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12 CARLO PELEGRINE

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Das Schälen einer Apfelsine war möglicherweise die größte mit einem schlechten Gewissen behaftete Lustbarkeit in Carlo Pelegrines Leben. Am Ende jedes Tages drehte er das Schild an der Ladentür um, so dass aus dem GEÖFFNET ein GESCHLOSSEN wurde. Dann zog er das mit altmodischen Fransen verzierte Rollo vors Fenster und nahm eine Apfelsine aus dem Körbchen mit den Zitrusfrüchten, das zwischen den Kristallen und Weihrauchschwenkern stand.

Heute wählte er eine dünnschalige Saftorange aus. Als er zwischen grünen Samtvorhängen hindurch die intime Atmosphäre seines Kartenleseraums betrat, hielt er sie an die Nase und atmete ihren süßen Geruch ein. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er an dem kleinen runden Lesetisch mit der violetten Leinendecke vorbei und nahm im Zwielicht des hinteren Bereichs des Raumes an einem kleinen Rollschreibtisch Platz.

Pelegrine schloss den Schreibtisch auf, schob die Abdeckung hoch, zog an der Messingkette der grünen Tischlampe und enthüllte Fächer mit in Seide geschlagenen Tarotkarten und jeder Menge Bücher, die sich mit Kartenlegen, Handlesen und jeder anderen Weissagungsart befassten. In den Schubladen befanden sich Kerzen, Öle, Holzkohle und Weihrauch; alles, was ein gut vorbereiteter Wahrsager eventuell brauchen konnte.

Pelegrine legte die Orange auf eine beige Serviette, die er einer kleinen, tiefen Schublade entnahm, dann holte er einen Wetzstein und ein Schälmesser heraus. Er lehnte sich zurück und drehte den Stuhl, bis er in den Raum hineinschaute. Mit einem zufriedenen Seufzer zog er das Messer über den Wetzstein, drehte es um und begann von neuem. Er ging seiner Tätigkeit mit geschlossenen Augen nach und fand Ruhe in der Wiederholung und dem zischenden Geräusch der über den Stein fahrenden Klinge.

Schließlich machte er die Augen auf, setzte sich gerade hin und wandte sich wieder dem Schreibtisch zu. Er putzte die Klinge mit der Leinenserviette ab und prüfte ihre Schärfe an seinem Daumen. Perfekt. Jeder echte Druck hätte sein Fleisch zerschnitten.

Pelegrine hob die Orange mit einer langfingrigen Hand, drehte sie im Lampenlicht hin und her, bewunderte die steinartige Textur und jede winzige Unvollkommenheit ihrer Schale.

Schließlich hielt er die Klinge an die Frucht. Er spürte, wie immer, ein erwartungsvolles Beben, das in seinem Schritt begann und sich in angenehmen Wogen in seinem ganzen Körper ausbreitete.

Er schnitt in einem schrägen Winkel in die Schale, ließ die fleischige weiße Lage darunter aber intakt. Seine Konzentration geriet nie ins Wanken; ebenso wenig sein Messer. Er schnitt weiter, bis die feine, dünne Schale in einem Stück auf der Serviette lag.

Er legte Orange und Messer hin, hob die Schale mit beiden Händen hoch, hielt sie unter seine Nase und atmete ihren Duft ein. Er legte sie wieder auf die Serviette, nahm die Orange und das Messer und wiederholte den Prozess, wobei er diesmal die weiße Unterhaut entfernte, bis nur noch die fleischige Frucht übrig blieb.

Pelegrine nahm die Orange in die rechte Hand und schnitt vorsichtig zwischen die Segmente. Er teilte sie, ohne die feine Haut zu durchlöchern. Schließlich legte er das Messer beiseite und ließ die Orange in die Fläche seiner anderen Hand fallen. Der Orangengeruch durchdrang den Raum. Er öffnete seine Hand und atmete ihn genüsslich ein.

Die Frucht erblühte auf seiner Handfläche; ein vollkommenes, unberührtes, süßes Zitrusgewächs. Pelegrine hielt einen der Schnitze unter seine Nase und schob ihn sich dann in den Mund.

Vorsichtig, um die Haut nicht zu zerreißen, betastete seine Zunge den Schnitz und kostete ihn. Schließlich prüfte er die Spannung und spürte die Bewegung des Saftes unter der dünnen Haut. Wie fein, wie schön. Wie vollkommen.

Er biss in die Frucht, ließ seine Zunge vom Geschmack überspülen, schmeckte das Obst und kaute es langsam. Nach dem ersten Schnitz wurde sein Tempo nur geringfügig schneller.

Diese Kleinigkeit war die größte Lust, die er sich erlaubte, denn er entzog sich den Frauen seit zwanzig Jahren. Das Schälen einer Orange war seine Art zu lieben geworden, obwohl er sich nie Erlösung gestattete.

Als Achtzehnjähriger hatte er Gott versprochen, den Rest seines Lebens im Zölibat zu verbringen – als Buße für seine Sünden.

Pelegrine fragte sich noch immer, warum sein Bruder und er auf dem Weg zur Schule die Abkürzung durch die Gasse an der Thirteenth Avenue genommen hatten. Vielleicht aus Neugier? Die hohen, roten Ziegelwohnhäuser hatten am Eingang zur Gasse vor ihnen aufgeragt. Sein Herz hatte heftig geklopft, und er hatte Vic zu einem Wettlauf durch die Gasse aufgefordert.

Er hatte Victor vorauslaufen lassen und nicht damit gerechnet, dass Vic stehen bleiben und sich die Mülltonnen anschauen würde. Vic hatte sich bleich umgedreht und ihn angestarrt. Und Carlo war näher gekommen und hatte zwischen zwei Mülltonnen eine blutleere Hand ins Freie ragen sehen.

Er hatte sie angestarrt, dann hatte er Victor gepackt und ihm klar gemacht, dass sie zu spät in die Schule kommen würden. Vic hatte darauf bestanden, den Fund der Polizei zu melden, und Carlo hatte sich gefügt, denn er hatte gewusst, dass es richtig war.

Zwar hatte man ihn nie eines Verbrechens beschuldigt und er war auch nie in Verdacht geraten, aber die Furcht hatte ihm arg zugesetzt. Er hatte seinen Abschluss an der High School gemacht und den Eltern und Freunden dann gesagt, er wolle ein Jahr herumreisen, bevor er aufs College ging.

Er hatte fortgehen müssen. Er hatte ihnen nicht mehr in die Augen schauen können. Sechs Monate später hatte er seinen Tod vorgetäuscht und seinen Namen geändert. Auch hatte er zur Religion zurückgefunden und Gott ein Versprechen gegeben.

In den ersten Jahren hatte er seine Obsessionen nur schwer beherrschen können. Er war pausenlos unterwegs gewesen, hatte hier und da Jobs angenommen, Geld verdient, um über die Runden zu kommen. Er hatte erst vor acht Jahren Frieden gefunden, als er nach Madelyn gekommen war.

Carlo kaute langsam einen weiteren Orangenschnitz. Seit dem letzten Verbrechen waren zwanzig Jahre vergangen. Rein intellektuell betrachtet wusste er, dass ihm nichts mehr passieren konnte. Abgesehen von einem ziemlich schlechten Zeitungsfoto, das Vic und ihn in der Gasse zeigte, war er nie ins Licht der Öffentlichkeit getreten. Obwohl das Foto ein-, zweimal in Büchern über wahre Verbrechen nachgedruckt worden war, war die Qualität so schlecht, dass es nie zu einem Problem geworden war.

Er war zufällig in Madelyn gelandet. Er hatte den alten Bewegungsdrang verspürt und einen guten Job in Cincinnati aufgegeben. Dort war er zwei Jahre gewesen, länger als irgendwo sonst, und hatte einen angesehenen Job als Koch in einem italienischen Restaurant gehabt. Dort hatte er – wie passend – als Carlo Pelegrine gelebt, unter einer italienischen Version seines Namens. Er war ziemlich glücklich gewesen, doch dann hatte eine platonische Freundschaft zu einer Frau zu etwas Ernsthafterem zu werden gedroht. Die dynamische, leidenschaftliche Frau war die Geschäftsführerin des Restaurants, und obwohl er sich irgendwie von ihr angezogen fühlte, unterlag ihr Verhältnis nicht seiner Kontrolle. Sie jedoch hatte ihm nachgestellt. Er hatte ihr erzählt, er sei schwul, doch sie hatte ihm nicht geglaubt, und in den folgenden Monaten war die Beziehung zwischen ihnen dann immer angespannter geworden.

Also war er gegangen. Auf dem Weg nach Kalifornien hatte Carlo die alte Nervosität gespürt und war sich irgendwie sicher gewesen, dass sie ihn verfolgen und sein Geheimnis an den Tag bringen würde. Er aß noch einen Orangenschnitz, schüttelte den Kopf und lächelte verbittert. Mit Stress war er noch nie gut klargekommen. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatte seine Mutter gesagt, er solle sich weniger Sorgen machen. Doch schon damals hatte er von seiner monströsen Natur gewusst.

Seiner Harley war dreißig Kilometer vor Madelyn in der Mojave-Wüste das Benzin ausgegangen. Es war seine eigene Schuld gewesen, denn er hatte die Tankanzeige nicht überprüft. Er kam sich dumm vor, als er so vor sich hin latschte und die Karre schob. Seine Kleider klebten unter der schrecklichen Augustsonne an seinem Körper.

Ein Kleinlaster mit Pferdeanhänger hatte neben ihm gehalten, aber Carlo hatte nicht die Absicht gehabt, mitzufahren. Er war zu argwöhnisch, zu nervös. Doch der Fahrer, ein gewisser Tom Abernathy, wirkte so unbekümmert, dass er den Schluss zog, es sei in Ordnung, sich zur Tankstelle in Madelyn mitnehmen zu lassen.

Tom Abernathy konnte gut erzählen, und während der kurzen Fahrt war es ihm gelungen, Carlo mit Geschichten über Old Madelyn zu faszinieren. Tom hatte nur eine Frage gestellt: Da das Nummernschild der Harley aus Ohio stammte, hatte er wissen wollen, ob Carlo eine Weile in Kalifornien bleiben wollte. Und vor Rays Tankstelle hatte Tom eine zweite Frage gestellt: Er hatte wissen wollen, ob er Arbeit suchte.

Carlo hatte sich überraschend Ja sagen hören.

Nach dem Tanken waren sie zu Rays Café rübergegangen. Carlo hatte darauf bestanden, für den Kaffee und den Kuchen zu bezahlen. Er hatte nicht gewollt, dass Tom Abernathy ihn für einen faulen Herumtreiber hielt. Laut Tom gab es auf seiner Ranch Arbeit. Carlo hatte sich entschuldigt und erwidert, er könne nicht reiten. Tom hatte nur gelacht und erwidert, er könne auch kein Motorrad »reiten«. Dann hatte er erwähnt, er sei Geschäftsführer des Old Madelyn Historic Park und könne einen Zigeuner gebrauchen, der den Leuten ihre Zukunft weissagte. Außerdem war er der Meinung, dass Carlo einen tollen Zigeuner abgeben würde.

Carlo hatte sich seit Jahren für Metaphysik interessiert und wusste einiges über Okkultismus, doch es hatte ihn ein wenig erschreckt, derlei aus dem Mund eines ziemlich erdverbunden wirkenden Cowboy-Typen zu hören. Doch Abernathy hatte schnell erläutert, dass Old Madelyn kürzlich an New Madelyn verkauft worden war, da der Staat es sich nicht leisten konnte, den Ort zu betreiben. Der größte Teil des Freizeitparks gehörte Tom Abernathy, der eigentlich nichts anderes plante, als eine echte Westernstadt aus ihm zu machen. Er hatte damals schon Geld in die Restaurierung gesteckt, aber Carlo erfuhr, dass einige Läden von Old Madelyn ohne den richtigen Pächter nicht laufen würden.

Carlo hatte Tom gefragt, wieso er einem ihm so gut wie unbekannten Menschen einen seiner Läden anvertrauen wollte. Tom hatte ihm in die Augen geschaut und erwidert, er traue seinen Instinkten. Er könne ein schlechtes Pferd oder einen schlechten Menschen im Allgemeinen auf den ersten Blick erkennen. Dann meinte er, Carlo habe eine geheimnisvolle Ausstrahlung, und diese könne dem Geschäft eines Wahrsagers nur dienlich sein.

Carlo hätte Tom gern erzählt, dass seine Instinkte ihn diesmal trogen, aber er traute sich nicht. Tom hatte wohl erkannt, wie erstaunt er angesichts all dieser Dinge war, denn schließlich hatte er erklärt: »Sagen wir mal, ich glaube ans Schicksal. Das Schicksal, Gott oder was auch sonst hat gewollt, dass du am ersten Tag eines Monats, an dem ich da draußen war, kein Benzin mehr hattest. Du suchst Arbeit, und ich such einen Wahrsager.«

Carlo hatte sich nicht so einfach überreden lassen. Er hatte ganz sichergehen wollen, dass Abernathy es ernst meinte. Und Tom hatte seine Ansicht, dass das Schicksal sie zusammengeführt hatte, nicht nur wiederholt, am Ende hatte er sogar gesagt, Carlo solle aufhören, sich Sorgen zu machen: Vielleicht sei er ihm aus einer anderen Zeit noch einen Gefallen schuldig. Tom hatte gesagt, er wisse nur eins: dass er sich gut dabei fühle. War Carlo nicht der gleichen Meinung?

Carlo hatte zugestimmt, denn auch er hatte bei der Sache ein gutes Gefühl. Dann war Ray Vine in seinen weißen Kochklamotten zu ihnen gekommen und er hatte einen Moment der Furcht verspürt. Der Mann hatte die Haltung eines Generals oder emeritierten Professors, vielleicht sogar beides, und er begutachtete einen so geradeheraus, dass er fast unheimlich wirkte. Tom hatte Ray gefragt, ob nicht auch er meine, Carlo gäbe einen famosen Wahrsager ab. Rays Blick hatte Carlo fast durchlöchert, und in dem Moment, in dem Carlo zu der Meinung gelangte, er könne ihn nicht länger ertragen, hatte Ray sehr positiv geantwortet und ihn in Madelyn willkommen geheißen.

Und so war er geblieben. In den ersten Wochen hatte Carlo Tom Abernathys Gastfreundschaft in Anspruch genommen. Es war ihm zwar unangenehm gewesen, aber er hatte damals nicht gewusst, wie es mit ihm weitergehen oder woher sein nächster Dollar hätte kommen sollen. Tom hatte ihn beschäftigt, ihm die Leitung der Renovierung eines Gebäudes anvertraut und den Vorschlag gemacht, das obere Stockwerk in eine Wohnung umzubauen, denn so hatten es auch einige andere Pächter und Eigentümer gemacht. Tom war ein sehr großzügiger Hausherr und hatte darauf bestanden, dass Carlo die Räume beider Etagen mit erstklassigen Möbeln ausstattete. Carlo, der ständig ein schlechtes Gewissen hatte, hatte eines Abends das Thema zur Sprache gebracht: Er wisse nicht, ob er je genug verdienen würde, um Tom das Geld für die Möbel zurückzuzahlen. Woraufhin Tom bloß gemeint hatte, die Kohle käme schon, wenn er arbeitete, und wenn er die Wahrsagerei erfolgreich betriebe, könne er die Wohnung irgendwann auch kaufen.

Carlo, stets Einzelgänger, war erstaunt, als er merkte, dass er seine Abende mit Tom und oft auch mit Toms zahlreichen Freunden verbrachte, zu denen Polizeichef Moss Baskerville gehörte. Noch mehr überraschte es ihn, dass sie auch seine Freunde wurden. In dieser drögen Wüstenstadt hatte jeder seine eigenen Schrullen, und man akzeptierte die seinen, ohne nachzufragen. Allmählich fühlte er sich zu Hause.

Madelyn - Ort des Schreckens

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