Читать книгу Madelyn - Ort des Schreckens - Tamara Thorne - Страница 18
14 CARLO PELEGRINE
ОглавлениеNach dem Verzehr der Apfelsine lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Genau einen Monat nach seiner Ankunft in Madelyn war Carlo in seine neue Wohnung gezogen. Eine Woche später, zu Beginn der Herbstsaison, hatte er seinen Laden eröffnet. In den Wochen davor hatte er einen Großteil seiner Zeit damit verbracht, sich ins Handlesen und in die Tarotkarten einzuarbeiten. Davor hatte er hauptsächlich Bücher gelesen, die sich mit Reinkarnation, Spiritualismus und Hexerei beschäftigten.
Anfangs hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt, da er andere glauben ließ, er verfüge über übersinnliche Kräfte. Doch sein schlechtes Gewissen war bald verblasst. Es war eine Beschäftigung, die es ihm erlaubte, Gutes zu tun. Er sagte nie etwas voraus, machte immer nur positive Vorschläge und achtete darauf, dass die Menschen, die zu ihm kamen, stets mit einem hoffnungsvolleren Gefühl gingen. Bei der Interpretation der Tarotkarten versuchte er zu inspirieren, denn er glaubte, dass sie im Jungschen Sinne wirkten: Sie waren ein Werkzeug, mit dem man das Unterbewusstsein erreichte. Wollte man Negatives aus ihnen herauslesen – na bitte. Er las nur positive Dinge, es sei denn, es ging um ihn persönlich.
Handlesen war etwas anderes. Obwohl er sich zu inspirieren bemühte, war die Berührung anderer Menschen, und sei es auch nur ihre Hand, etwas, das er vermied, seit ... seit er von zu Hause weggegangen war. Hielt er die Hand eines anderen in der seinen, empfand er die geheime Verlockung wie eine fortwährende Willensprüfung.
Nach zwei Jahren als Wahrsager in Madland wusste er, dass er zur Familie gehörte. Obwohl er nie viel über sich verlauten ließ, trat ihm niemand zu nahe. Er wurde akzeptiert. Man stellte keine Fragen. Einmal war er so weit gegangen, Tom zu erzählen, hinter ihm läge eine finstere Vergangenheit. Tom hatte ihn nie gedrängt, mehr darüber zu erzählen. Ähnlich war es bei Mike Corey, der sein Freund war, nicht sein Priester. Carlo hatte ihm von seiner Buße und seinem Versprechen gegenüber Gott erzählt, ohne näher auf seine Sünden einzugehen. Der junge Geistliche hatte beeindruckt, aber auch verblüfft reagiert und ihn eingeladen, am Gottesdienst in seiner Kirche teilzunehmen. Doch Carlo hatte es nie getan, denn ihm war vor fast einem Jahrzehnt, während seiner letzten Beichte, klar geworden, dass er nicht mehr an Gott glaubte.
Acht Jahre waren vergangen, seit Tom Abernathy Carlo Pelegrine auf dem Highway gerettet hatte. Die Zeit der Flucht und der Gebete waren vorbei. Endlich hatte er ein Zuhause gefunden.
Das Geräusch eines langsam über die Main Street fahrenden Autos unterbrach seine Träumerei. So etwas kam selten vor. Nur Fahrzeuge der hier Ansässigen und Lieferwagen hatten die Erlaubnis, durch die Straßen von Old Madelyn zu fahren, und die meisten Anwohner stellten ihre Autos auf den Einstellplätzen ab, die vom Besucherparkplatz getrennt waren.
Carlo entspannte sich, als ihm einfiel, dass es sich vermutlich um einen Streifenwagen handelte. Der Nachtwächter Joe Huxley hatte seine Runden zu Fuß gemacht, doch seit man ihn vermisste, fuhren Moss oder sein Deputy schon mal über das Gelände.
Plötzlich heulte ein Motor auf. Carlo eilte sofort in den abgedunkelten Laden. Er hob das Türrollo an und konnte die Umrisse eines Wagens erkennen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern im wirbelnden Staub der lampenlosen Straße stand. Dann raste er jäh los.
Carlo schaltete die Verandabeleuchtung ein und öffnete die Tür. Irgendetwas stieß gegen sein Bein. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass da etwas am Türknauf baumelte. Dann wurde ihm klar, dass es irgendein Tier war. Jemand hatte seinen Hals mit einem Stück Schnur um den Türknauf gewickelt.
Carlo öffnete den Knoten, hielt das Ding weit von sich weg und nahm es mit hinein. Er schaltete die Verandabeleuchtung aus und trug seine Last in den kleinen Versorgungsraum im hintersten Teil des Ladens, wo niemand sehen konnte, ob Licht brannte.
Es war ein Kaninchen, und man hatte ihm das Fell abgezogen.
Carlos Hand fing an zu zittern. Er zwang sich, das arme Geschöpf zu untersuchen. Sein Fleisch war zerschnitten und beschädigt. Hier und da war noch graubraunes Fell zu erkennen. Wer immer dem Kaninchen das Fell über die Ohren gezogen hatte, war kein Fachmann auf diesem Gebiet.
Carlo schob den Kadaver in einen schwarzen Müllbeutel und ging zur Hintertür hinaus, um ihn über den Fußweg zu den Mülltonnen zu bringen. Um ihn her heulte der Wind und blies Staub in seine Augen, aber er kehrte nicht um, denn er befürchtete, er würde das Kaninchen die ganze Nacht anstarren, wenn er es im Haus behielt. Er erreichte den Mülleimer, warf den Kadaver hinein und bedeckte ihn mit Kartonagen und Stapeln von Werbebriefen.
Als er wieder im Laden war, schloss er die Türen ab und ging hinauf ins Bett. Vom Kopf her wusste er, dass der Zwischenfall nichts mit ihm zu tun hatte und dass er ihn Moss Baskerville melden sollte. Höchstwahrscheinlich hing er mit der Schmiererei an Cassies Briefkasten zusammen, die Tom heute Nachmittag erwähnt hatte.
Doch in dieser Nacht träumte er von schönen Frauen und ihrer weichen, glatten Haut. Ein solcher Traum hatte ihn seit acht Jahren nicht mehr geplagt.