm.

Wir werden sehen.

*

»Mit der Aussprache tun sich die meisten Deutschen anfangs schwer«, erläutert Fräulein Brandt zwischen zwei herzhaften Bissen. »Sie müssen dranbleiben und es immer weiter probieren.«

Holm betrachtet die Muster, die die süße Sahne in den Kaffee zaubert. »Die Holländer sprechen so schnell, ich bekomme fast nichts mit!«

»Das legt sich mit der Zeit. Kaufen Sie sich mal eine Zeitung oder ein Buch. Versuchen Sie, laut zu lesen.«

Er nickt stumm, denn in den nächsten Tagen will er ohnehin die Gegend weiter erkunden.

»Wie war denn Ihr Tag sonst? Sie wirken so, als wären Sie etwas mehr im Gleichgewicht als gestern.«

Holm muss schmunzeln.

»Haben Sie am Ende Ihren Arbeitern einen ernsten Vortrag gehalten?«, fragt Fräulein Brandt nach, nicht ohne sich vorher umgesehen zu haben. Das Thema scheint nicht für alle Ohren in der Pension bestimmt zu sein.

»Nicht ganz«, entgegnet Holm, »aber die Sache entwickelt sich positiv. Was mich beschäftigt, ist etwas anderes.«

Er berichtet von dem Erlebnis mit der jungen Frau, Adini, und Prinz Eitel. Während des Erzählens bemerkt er selbst, dass ihn die Prinzessin in gewisser Weise fasziniert.

»Einerseits kam mir die Frau so natürlich und herzlich vor – andererseits wirkte sie fremd in ihren Gesichtszügen und Gemütsregungen.«

Fräulein Brandt nickt stumm. Nicht verlegen, aber angenehm ist ihr das Thema offenbar nicht.

»Wissen Sie, was es damit auf sich hat?«, fragt Holm. »Ich meine, was ist mit ihr? Und warum will sie unbedingt Fahrrad fahren, wenn sie doch immer fällt?«

»Genaues kann ich Ihnen zur Ursache nicht sagen, da können Sie besser den Arzt fragen. Prinzessin Alexandrine ist von Geburt an versehrt, wenn ich das so ausdrücken darf. Als Kind war sie häufiger bei uns, zwischenzeitlich aber einige Jahre in der Nähe von Jena in einer Art Schule oder Sanatorium.« Sie schiebt den leeren Teller beiseite und reibt sich die Fingergelenke. »Die Sache mit dem Fahrrad ist die: Bei jedem Besuch bei uns in Holland sieht sie die vielen Radfahrer – und ist dann nicht mehr zu halten.«

»Das habe ich bemerkt«, entgegnet Holm. »Aber Sie kann es einfach nicht, oder?«

»Nein. Durch die Erziehung und die Zeit in Jena kann sie viel Alltägliches bewältigen – Radfahren gehört leider nicht dazu. Der Kronprinz hat es übrigens auch strengstens verboten! Es ist erstaunlich, wie zielstrebig die Prinzessin sich jedes Mal irgendwo einen fahrbaren Untersatz organisiert.«

Holm erinnert sich dunkel an einen abschreckenden Zeitungsartikel über Menschen, die der Autor als mongoloide Idioten beschrieb. Damals hatte Holm sich nicht besonders dafür interessiert; sein Gebiet sind eher die Pflanzen und ihre Krankheiten.

Er lässt dieses Thema auf sich beruhen. Stattdessen kommen sie ins Plaudern: über den alten Kaiser und den Kronprinzen, die Frauen, Familien und das Leben in Doorn. Holm findet die Gesellschaft angenehm, auch wenn ihn der royale Tratsch wenig fesselt.

Die Zeit vergeht schnell, so dass sie von Gesa und Frau Scheepers überrascht werden, als diese den Raum für den nächsten Tag herrichten wollen.

»Übrigens wollte ich Ihnen noch sagen, dass es schön ist, Sie mal in Farbe zu sehen«, sagt Holm im Aufstehen.

Fräulein Brandt schaut ihn fragend an.

»Seitdem ich Sie kenne, haben Sie immer Schwarz getragen«, erklärt Holm. »Diese Farben passen viel besser zu Ihnen, meine ich. Man könnte meinen, es wäre bereits Sommer.«

Die Frau lächelt – doch es wirkt erzwungen.

»Danke«, sagt sie, »es kommt nicht oft vor, dass ich so ein Kompliment bekomme.« Sie sieht Holm für einen Moment in die Augen. »Vielleicht haben Sie es nicht ... Nein, sicher nicht, Sie waren ja noch nicht hier! Ich selbst wähle auch lieber andere Farben als schwarz – aber die Umstände haben leider Gottes dazu geführt.«

Es dauert einen Augenblick, bis Holm begreift.

»Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht ...«

»Es ist schon gut. Mein Bruder ist im Januar plötzlich verstorben. Wir standen uns sehr nahe, auch wenn der Kontakt im Laufe der Jahre nicht mehr sehr regelmäßig war.«

»Das tut mir sehr leid, Fräulein Brandt.«

»Danke. Aber nennen Sie mich doch Anni.«

Sie reicht ihm unvermittelt die Hand. »Naja, eigentlich Anna Elisabeth – aber belassen wir es bei Anni!«

»Ich bin Holm«, sagt er und drückt ihre Hand. Es fühlt sich ganz anders an als bei Ilsemann oder Spetti.

»Also, dann wünsche ich Ihnen für morgen einen erfolgreichen Tag«, beschließt Anni Brandt das Gespräch. »Schlafen Sie gut, Holm.«

Ein wenig schwer fällt es ihm schon, die Ereignisse des Tages für seine Niederschrift zu sortieren. Es ist ein Sammelsurium an Themen, die sein Inneres bewegen. Die Begegnungen heute waren intensiv gewesen, der weitere Fortgang ungewiss, vielleicht hoffnungsvoll. Mit der ihm eigenen Disziplin schließt Holm seinen Eintrag ab und klappt das Buch zufrieden zu.

Die Müdigkeit kommt zusammen mit einer angenehmen Schwere. Er traut sich selbst kaum, als er im Halbschlaf einen letzten Gedanken hat: Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Doorn fühlt er sich uneingeschränkt wohl.

Leinstermann in Doorn

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