Читать книгу Madelyn - Ort des Schreckens - Tamara Thorne - Страница 5
DIENSTAG 1 TOM ABERNATHY
ОглавлениеVerfluchte Schafe, dachte Tom Abernathy. Doofe Schafe. Er sprang in den Ablassgraben, um zu verhindern, dass die ihn einholende Wollmasse ihn einkesselte. Seit kurzem, fiel ihm auf, verbrachte er ziemlich viel Zeit damit, der einen oder anderen Herde auszuweichen.
Schon waren sie überall: schmutzige, Staubwolken erzeugende Schafe. Sie waren vor und hinter ihm, kauten und blökten, stanken und kackten. Auf der Thunder Road ging nichts mehr. Außerdem trampelten sie die orangefarbenen und gelben Wildblumen in nördlicher Richtung zwanzig Meter weit nieder. Marie, die er noch nicht erspäht hatte, war zwar nicht übel (eigentlich war sie eher das Gegenteil), doch meist roch sie nach Lanolin und Schafsdesinfektionslösung – nach Toms Meinung genau das richtige Parfüm für eine Schäferin. Wenn er ehrlich war, berauschten ihn dieser Geruch und der zarte, süße Duft von Maries Haut und Haaren seit nun zwei Jahren.
Er empfand nicht als Einziger so. Viele Männer in der Stadt waren in Marie vernarrt. Doch während Abernathy sein Sehnen für sich behielt, war Phil von der Morgenschicht in Rays̓ Truck Stop Café so in Marie verknallt, dass sie nach Eulenkacke und Sumpfwasser hätte riechen können. Es hätte Phil nicht die Bohne gestört. Seine Brautwerbung bestand schlicht darin, dass er »I Get a Kick Out of You« sang, sobald sie reinkam, um einen Kaffee zu trinken. Das war zwar nicht besonders originell, aber für jemanden aus New Madelyn nicht übel, und Marie schien es nicht zu stören. Die Kommentare der in Madland – beziehungsweise dem Old Madelyn Historic Park – arbeitenden Männer fielen etwas vulgärer aus. Sie sangen zum Beispiel Lieder wie »Mary Had a Little Ram« oder sagten Dinge wie »Willste mich, Marie? Ich will dich«. Franklin Hank Flinn, der Besitzer des Octopus – als echter Witzbold nannte er ihn Octopuff –, hatte sich einst bei Marie nach der Erektionsdauer von Schafsböcken erkundigt. Soweit bekannt, war dies der einzige Tag gewesen, an dem die Schäferin je ausgerastet war. Für eine so kleine Frau hatte sie sensationell kräftige Hände: Frank Hank hatte anschließend geschworen, sie hätte die Quelle seines Vergnügens mit einem schnellen Ruck und einer Drehung für immer abtrennen können.
Tom nieste und atmete Staub ein. Das Zeug legte sich auf seine Zähne. »Verfluchte Schafe«, brummte er und zog ein verblasstes rotes Halstuch aus der Gesäßtasche. Er schüttelte es aus, faltete es über Kreuz und band es sich wie ein Bandido über Mund und Nase. Noch heute, im reifen Alter von zweiundvierzig Jahren, hatte er seinen Spaß daran – wie damals als kleiner Wicht. Und damit er noch verwegener aussah, zog er die Krempe seines braunen Biberpelz-Stetson ein Stück herunter.
»He, Cowboy!« Maries Stimme erhob sich klar wie Vogelgezwitscher über das Blöken der Schafe.
Tom setzte eine lässige Miene auf, blieb stehen und blickte zu ihr hoch. »Wie geht’s, Marie?« Damit die helle Frühlingssonne ihm nicht so in die Augen stach, zog er die Hutkrempe noch etwas tiefer.
»Mir geht’s gut.« Marie glitt von Rex, ihrem rabenschwarzen Wallach, herunter und ließ einen Zügel fallen. Dorsey, einer ihrer Collies, wollte ihn schnappen, doch Marie verwies den Hund mit einem bedeutungsvollen Blick in seine Schranken. Dorsey zog den Schwanz ein und gesellte sich zu Wild Bill, seinem Partner. »Los, ihr beiden, geht wieder an die Arbeit«, sagte Marie zu den Hunden und gesellte sich zu Tom an den Graben. »Komm her«, sagte sie zu ihrem Pferd. Der Wallach trottete gehorsam zwei Schritte näher an den trockenen Graben heran. Er schien bereit, Marie überallhin zu folgen.
Sie kann wirklich gut mit Tieren umgehen. Tom roch ihren Duft.
»Ist ja ein freundlicher Tag heute.«
»Na klar, die Wüste ist wirklich nett zu den Menschen.«
»Du bist echt smart, weißt du das?« Tom fragte sich, wieso der Staub nicht an Maries Zähnen haften blieb.
»Weiß ich, Cowboy.«
Marie Lopez hatte einen hellbraunen Teint und große dunkelbraune Augen. Wäre sie mit einem hellen Rock und billigem Modeschmuck bekleidet gewesen statt mit Levi’s-Hosen und einem Kambrikhemd, hätte sie ihr gewelltes dunkles Haar offen getragen statt es unter einem Strohhut nach hinten zu binden – sie hätte eine tolle Zigeunerin abgegeben.
Tom fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, um eventuell noch vorhandenen Staub zu entfernen, dann zog er das Halstuch nach unten. »Sag mal, warum gibst du die stinkenden Schafe eigentlich nicht auf und liest den Leuten in Madland aus der Hand?«, fragte er zum vielleicht tausendsten Mal.
»Weil ich mein Einkommen auf ehrliche Weise verdienen möchte«, erwiderte Marie zum vielleicht fünfhundertsten Mal. Sie hatte noch fünfhundert weitere Antworten auf Lager, allesamt farbenfroh und freundlich-obszön, was auch der Grund war, warum man ihr diese Frage so oft stellte.
»Willst du damit sagen, Carlo ist nicht ehrlich?« Die Enttäuschung darüber, dass sie ihn mit ihrer Standardantwort abspeiste, machte Tom hellhörig.
Marie legte zwar den Kopf schief und durchbohrte ihn mit ihrem Blick, tat aber nichts, wenn man davon absah, dass ein berechnendes Lächeln ihr langes, ledriges Gesicht verzog.
»Wenn ich dich so ansehe, Abernathy«, brummte sie, »müsstest du eigentlich den Schwanz einziehen und ganz schnell ’ne Fliege machen.«
»Ach, wirklich?« Toms Lächeln wurde breiter.
»Du bist in Ordnung«, sagte Marie todernst. »Du jagst einem keinen Schreck ein.«
Tom nickte. Er war entschlossen, etwas in Gang zu bringen. »Carlo jagt einem auch keinen Schreck ein, aber du willst wegen seines verlogenen Berufs nichts mit ihm zu tun haben.«
»Brauchst mir nicht auf ’n Zahn zu fühlen, Cowboy. Carlo ist ’n Seelenklempner in Zigeunerklamotten. Er bringt die Leute nur dazu, dass sie sich gut fühlen.«
Das stimmte. Der Madland-Wahrsager und Marie hatten viel gemeinsam: Sie waren klug, schwer einzuschätzen und verdammt launisch. Möglicherweise konnte er die beiden deswegen so gut leiden. Wie die Schäferin verbrachte auch Carlo Pelegrine viel Zeit mit dem Kampf gegen das andere Geschlecht. Die einzige Frau, auf die Carlos verflucht gutes Aussehen keine Wirkung hatte, war Marie. Tom fragte sich hin und wieder, ob ihre Ähnlichkeit die beiden wohl irgendwann zusammenführen würde. War er dann aus dem Rennen, bevor er überhaupt dazu kam, einzusteigen? Höchstwahrscheinlich, dachte er, verschlechtert es meine Chancen nur, wenn ich die beiden aufziehe.
»Tom?«
»Ja?«
»Wieso gehst du heute zu Fuß?«
Tom zuckte die Achseln. »Belle kriegt gerade neue Eisen.« Die reine Wahrheit war die: Er hätte auch einen anderen Gaul nehmen können, aber ihm war nach jener Art Frieden und Ruhe zumute gewesen, die durch alles aus Fleisch und Blut Bestehende gestört worden wäre, seine Lieblingsstute ausgenommen. Wenn Tom nachdenken wollte, musste er allein sein. Es lag etwas in der Luft. Er lächelte grimmig. Dinge, die nichts mit Schafen zu tun hatten.
»Du bist so langsam geschlendert, Tom«, hakte Marie nach. »Worüber hast du nachgedacht?«
Tom trat mit der Stiefelspitze nach einem trockenen Pferdeapfel, dann sagte er langsam: »Ach, über den Tag, an dem du Franklin Hank beinahe sein Wiener Würstchen abgerissen hättest.«
Maries fröhliches Lachen gab eine ganze Tonleiter wieder. Alles an ihr war musikalisch. »Ich hör es gern, wenn du schmutzig daherredest, Cowboy.«
»Als Franklin Hank schmutzig dahergeredet hat, hat es dir aber nicht gefallen.«
»Das ist was anderes. Er ist ’n alter Lustmolch.«
»Er ist nicht viel älter als ich.«
»Spiel nicht den Doofen, Abernathy. Es gibt Zehnjährige, die alte Lustmolche sind. Solche Typen entwickeln sich nicht dazu – die werden so geboren. Frank Flinn ist ’n alter Lustmolch. Keine normale Frau kann ihn ausstehen. Er ist sogar schmutzig, wenn er sauber ist. Sogar sein Blick ist schmutzig. Und erst seine schleimige Stimme. Er muss schon damit rechnen, was aufs Maul zu kriegen, wenn er ’ne Frau nur fragt, ob sie mit ihm in die Kirche geht.«
Sie spazierten eine Weile nebeneinander her und sprangen von einem Thema zum anderen. Marie wollte die Herde ein paar Kilometer nach Norden führen, damit sie im Rattlesnake Canyon grasen konnte. Dort würde sie mindestens eine Woche lang niemanden zum Tratschen haben.
Angesichts all der durchgeknallten Typen, die neuerdings von sich reden machten, hätte Tom es lieber gesehen, sie wäre nicht allein auf die Weide gegangen, aber natürlich konnte er ihr so was nicht sagen. Er erzählte ihr lieber von den Preisen, die zwei seiner Pferde letzte Woche beim Fassrennen in Victorville gewonnen hatten. Dann sprachen sie eine Weile über die neu inszenierte Stuntshow, die die Touristen am Wochenende nach Madland zog. Am Ende des Grabens hatten sie auch den selbst ernannten Propheten James Robert Sinclair durchgekaut, der behauptete, die Apokalypse sei längst im Gange. Ferner hatten sie sich über die neuesten UFO-Sichtungen (die meisten hatte Janet Wisters Club der Weltraum-Freunde gemeldet) und Franklin Hanks in die Hose gegangenen Versuch unterhalten, Toms Pferdetrainerin Frannie Holder zu verführen. (Gerüchten zufolge hatte Frannie Frank Hank ihre Reitgerte dort reingeschoben, wo keine Sonne scheint, und Tom bezweifelte, dass er auf solche Sachen stand.)
»Also, ich bieg jetzt ins Gebirge ab.« Marie schwang sich in Rex’ Sattel. Sie pfiff, und als die Hunde angelaufen kamen, hob sie den Arm und deutete auf die Berge. »Dorsey, Bill – wenden!«
Die Collies bellten gleichzeitig, dann fegten sie los und nahmen die Richtungsänderung der Herde in Angriff.
»Erstaunlich«, sagte Tom. »Ich wette, wenn du willst, kannst du auch Krähen dressieren.«
»Danke, aber da lobst du mich zu sehr. Die Hunde sind einfach klug.« Marie lächelte freundlich und schaute den Tieren bei der Arbeit zu. »Schätze, wir sehen uns in einer Woche oder so, Tom.«
Trotz der warmen Frühlingssonne durchfuhr ihn ein Schauer. Der Teufel ist gerade auf mein Grab getreten. »Sei bloß vorsichtig da oben, Marie. Lass keine Schlangen in deinen Schlafsack.«
»Keine Sorge. Ich lass Franklin Hank doch hier unten bei euch.« Sie wendete ihr Pferd und machte sich bereit, der Herde zu folgen.
»Marie?«
»Ja?«
»Die Schafe, die du letzten Monat verloren hast ... Glaubst du wirklich, ein Berglöwe hat sie geholt?«
»Mir ist keine bessere Erklärung eingefallen.« Marie hielt inne.
»Warum fragst du?«
»Pass auf, ja?«
»Bist du heute nicht ein bisschen zu besorgt? Klar, pass ich auf, dass das Kätzchen mich nicht frisst. Ich werd’s schon schaffen. Die Hunde schlafen immer neben mir. Und die Flinte hab ich auch dabei, siehst du?«
»Die Weltraum-Freunde glauben, dass Außerirdische sich die Schafe geschnappt haben. Halt also lieber nach kleinen blauen Männchen Ausschau.«
»Kleine blaue Männchen sind besser als gar keine Männchen.« Marie warf ihm einen rätselhaften Blick zu. »Bis später, Cowboy.«
»Bis später, Marie.«
Tom stand mitten auf der Thunder Road. Er schaute ihr hinterher, bis sie und ihre Schafe vor den zerklüfteten roten Bergen nur noch als Punkte erkennbar waren. Erneut durchfuhr ihn ein Schauer, und seine Nackenhaare richteten sich auf. »Pass bloß auf, Mädchen«, sagte er leise und ging weiter.
Seine Besorgnis beunruhigte ihn mehr als alles andere. Tom war nämlich stolz auf seine gelassene Natur, und seine lakonische Cowboy-Nummer war eigentlich gar keine Nummer, sondern eine Lebenseinstellung. »Wenn du nicht rausgehst und dich mit anderen misst, bringst du es nie zu etwas, Sohn«, hatte sein Vater oft gesagt. Dieser hatte als Jahresbester in Harvard sein Examen gemacht und gehörte nun zu den angesehensten Kardiologen des Landes. Für einen Menschen seiner Art war ein Sohn, der das College sausen ließ und sich nicht für Medizin – und noch schlimmer: nicht für Football – interessierte, sondern nur ein Pferd haben und Cowboy sein wollte, eine besondere Herausforderung gewesen.
Tom lächelte vor sich hin. Sein Vater hatte ihn zwar nie verstanden, doch er hatte ihn immer mehr oder weniger akzeptiert. Heute hatte er sogar Respekt vor ihm. Zehn Jahre, bevor es wirklich so weit gewesen war, hatte er Tom bereits als Züchter von Turnierpferden gesehen. Vielleicht hatten seine Geschichten Tom erst auf diese Idee gebracht. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls waren sie eine gute Entschuldigung dafür gewesen, sich nicht nur mit einem, sondern mit mehreren Pferden zu beschäftigen. Da Toms Pferde im Gegensatz zu ihm ganz wild darauf waren, ihre Kräfte mit anderen zu messen, besaß er nun ein Dutzend Preisgewinner, die ihm beträchtliche Summen einbrachten. Diese Gewinne wiederum erlaubten ihm, Miss Frannie Holder zu bezahlen, die ebenfalls wild darauf war, ihre Kräfte mit anderen zu messen. Da Frannie die Drecksarbeit machte, war es Tom möglich, den größten Teil seiner Zeit in Madland zu verbringen, wo er Lassos warf, in der Stuntshow seine Schießkünste vorführte, Stadtkindern im Streichelzoo etwas über Esel und andere Farmtiere erzählte oder einfach nur mit Carlo und den Jungs von der Stuntshow rumsaß und Quatsch machte.
Tom ging auch anderen Vergnügungen nach: Im Frühjahr und im Herbst – der touristischen Hauptsaison – ritt er oft zum Campingplatz runter und erzählte am Lagerfeuer ein paar Geistergeschichten. Einmal pro Woche lud er zudem Gäste in sein großes, mit allen Schikanen versehenes Ranchhaus ein. Die Leute kamen gern zu Besuch, aber ob sie wegen der Gesellschaft, der Klimaanlage oder des Könnens des Ranchverwalters am Holzkohlengrill auftauchten (Davy Styles konnte sogar Geier so grillen, dass sie schmeckten), wusste Tom nicht genau. Eigentlich war es ihm auch egal.
Am liebsten aber ritt er in die Madelyn Mountains und nahm nur Schlafsack, Gitarre und Kochgeschirr mit. Manchmal zog es ihn in den Spirit Canyon. Er lag am östlichen Ende der Thunder Road, wo die Berge so voller Mineralablagerungen waren, dass sie bei Sonnenuntergang kupfergrün, eisenchloridrot und purpurn glänzten. Er ging auch schon mal über den Trail, den Marie diesmal nahm, nach Norden: über die Berge in den Rattlesnake-Canyon runter, eine schaurig-schöne, gespenstisch anmutende Gegend voller Joshuabäume und Mesquite. Wenn er dort war, zündete er ein Lagerfeuer an, klimperte auf der Gitarre und verscheuchte bis auf die Coyoten alles in Hörweite. Danach legte er sich hin und zählte die Sterne.
Marie ist allein da draußen. Schon bekam Tom wieder eine Gänsehaut. Als er nach Norden blickte, hoffte er, dass ihre Annahme stimmte, dass wirklich ein Berglöwe für die Angriffe verantwortlich gewesen war. Tom selbst war sich da nicht so sicher.
Die Tötungen, von denen er gehört hatte, klangen einfach zu ordentlich. Raubtiere ließen nämlich immer ein Chaos zurück. Verendete ein Tier auf natürliche Weise und kamen nur die Insekten und Vögel an den Kadaver ran, sahen die Überreste manchmal auch sauber abgenagt aus. Doch trockene Luft und ein Ameisenhügel konnten verschwundene Organe und Einschnitte ins Fleisch kaum verursachen. Kein Wunder also, dass die UFO-Spinner »Chirurgen aus dem All!« und Jim-Bob Sinclair und seine Anhänger ebenso laut »Satan!« schrien.
Und dann die Vermissten. In den letzten drei Monaten waren mehrere Einheimische spurlos verschwunden. Na schön, hin und wieder, wenn sein Goldrauschwahn ausbrach, tauchte Joe Huxley für ein paar Wochen oder gar einen Monat unter, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Aber jetzt war er schon seit Februar weg. Sein Jeep stand noch in seiner Einfahrt, und man hatte weder auf seinen Claims in den Madelyns noch im Spirit Canyon eine Spur von ihm gesehen.
Dann hatte Kyla Powers gegen Ende März eines Abends ihr Lederwarengeschäft abgeschlossen und sich in Luft aufgelöst. Vielleicht war sie wirklich losgefahren, um ihre Mutter zu besuchen, wie Cassie Halloway meinte – aber Kyla war keine von denen, die mitten in der Saison ihren Laden dicht machten und wegfuhren. Die letzte Vermisste war erst vor einer Woche verschwunden. Ihr Fall war der merkwürdigste überhaupt: Madge Marquay war Lehrerin an der High School und eine Person des öffentlichen Lebens. Ihr Terminkalender war immer voll. Sie hatte bis vor einer Woche nie eine Verabredung oder einen Arbeitstag versäumt. Der arme Henry Marquay war außer sich. Polizeichef Moss Baskerville und Al Gonzales, sein einziger Officer, wühlten nun überall herum – mit der unerbetenen Hilfe von Madges Freunden. Gestern war auf Toms Türschwelle eine kleine Schar blauhaariger Miss Marples mit Notizblöcken und Kugelschreibern aufgetaucht – in der Hoffnung, er könne ihnen möglicherweise Hinweise geben.
Scharen alter Ladys, Scharen von Schafen, Scharen von UFO-Spinnern, religiöse Fanatiker und Touristen, die lieber UFOs als Wildwestshows sehen wollten, hatten sich offenbar dazu verschworen, Toms friedliches, glückliches Leben durcheinander zu bringen.
Im Osten, wo die Thunder Road in den Spirit Canyon führte und sich zu einer einspurigen Fahrbahn verengte, erhob sich eine Staubwolke. Ein, zwei Sekunden später tauchte ein Fahrzeug auf, das sich Tom mit hoher Geschwindigkeit näherte.
Neugierig blieb er an der Kreuzung Thunder Road/Old Madelyn Highway stehen. Kurz darauf sah er einen Militärjeep, einen offenen CJ-5. Als der Wagen verlangsamte, um auf den Old Madelyn Highway einzubiegen, nahmen die drei uniformierten Insassen Tom mit kritischen Blicken in Augenschein. Die beiden, die vorn saßen, waren Unteroffiziere in Tarnanzügen; der Typ, der hinten saß, war ein unter dichten Brauen finster vor sich hin blickender Offizier, dem es wohl Spaß machte, sein Lametta vorzuführen. Sie gehörten vermutlich zur Luftwaffe.
Militärische Typen waren in Madelyn nichts Neues: Die Edwards-Luftwaffenbasis befand sich im Westen, China Lake und das außer Dienst gestellte Fort Irwin lagen im Norden. Twenty-Nine Palms war – unter anderem – im Südosten, und wenn sich nicht gerade Konvois über die Interstate 15 quälten, sah man immer wieder Soldaten in Jeeps, die in den Bergen und Schluchten hinter Madelyn herumschnüffelten. Tom fragte sich, ob sie wegen der UFOs oder der Verstümmelungen hier waren. Oder wollten sie die Paranoia der Einheimischen nur weiter schüren?
Dann bemerkte er etwas Außergewöhnliches und vergaß die Uniformierten. Hinter dem Old Madelyn Highway, nicht weit von Fort Madelyn, dem frisch restaurierten Unions-Außenposten des Parks, lag etwas. »Was ist das, verdammt?«, fragte Tom laut, kniff die Augen zusammen und musterte die Erhebung. Möglicherweise war es nur ein großer weißer Müllbeutel, den irgendein achtloser Tourist weggeworfen hatte, doch auf ihn wirkte es eher wie ein Tier. Tom überquerte mit fünf langen Schritten die Straße.
»Mein Gott.« Es war tatsächlich ein Tier. Eine weiße Ziege. Sie lag mit gebrochenen und verdrehten Gliedmaßen da. Ihr Kopf war platt und sah in den länger werdenden Schatten des Nachmittags, die die Mauern des Forts nun warfen, matschig aus. »Verdammt«, sagte er leise, als er sich hinkniete und die silberne Würgekette am Hals der Ziege sah. Sie gehörte zu Cassie Halloways Haustieren. »Verdammt noch mal! Warum muss ausgerechnet ich sie finden?« Als er aufstand, bemerkte er eine unnatürliche Anzahl von Steinen und Felsbrocken, die um den Kadaver verstreut waren. Ein spitzer Quarzfelsbrocken steckte halb im Bauch der Ziege. Tom schüttelte traurig den Kopf. Er hätte kotzen können. Das Menschen fähig waren, Tieren etwas so Grausames anzutun, überstieg sein Begriffsvermögen. Das war ja noch schlimmer als die Verstümmelungen. Das arme Geschöpf musste schrecklich gelitten haben.
Tom trottete zum Old Madelyn Highway zurück, bog nach Süden ab und ging die hundert Meter zu Cassie Halloways Grundstück. Als er die Einfahrt erreichte, sah er etwas, was das mulmige Gefühl in seinem Magen noch verstärkte: Jemand hatte mit roter Farbe die Zahl »666« auf die Seite des Aluminiumbriefkastens gemalt. Tom berührte behutsam die Farbe. Trocken. Es musste schon vor einer Weile geschehen sein, aber auf dem Hinweg hatte er nichts bemerkt. Als er noch einmal hinschaute, sah er, dass die Ziffern nur auf der Nordseite des Kastens standen. Wer aus der Stadt kam, konnte sie gar nicht sehen.
Er fragte sich, wie lange die Zahl schon da war, und ging über die unbefestigte Einfahrt zu Cassies ordentlichem gelbem Bungalow. Als er die Treppe zu ihrer im Schatten liegenden Veranda hinaufstieg, hörte er, dass im Hausinneren ein Popeye-Trickfilm lief. Tom klopfte an. »Cassie? Ich bin’s, Tom.«
Er hörte das Geräusch laufender Füße, dann flog die Haustür auf. Die kleine Eve Halloway packte kichernd einen von Toms Fingern und zog ihn hinein. »Mommy, Tom ist da!«, schrie sie und zerrte Tom auf das Sofa vor dem Fernseher.
»Bin gleich da, Tom«, rief Cassie von irgendwoher aus den Tiefen des Hauses.
»Mommy ist im Bad«, berichtete Eve.
»Lieber Himmel«, sagte Tom schnell, »dieser Popeye ist aber wirklich ’n starker Bursche, was? Ich würd auch gern Knoten in Stierhörner machen können.«
Eve, ein zart, beinahe zerbrechlich aussehendes Kind, blickte ihn mit erstaunlich großen, dunkelgrauen Augen an. Die sechs Jahre alte Nervensäge hatte nur wenig Ähnlichkeit mit ihrer rothaarigen Mom. Da Cassie die Identität von Eves Vater nicht enthüllen wollte, waren einige der fanatischeren Weltraum-Freunde davon überzeugt, dass ein Außerirdischer sie gezeugt hatte. Na ja, bei den großen Augen und so. Tom war sich jedoch zu 98 Prozent sicher, dass Polizeichef Moss Baskerville Eves Vater war: Er hatte nicht nur stahlfarbene Augen, sondern auch eine Menge blondes Haar auf seinem großen, allmählich ergrauenden Schädel. Außerdem glaubte Tom daran, weil Eve Moss Daddy nannte. Moss und Cassie hatten seit einem Jahrzehnt etwas miteinander: Man konnte Moss fast so oft in Cassies Häuschen begegnen wie in New Madelyn. Aber aus irgendeinem Grund durfte man nicht darüber sprechen.
»Mommy hat eine neue Tätowierung«, gab Eve bekannt und ließ sich neben Tom aufs Sofa fallen.
»Hat sie sie dir gezeigt?«
Eve nickte ernst. »Mhm. Weißt du, was es ist?«
»Mal nachdenken.« Tom nahm seinen Hut ab und kratzte sich am Kopf. »Ein riesiger Elefant?«
»Nee.«
»Ach, dann ist es vielleicht eine Dose Spinat.«
Eve stützte die Hände auf die Hüften und unterdrückte ein Kichern. »Nein, du Dussel. Es sind Sechsen.«
»Sechsen?« Tom bekam schon wieder eine Gänsehaut.
»He, Tom!« Cassie trug Jeans und ein ärmelloses T-Shirt, das ihre Tattoos offenbarte, und hatte sich ein rosafarbenes Handtuch wie einen Turban um den Kopf gewickelt. »Tut mir Leid, dass du warten musstest. Wir haben heute letzte Hand ans Bühnenbild des neuen Stücks gelegt – und dabei habe ich Bekanntschaft mit einer Dose Farbe geschlossen.«
Sie war stolz auf das Langtry-Theater. Es finanzierte nicht nur die bescheidenen Bedürfnisse der Halloways: Der Umbau des schäbigen Gebäudes am Nordrand von Madland hatte Cassie vor fünf Jahren von einer umherziehenden Go-go-Tänzerin zur angesehenen Geschäftsfrau gemacht. »Ich dachte schon, ich krieg das Zeug nie wieder aus den Haaren!«
»Mommys Haare waren ganz lila!« Eve kicherte.
»Wie hast du –«, setzte Tom an.
»Bin unter ’ner Leiter vorbeigegangen. An dem alten Aberglauben ist wahrscheinlich doch was dran.« Cassie grinste. »Evie hat dir also erzählt, dass ich ’ne neue Tätowierung hab?«
»Sie sagt, es ist ein Schlachtschiff«, erwiderte Tom düster.
»Hab ich gar nicht gesagt! Er flunkert, Mom!«
Tom stand auf. »Das Mädchen kann man einfach nicht reinlegen.«
Cassies Tätowierungen basierten im Grunde alle auf einer. Ihre erste stammte aus den sechziger Jahren und zeigte über ihrer linken Brust drei zeitgemäße psychedelische Paisleys; etwa so, wie die von Goldie Hawn in der alten Laugh-In-Show. Mit der Tätowierungssammelei hatte sie vor fast zwanzig Jahren angefangen, als sie nach Madland gekommen und dem Ex-Rocker und Tätowierer Gus Gilliam begegnet war. Gus hatte einen Katalog des Metropolitan Museum of Art besessen. Er war ein echtes Nadeltalent und hatte Cassie im Nu überredet, ihre psychedelischen Paisleys mit einem frischen Bildertrio auf der rechten Brust auszugleichen. Gus hatte sie im Stil der naiven Malerin Grandma Moses gemacht – winzige, von Tränen umgebene Jahreszeitenbildchen. Cassie war darauf abgefahren. Dann hatte Gus sie mit Renoirs, Bruegels und Remingtons verschönert. Inzwischen war er verstorben.
Glücklicherweise hatte Gus junior das Talent und das Interesse seines Vaters geerbt und machte dort weiter, wo Gus senior aufgehört hatte. Cassies Rücken, ihr Torso, ihre Oberarme und Schenkel waren nun eine lebendige Hommage an die alten Meister. Gus junior hatte neuerdings die expressionistische Masche drauf, die Tom nicht sonderlich gefiel. Die Remingtons waren ihm lieber.
Cassie drehte den linken Arm. »Ist es nicht prächtig?«
»Absolut.« Die Tätowierung war in einem neuen Stil gemacht. Sie war das erste Kunstwerk auf Cassies Ellbogen.
»Es ist Art nouveau, Aubrey Beardsley«, sagte Cassie. »Diesmal hat Gus sich selbst übertroffen, was?«
»Die Farben erinnern mich an Carlos kleine Tiffany-Lampe.«
Cassie nickte erfreut. »Ist die gleiche Epoche.«
»Schau dir mal die Details auf dem Libellenflügel an«, sagte Tom staunend.
»Siehst du die kleine Fee, die auf der Blume tanzt? Ist die nicht entzückend?«
»Ja, sicher.« Tom zögerte. »Cassie ...«
»Was geht dir im Kopf rum, Tom?« Cassie ließ den Arm wieder sinken.
»Ich muss was mit dir besprechen«, erwiderte Tom zurückhaltend.
»Ich hab Kaffee in der Küche.«
»Klingt gut.«
Als sie an der Küchenzeile Platz nahmen, kam Eve rein. »Was macht ihr?«
»Geh doch mal nach draußen, Schätzchen«, sagte Cassie, »und ...« Tom schüttelte den Kopf. Cassie hielt inne, blickte ihn an und fuhr fort: »Schau dir einen Trickfilm an, solange ich mich mit Tom unterhalte.«
»Ich möchte mich auch unterhalten.«
»Nein, Eve.«
»Aber ich möchte –«
»Okay«, unterbrach Tom. »Wir wollen ein paar Rezepte austauschen. Hast du ein paar beizusteuern?«
»Nee!« Eve verschwand wieder im Nebenraum. Der Fernseher wurde lauter.
Plötzlich ertönte ein Knacken, und alles erzitterte leicht.
»Ein Erdbeben!«, schrie Eve und übertönte den Fernseher. Das Haus knirschte zustimmend und nahm seine alte Position wieder ein.
Tom und Cassie schauten sich an. Sie warteten auf den nächsten Erdstoß, aber er blieb aus.
»Hat in letzter Zeit öfter mal ’n bisschen gebebt«, sagte Cassie.
»Yeah. Ich hoffe, es bedeutet, dass das Land zur Ruhe kommt – und nicht etwa einen großen Erdstoß vorbereitet.«
»Die dämlichen Wissenschaftler wissen auch nichts. Also los, Tom, worüber wolltest du mit mir reden?«
»Tja, mir ist gerade etwas eingefallen, was Eve gesagt hat«, erklärte Tom. »Sie hat deine Paisleys ›Sechsen‹ genannt.«
»Macht sie immer, seit sie Zahlen kennt. Aus der Ferne sehen sie auch fast wie Sechsen aus, oder?«
Tom nickte. »Und es sind immer drei.«
»Klar. Damit sie symmetrisch sind.«
»Jemand hat drei Sechsen auf deinen Briefkasten gemalt, Cassie.«
»Was?«
»Du weißt schon. Sechs-sechs-sechs. Wie das Teufelszeichen. Mit roter Farbe. Als ich es gesehen hab, ist mir eingefallen, dass es hier vor ein paar Jahren einen Satanskult gab. Sechs-sechs-sechs. Sie haben die Zahl auf einen Grabstein am Boot Hill gemalt und einen Haufen schwarzer Hennen geschlachtet ...«
»Und jetzt hat jemand ein paar Sechsen auf meinen Briefkasten gemalt.« Cassie klang nicht besorgt. »So weit außerhalb der Stadt bin ich ein leichtes Ziel. Glaubst du, der Kult ist wieder hier?«
Tom zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, aber ich halte es auch nicht für willkürlichen Vandalismus.«
»Quatsch, Tom. Natürlich ist es das.«
»Wenn Eve die Sechsen nicht erwähnt hätte, würde ich mit dir übereinstimmen. Oder wenn ...« Er hielt inne, weil er ihr den Rest nicht erzählen wollte.
»Spuck’s aus, Tom.«
Tom schaute sie eine ganze Weile an. »Es ist noch was passiert, Cass. Eine deiner Ziegen ist tot.«
»Das kann nicht sein, Tom. Sie waren heute Morgen, als ich Evie zur Schule brachte, beide hier.« Cassie stand auf, öffnete die Hintertür und trat auf die Treppe hinaus. »Daisy ist da. Iris? Iris?«
»Ich hab sie auf der Straße gefunden. Am Fort.«
Cassie drehte sich zu Tom um. Ihr Gesicht war kalkweiß. »Ist sie von einem Auto überfahren worden?«
»Nein. Sie wurde bewusst getötet. So wie’s aussieht, geh ich davon aus, dass man sie gesteinigt hat, Cassie. Moss muss sich das unbedingt mal ansehen.«
Cassie setzte sich langsam hin. »Gott, ich hab die verdammte alte Ziege gern gehabt.«
»Ich weiß.«
»Evie hat sie auch gern gehabt.«
»Ich glaube, du solltest Evie erst wieder allein vor die Tür lassen, wenn Moss weiß, was hier vor sich geht.«
»Glaubst du, die Sachen mit der Ziege und dem Briefkasten haben was miteinander zu tun?«
»Ich denke, ja«, gestand Tom und wünschte sich, er wäre nicht auf diese Dinge gestoßen. Am liebsten wäre er jetzt ganz woanders gewesen.
Tränen begannen über Cassies Wangen zu rinnen. Sie wischte sie schnell weg. »Diese verdammten Satanisten. Die sollte man steinigen.«
»Was ist mit den Aposteln?«, fragte Tom.
»Klar – die können die Steinigung übernehmen.«
»Nein, nein. Ich meine, dass die sich mit all ihrem Gequatsche über die Apokalypse in letzter Zeit ziemlich verrückt aufführen.«
»Glaubst du, die haben es getan?«
»Vielleicht. Hast du Sinclairs Rundfunksendung schon mal gehört?«
»Nein.« Cassie starrte ihn an. »Tom Abernathy, es überrascht mich, dass du dir solchen Schrott anhörst.«
»Ich muss gestehen, ich hab’s mir ein- oder zweimal angetan, als sie den Sender aufgebaut haben. Ich hab’s nur aus Neugier gemacht. Ich hatte gedacht, es könnte vielleicht amüsant werden.« Tom hielt nachdenklich inne. »Ich hab die Apostel nämlich für harmlos gehalten; wie Janet Wister und ihre UFOs anbetenden Freunde. Aber neulich abends hatte ich den Sender wieder drauf. Sinclair hat über Erdbeben und Überschwemmungen schwadroniert, und dass die vier apokalyptischen Reiter mitten über die Thunder Road reiten werden, um das Ende der Welt anzukündigen.«
»Sinclair und seine Anhänger sind doch nur Papiertiger«, sagte Cassie.
»Ja, stimmt, aber sie sind auch unheimlich von sich eingenommen und haben sich außerdem einen zeitlichen Rahmen gesetzt. Vielleicht haben sie irgendwas vor.«
Cassie hob die Augenbrauen. »Lass mich raten«, sagte sie. »Am Sonntag – mit der Sonnenfinsternis – steht das Ende der Welt an, nicht wahr?«
»Genau so ist es. Sinclair behauptet, er sei mit irgendeiner heiligen Mission betraut, um die Sünder für Gott zu vernichten. Er sagt, seine Apostel seien die Auserwählten.«
»Dieses Privileg nehmen die meisten Religionen für sich in Anspruch.«
Tom nickte. »Stimmt. Aber nicht so wie die Apostel – zumindest nicht, wenn man Sinclair reden hört. Er nennt sich Prophet. Wenn er seine Predigten sendet, hört man seine Anhänger bei allem, was er sagt, im Hintergrund Halleluja rufen. Die Typen sind echt abgedreht. Sie sind Glaubenseiferer, und solche Leute machen mir Sorgen.«
»Tja, die Touristen haben sie auch belästigt«, gab Cassie zu. »Moss musste sie in letzter Zeit an jedem Wochenende aus Madland vertreiben. Aber sie sind trotzdem eine normale christliche Religion.«
»Ich weiß nicht, Cass. Wenn Sinclair redet, geht es immer um die ›Apostel des Propheten‹, nie um ›Christen‹.«
»Ihr Kreuz sieht auch ganz schön bizarr aus, was? Das riesige Neonkreuz auf ihrer Kirche erinnert mich immer an Las Vegas.«
Tom nickte. »Ist dir aufgefallen, dass das Ding manchmal verschwindet?«
»Ja. Am Sonntagmorgen. Und am späten Abend ist es wieder da.«
»Sie setzen es bestimmt ein, um ihren Gottesdienst aufzupeppen. Ganz schön komisch, wenn du mich fragst.«
»Trotzdem beten sie zu Gott, nicht zum Teufel. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie ein armes, wehrloses Tier umbringen.«
»Na ja«, sagte Tom, »Christen haben früher ständig arme, wehrlose Tiere geopfert, und ... Mann, sie haben’s noch heute mit dem rituellen Kannibalismus.«
»Was?«
»Beim Abendmahl. Jesu Fleisch und Blut. Donnerstagabend, nach dem Barbecue, sollten wir uns mal umhören, um rauszukriegen, was die Leute so denken. Du kommst doch, oder?«
»Ich weiß nicht, ob ich jetzt auf ’ne Party gehen möchte, Tom. Aber Moss kommt, wenn er kann.« Cassie schüttelte den Kopf.
»Bei allem, was hier vor sich geht, wäre es mir recht, wenn es ihm gelänge, einen weiteren Officer anzuheuern.«
»Cass, du darfst Donnerstagabend nicht verpassen.« Im Laufe der Zeit war es ein Ritual geworden, an diesem Tag bei Tom zum Grillen aufzukreuzen. »Außerdem solltest du meiner Meinung nach nicht allein hier draußen sein. Besonders nicht nach dieser Sechs-sechs-sechs-Geschichte.«
»Ich denk drüber nach, Tom, aber führ dich nicht auf wie mein Daddy. Das passt nicht zu dir.«
»Wieso ist es in Ordnung, wenn die Frauen uns ständig sagen, wir sollen vorsichtig sein, während sie uns den Kopf abreißen, wenn wir das Gleiche tun?«
»Die Zeiten ändern sich eben.« Cassie grinste. »Wir müssen genauso chauvinistisch und stur sein, wie ihr es früher wart, und euch verdeutlichen, dass wir euch nicht brauchen.«
»Das ist doch albern.«
»Ja, ich weiß, aber so ist es nun mal. Hier haben wir ’ne Bande von Fanatikern, und die kämpfen es eben aus. Irgendwann schließen sie einen Kompromiss.« Cassie lächelte. »Wir Frauen sehen das so: Zuerst müssen wir wissen, ob ihr kapiert habt, dass wir für uns selbst sorgen können. Danach können wir uns gegenseitig sagen, dass wir aufpassen sollen.«
»Frauen benehmen sich völlig unlogisch«, sagte Tom kopfschüttelnd.
»Männer auch.« Cassie zwinkerte ihm zu. »Das ist eine Sache, die mir an ihnen gefällt.«
»Da ist was Wahres dran.« Tom griff hinter sich und nahm den Telefonhörer von der Wand. »Moss muss wissen, was hier los ist.«
»Schön, aber erzähl ihm bloß nicht, dass Paisleys wie Sechsen aussehen. Wenn du das machst, hab ich ihn in einer Minute am Hals.«
»Ich dachte, du hättest ihn gern am Hals«, erwiderte Tom.
»Reiß dich am Riemen, Tom.«
»Mach ich.« Tom hinterließ eine Nachricht für Baskerville und wollte dann aufbrechen, wobei er sorgfältig vermied, Cassie zu sagen, sie solle vorsichtig sein. Stattdessen schob er den Stetson in den Nacken und sagte: »Ich hoffe, wir sehen uns am Donnerstag.«
»Tom?«
Tom, die Hand schon auf dem Türknauf, drehte sich mit gerunzelter Stirn um.
»Was ist deiner Meinung nach mit Madge Marquay passiert?«, fragte Cassie vorsichtig.
Tom spürte schon wieder, dass er eine Gänsehaut kriegte. Er schaute Cassie ernst an. »Nichts, hoffe ich. Vielleicht hatte sie sich mit Henry in der Wolle und ist abgehauen, und es ist ihm zu peinlich, das zuzugeben.« Tom war klar, dass Cassie wusste, dass er Scheiße laberte. »Was meint Moss denn dazu?«
Cassie schüttelte den Kopf. »Er glaubt, dass was Schlimmes passiert ist. Was sehr Schlimmes.«
»Und was ist mit Kyla und Joe?«
»Joe? Tja, über den weiß er nichts. Aber er befürchtet, dass der, der Madge erwischt hat, auch Kyla erwischt hat. Er hat keinerlei Anhaltspunkte mehr. Keiner ihrer Freunde oder Verwandten hat von ihr gehört.« Cassie hielt inne. »Er macht sich Sorgen, Tom.«
»Ich beneide ihn nicht um seinen Job.« Tom drehte den Knauf und öffnete die Tür. »Tut mir Leid, Cass, aber ich hab um vier ’ne Vorstellung.«
»Na, dann geh schon, Tom«, sagte Cassie leise. In ihrem Blick lag etwas zu viel Verständnis. »Bis später.«
Als Tom draußen war, schaute er auf seine Armbanduhr, dann marschierte er festen Schrittes die Straße entlang zum Madland-Tor. Wegen der Ziege musste er nun ein Pferd aus der Koppel der Stuntreiter nehmen. Sonst hätte er bei der Ranch angehalten, um Belle zu holen, die seine Bewegungen aus dem Effeff kannte. Tom verspürte ein Aufwallen von Zorn. Gleich danach kam das schlechte Gewissen. »Es ist deine eigene verdammte Schuld, Abernathy«, murmelte er, als er den breiten, von Felsen gesäumten Weg zum Parkeingang hinaufging. »Wenn man in nichts reingezogen werden will, darf man eben nicht so verdammt neugierig sein.«