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2 JUSTIN MARTIN

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Justin Martin blickte in den Spiegel des Medizinschränkchens und legte die Zeigefinger vorsichtig an den Rand des dicken Pickels, der im Grübchen seines viereckigen Kinns wuchs. Langsam fing er an zu drücken ...

»Justin?« Die süßliche Stimme seiner Mutter drang durch die geschlossene Badezimmertür. »Justin? Bist du im Bad, Schätzchen?«

Wer sollte wohl sonst hier sein, verdammt noch mal? Justins Finger drückten gegen den Pickel. Er widersetzte sich. Justin zuckte zusammen und drückte fester. Plötzlich klatschte gelber Eiter auf den Spiegel und ließ auf seinem ansonsten vollkommenen Kinn einen kleinen roten Fleck zurück. Er grinste. Von Grübchen umrahmtes Weiß blitzte auf.

»Justin? Bist du da drin?«

»Ja. Ich bin gleich fertig.«

»Ist dir schlecht, Schätzchen?«

Ja, du bringst mich zum Kotzen. »Nein«, murmelte er und erkannte, dass die Eitersprenkel eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem Sternbild Orion aufwiesen.

»Du bist schon so lange da drin. Brauchst du vielleicht etwas gegen Durchfall, Schätzchen?«

»Nein!«, fauchte Justin. Dann fügte er freundlicher hinzu: »Mir geht’s gut.«

Seine Mutter räusperte sich, sagte aber nichts. Justin hörte ihren Fuß ein-, zweimal auf den Boden klopfen. Sie glaubt, ich hol mir einen runter. Er grinste amüsiert, als er ihre sich entfernenden Schritte hörte.

Justin zog den Kamm aus der Gesäßtasche und fuhr durch sein dichtes Haar. Als er zum ersten Mal nach Barstow gefahren war, um sich bei Supercuts einen richtigen Schnitt verpassen zu lassen, hatte seine Mutter fast einen Anfall bekommen. Sie glaubte, sein Haar gehöre ihr, und außer ihr könne niemand es schneiden. Sie hatte ihm eine Menge Scheiß über Geldverschwendung erzählt. Aber Justin brauchte nie lange, um sie einzuseifen, und so hatte sie es schließlich aufgegeben. Es war schon nervenaufreibend, seine Eltern unter Kontrolle zu halten. Manchmal fiel ihm das Lächeln und Sülzen verdammt schwer. Hin und wieder hätte er sie gern abgemurkst.

Vielleicht würde er sie wirklich eines Tages umbringen. Die Stimme brauchte es nur vorzuschlagen. Sie kam mit den Lichtern am Himmel. Im letzten Jahr hatte Justin sie oft gehört. Inzwischen war sie seit einigen Monaten eine klare und entscheidende Kraft in seinem Leben. Sie leitete ihn an und respektierte ihn. Sie gab ihm, was er brauchte.

Justin schob den Kamm in die Tasche zurück, nahm das Oxy-10-Fläschchen aus dem Schrank und rieb die Medizin in seine Gesichtshaut ein. Er hatte seine Pickel zwar ganz gut im Griff, aber sie waren ein ständiger, lästiger Kampf, der ihm gehörig auf die Nerven ging. Vermutlich waren sie aber ein geringer Preis für die Hormone, die mit Hilfe der Stimme und etwas Gewichtheberei und Laufen seit dem letzten Sommer eine breitschultrige Sportskanone aus dem knochigen Burschen gemacht hatten, der er zuvor gewesen war. Pseudo-Sportskanone, korrigierte sich Justin und begutachtete seinen Hinterkopf kurz durch den Handspiegel. Er hatte nichts für Schwachköpfe übrig, die ihr Leben lang hinter einem Ball herliefen und sich gegenseitig anrempelten. Das sind doch alles verkappte Schwuchteln.

Seit dem vergangenen September war er in der Oberstufe. Der Job in der Verwunschenen Mine in Madland hatte ihm genug eingebracht, um seine Brille durch Kontaktlinsen zu ersetzen. Die Linsen hatten seine wasserblauen Augen – seinen einzigen Makel – in ein üppiges Immergrün verwandelt. Das schwarze 78er Mustang-Coupé, das seine Eltern ihm im letzten November zum Geburtstag geschenkt hatten, hatte seine körperliche Veränderung vervollständigt. Nun, mit siebzehn, nur wenige Monate vom Abschluss entfernt, war er kein hässliches Entlein mehr. Er war zu einem Schwan geworden.

Natürlich hatte er im vergangenen Jahr auch ein wenig Persönlichkeitschirurgie betreiben müssen, damit sein Inneres zu seinem Äußeren passte. Er hatte Sportbücher gelesen, damit die schwachsinnigen Weiberhelden ihn akzeptierten. Außerdem hatte er sich Bücher zum Thema Anbaggern angeschaut, damit er wusste, was man sagen musste, damit die Schnallen sich nageln ließen. Er hatte auch gelernt, seinen Grips zu tarnen und kein Wort über seine wirklichen Interessen verlauten zu lassen.

Es funktionierte, und zwar besser, als er sich erträumt hatte. Menschen waren blöd und leicht reinzulegen. Das kleine Cheerleader-Luder Christie Fox – früher hatte sie ihn immer verarscht –, hatte ihm letzte Woche erzählt, er sähe aus wie Christian Slater. Natürlich ging sie noch mit Rick Spelman, dem Captain der Football-Mannschaft. Aber das war nur eine weitere Herausforderung, die Justin hinter sich bringen würde. Bis dahin vögelte er eben alle, die er vögeln wollte – und wann er wollte. Zwar langweilten ihn Mädchen, die sich ihm an den Hals warfen, aber er zeigte es nicht. Immerhin hatte er nun den Ruf eines großen Herzensbrechers, dem er gerecht werden musste: Die Stellungsbücher, die er sorgfältig studiert hatte, hatten sich unglaublich bezahlt gemacht. Nun wollte er diese – und andere – Kenntnisse noch an Christie ausprobieren. Sie war die letzte Festung, die eine Eroberung wert war. Leider hatte sie gesagt, dass sie Spelman liebe und ihm treu bleiben wolle. Doofe Schlampe.

»Jusssstinnn!« Die Stimme seiner Mutter echote aus der Küche.

»Abendessen!«

Gott im Himmel. Seine Eltern, die blöden Ärsche, aßen jeden Tag zwischen 15.00 und 16.00 Uhr zu Abend und gingen um 20.00 Uhr ins Bett. Justin warf einen letzten Blick in den Spiegel, dann verließ er das Bad. Er ging in sein Zimmer, schnappte sich Brieftasche und Schlüsselbund und streifte seine Levi’s-Jacke über. Alles, was er heute Abend sonst noch brauchte, lag im verschlossenen Kofferraum seines Wagens. Nun musste er nur noch an der braven alten Mom und dem braven alten Dad vorbeikommen.

Was ganz leicht war. Dad saß am Küchentisch und hatte das Gesicht in der Daily Press vergraben. Mom hatte Garfield-Ofenhandschuhe an und stellte gerade einen großen Glastopf mit Lasagne auf den Tisch. Seine Eltern waren in den fünfziger Jahren stehen geblieben. Typische amerikanische Schwachköpfe.

»Justin?« Seine Mutter verschränkte die Arme. »Wo willst du hin?«

»Hey, Mom, das sieht wirklich lecker aus.« Justin warf einen Blick auf die Kasserolle. Mom nahm Hüttenkäse und Cheddar statt Ricotta und Parmesan, weil sein alter Herr drauf stand. Justin wusste, dass es schmeckte wie Kotze. Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Ich dachte, ich hätte dir Bescheid gesagt ... Ich muss arbeiten. Einige Schulen haben schon Osterferien, und da haben wir in Madland eine Menge zu tun.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Henry arbeiten will, wo Madge doch vermisst wird«, sagte die brave alte Mom.

»Ich nehme an, es hilft ihm, auf andere Gedanken zu kommen.« Justin sah sofort, dass sein Mitgefühl für den alten Marquay bei Mom sehr gut ankam, und säuselte: »Ich glaube, er braucht etwas Gesellschaft.«

Sein Vater ließ die Zeitung raschelnd sinken. »Wozu könnte er dich wohl mitten in der Woche abends brauchen, Justin?« Er klang argwöhnisch. Der alte Bastard war schon immer schwieriger zu überzeugen gewesen als Mom.

Justin zögerte keine Sekunde. »Mr. Marquay möchte, dass die Mine vor dem Erdbeerfest picobello in Schuss ist«, erwiderte er. »Wir müssen alle Wagen putzen und dafür sorgen, dass die Puppen perfekt arbeiten.«

Sein Vater schaute kurz zu ihm auf. »Würdest du bei mir in der Garage arbeiten, könntest du genauso viel Geld verdienen. Vielleicht sogar mehr. Dann hättest du auch eine geregelte Arbeitszeit.«

»Jim«, schalt seine Mutter sanft. »Was Justin macht, ist doch nur christlich. Wir sollten stolz auf ihn sein.« Sie wandte sich zu Justin um. »Er ist sogar einer Kirche beigetreten, Schatz. Du solltest dich eigentlich darüber freuen.«

»Das ist doch keine Kirche«, grollte Dad. »Das ist eine verdammte Freakshow.« Er wandte sich wieder dem Sportteil seiner Zeitung zu.

»Bevor du gehst, musst du etwas essen, Justin«, sagte seine Mutter, als er zur Tür marschierte.

»Tut mir Leid, Mom, aber ich muss in fünf Minuten anfangen. Und ich möchte mich nicht verspäten.«

Mom öffnete den Mund, um ihn zu tadeln, doch der brave alte Dad sagte: »Also, eine anständige Arbeitsmoral hat der Junge ja.« Er schob den Heber in die Lasagne und schaufelte einen dicken, triefenden Klumpen auf seinen Teller. Er war rot und gelb, wie die fettigen Eingeweide eines Hähnchens.

Justin behielt seinen Abscheu für sich. »Ich esse später was in Madland.«

»Ich lass einen Teller für dich im Ofen.« Mom hielt einen Moment inne. »Vielleicht solltest du dem armen Mr. Marquay etwas mitnehmen. Wenn du einen Moment wartest, mach ich ihm eine Portion fertig.«

Es war die Sache nicht wert, darüber zu streiten, also wartete Justin, während Mom eine kleine Auflaufform aus dem Schrank holte und etwas von dem Zeug hineinlöffelte. Nachdem sie die Form mit dünner Folie überzogen hatte, schob sie sie Justin in die Hand.

»Bis später.« Justin hielt das abscheuliche Gericht weit von sich weg und eilte zur Tür hinaus.

»Schätzchen?«, rief Mom.

Was ist denn jetzt noch, du Nervensäge? »Ja, Mom?«

»Deine Hausaufgaben hast du doch gemacht, nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte Justin. Diese Frage ging ihm immer auf den Keks. Er brauchte fünf Minuten für eine Seite Trigonometrie. Eine tausend Wörter umfassende Nacherzählung schaffte er in zwanzig Minuten, ohne das fragliche Buch auch nur zu lesen. Er bekam trotzdem eine Eins dafür. Die Madelyn High School war eine Institution für Schwachsinnige. Sogar die Lehrer waren schwachsinnig. Sie lasen Justins zusammengewürfelten Kram und merkten nicht mal, dass er den Stoff gar nicht beherrschte. Die allerdämlichste Triefnase war Henry Marquays muttermal-und warzenbedeckte Alte gewesen, die es sogar geschafft hatte, den Englischunterricht noch langweiliger zu machen, als er ohnehin schon war. Auf manchen ihrer Warzen wuchsen Haare, aber sie hatte nicht mal den Anstand, sie abzurasieren. Wenigstens drehte sie ihre warzige Fresse jetzt nicht mehr in seine Richtung und quatschte ihn mit ihrem Piepsstimmchen an.

»Grüß Mr. Marquay von uns«, sagte Mom, als Justin seinen Mustang aus der Einfahrt fuhr. Justin lächelte ihr zu und winkte.

Als er links auf die Cactus Street abbog, freute er sich schon auf das große Ereignis des heutigen Abends. Um Mitternacht war er mit Christie Fox’ Freund, dem Supersportler Spelman, zu einem Wettrennen auf der Thunder Road verabredet. Die Anberaumung der Sache war, wie erwartet, sehr einfach gewesen: Spelman hatte den Fehdehandschuh selbst geworfen. Ermutigt hatten ihn dazu einige simple Bemerkungen bezüglich der sexuellen Talente seiner Freundin.

Doch bis dahin musste Justin noch viele Dinge erledigen. Zum Beispiel musste er noch die Stiefel besorgen, die ihm auf dem Diebesmarkt in Victorville ins Auge gefallen waren. Dann wollte er im Einkaufszentrum noch zu Waldenbooks, um nachzusehen, ob es neue Bücher über sein ... er lächelte ... Hobby gab. Dann wollte er in die Stadt zurückfahren und am Café anhalten, um rauszukriegen, ob er Christie Fox überreden konnte, nach Feierabend eine Cola mit ihm zu trinken.

Als Justin durch Madelyns schäbige Vorstadt fuhr, prüfte er, wer daheim war und wer nicht. Sämtliche Häuser sahen nach unterer Mittelklasse aus, sogar die wenigen, die den Leuten mit Geld gehörten. Die Wüste wirkte sich eben auf alles aus. Häuser, Autos, Menschen – alle wirkten tot, vertrocknet und zerknittert.

Bevor er die Stadt verließ, musste er noch etwas erledigen: Er musste die Falle überprüfen und nachschauen, ob er was gefangen hatte. Justin bog auf den Old Madelyn Highway ab und fuhr nach Norden. Highway war seiner Ansicht nach ein ziemlich großspuriger Name für eine Landstraße voller Schlaglöcher. Jeder in diesem Hinterwäldlerkaff hielt sich für ’ne große Nummer, aber niemand war eine. Die Leute hier waren ein Nichts, aber sie wussten es nicht mal. Sie waren so blöd wie ihre Stadt. Die einzigen Ausnahmen waren möglichenfalls Jim-Bob Sinclair und einige seiner Lakaien.

Justin war ihrer Kirche beigetreten, weil die Himmelsstimme es ihm geraten hatte. Anfangs hatte er nicht gewollt, doch die Stimme war immer wiedergekommen, hatte sich in seinem Hirn festgesetzt und ihm mitgeteilt, dass sein Beitritt nur ein Mittel sei, um etwas zu erreichen: Teil eines größeren Plans. Justin traute Menschen zwar nie, doch die Stimme war etwas anderes. Sie hatte auch vorher immer Recht gehabt. Er war ihrem Wunsch nachgekommen, und in den letzten Wochen war es ihm gelungen, Sinclair mit Fleiß und Redlichkeit zu beeindrucken. Wenn es ihm gelang, einen Betrüger wie Sinclair zu beeindrucken, konnte dies nur zweierlei bedeuten: Er betrog besser als Sinclair, und Sinclair war wiederum nicht so klug, wie er sich gab. Das war zwar leicht enttäuschend, doch der Umgang mit diesem Mann hatte noch immer seinen Reiz: Wäre Sinclair nicht sehr gut gewesen, wäre er nicht dort, wo er jetzt war. Deswegen lag der Reiz in der Möglichkeit, dass Sinclair ihm etwas vormachte. Vielleicht noch interessanter als Sinclair waren seine »Ältesten« – so nannte man in dieser Kirche die Unterführer. Der runde, engelsgesichtige Hannibal Caine, der mit leiser, sanfter Stimme sprach, hatte es faustdick hinter den Ohren. Caine begegnete Justin noch mit Misstrauen, aber vielleicht war es auch nur Neid. Der andere, Eldo Blandings, sprach nur selten. Er trug ein lächerliches graues Toupet, hatte ein langes, säuerlich wirkendes Gesicht und sah mit seinen blassblauen Augen fast alles. Justin fand ihn faszinierend. Außerdem interessierte ihn, auf was Blandings und Caine eigentlich aus waren, vom Offensichtlichen – Macht – mal abgesehen. Jeder wollte Macht, nur Schafe wollten keine. Das war eine Tatsache.

Nach etwa eineinhalb Kilometern passierte Justin das Tor der El Dorado Ranch, die Tom Abernathy gehörte. Das Anwesen sah als einziges wirklich gut aus, denn der Roy-Rogers-Verschnitt hatte Geld ohne Ende und konnte es sich – im Gegensatz zu Sinclair – leisten, ein halbwegs anständiges Haus zu bauen.

»Scheißwüste.« Justin näherte sich Madland. Er verlangsamte, denn ein dunkelgrüner Minivan verließ gerade den Parkplatz. Er war voller Halbwüchsiger. Einer winkte Justin zu. Als der Wagen an ihm vorbeikam, lächelte er und winkte zurück. Scheißtouristen.

Justin schaltete das Radio ein und aktivierte den Suchlauf.

»Hier ist Charlie Ray mit zehn flotten Hits am Stück.«

»Von wegen«, knurrte Justin. Er suchte sich einen anderen Sender. Näselnde Countryscheiße drang an sein Ohr. Dann kam ein Rundfunkseelenklempner. Anschließend quatschte ein Bohnenfresser in rasender Geschwindigkeit auf Spanisch. Der nächste Sender, bei dem Justin landete, war Sinclairs Jesusverein. Auf dem übernächsten endete gerade ein Lied von Whitney Houston. Dann kündigte Charlie Ray, Victorvilles Antwort auf Howard Stern, drei Hits von Michael Bolton am Stück an. »Scheiße!« Justin nahm die Sendersuche wieder auf. Als Sinclairs Donnerstimme erneut losdröhnte, blieb er dabei.

»Die Zeit der Abrechnung ist nahe, Freunde!«, rief Sinclair. »Nun obliegt es den Aposteln des Propheten – jenen, die den Segen und die Erleuchtung empfangen haben –, den unwissenden Massen das Wort zu verkünden, damit auch sie in diesen letzten finsteren Tagen vielleicht noch gerettet werden!«

»Blödmänner.« Justin kicherte. Sinclairs Anwesen wimmelte von seinen Anhängern. Sonntags kamen die Leute von überall her, um sich in seiner Kirche zu versammeln. Am Sonntagmorgen waren die Landstraßen voll von menschlichen Schafen, die zur Kirche auf seinem Grundstück unterwegs waren.

Justin hatte von Anfang an kein Wort von diesem frommen Scheißdreck geglaubt, und das war auch heute nicht anders. Allerdings bewunderte er Sinclairs Spiel und fragte sich, was ihn mit der Stimme verband. Jim-Bobs Stimme hatte Kraft und Charisma; dass die nachmittägliche Sendung keine Direktübertragung war, sondern aus der Konserve kam, machte die Wirkung nicht geringer.

»Hört mir nun zu!«, brüllte Sinclair, als hätte er Justins Gedanken gelesen. »Für Sünder gibt es keine Erlösung! Nur die Rechtschaffenen, nur die Gläubigen, werden gerettet! Bleiben Sie bei uns. Schalten Sie jeden Abend um 21.00 Uhr diesen Sender ein, damit Sie erfahren, wie auch Sie gerettet werden können, bevor die vier Reiter der Apokalypse kommen! Bis morgen entbiete ich, euer gläubiger Diener, James Robert Sinclair, euch ein demütiges Lebewohl!«

»Schamloses Arschloch«, murmelte Justin anerkennend. Am Ende des Old Madelyn Highway verlangsamte er, um auf die Thunder Road abzubiegen. Dabei tastete er nach einer Kassette, die neben seinem Sitz auf dem Boden lag. Er schob sie in den Player und brachte Jim-Bob zum Schweigen.

»And I’ll buy you a stairway to heaven ...«

»Scheiße.« Justin war nicht in Stimmung für Oldies, also schaltete er das Radio ab und konzentrierte sich auf die Umgebung. Als er wendete, warf er einen Blick auf das heruntergekommene Fort Madelyn. Dann trat er auf die Bremse und musterte den im Schatten des Forts liegenden weißen Haufen. »Was ist das denn für ’n Scheiß?«

Justin schaute in die Spiegel, überprüfte die nach Osten und Westen abbiegenden Straßen, lenkte den Mustang dann auf den schmalen Seitenstreifen, stieg aus und trottete zu dem Haufen hinüber.

»Na, so was!«, keuchte er, als er vor der toten Ziege stand. Er blickte zum Himmel empor. Er rechnete irgendwie damit, da oben Lichter zu sehen, und hoffte darauf, die Stimme zu hören. Doch der Himmel war klar. Nur leicht enttäuscht, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ziege. So etwas Großes konnte seine Falle unmöglich fangen. Er kehrte schnell zum Wagen zurück, öffnete den Kofferraum und breitete eine blaue Kunststoffplane auf dem Boden aus. Dann kehrte er zur Ziege zurück und schleifte den schweren Kadaver zum Wagen. Er rollte ihn auf die Plane und hüllte ihn gründlich ein, damit kein Blut, kein Schmutz und kein animalischer Gestank mit seiner Kleidung in Berührung kam.

Der Kadaver war überraschend schwer. Als Justin ihn in den Kofferraum wuchtete, brach ihm der Schweiß aus. Aber es war die Sache wert. Nachdem er einen letzten Blick auf das Tier geworfen hatte, nahm er die Auflaufform und stellte sie zwischen den Bauch und die Hinterläufe der Ziege, damit sie nicht umkippte. Dann schlug er den Kofferraum zu, stieg in den Mustang, wendete und fuhr über den Old Madelyn Highway zurück. Er ließ die Led-Zeppelin-Kassette laufen und grinste. Er freute sich, dass er die Kaninchenfalle nicht überprüfen musste. Falls etwas drin war, konnte es warten: Dies hier war tausendmal besser.

Madelyn - Ort des Schreckens

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