Читать книгу Madelyn - Ort des Schreckens - Tamara Thorne - Страница 9
5 JUSTIN MARTIN
ОглавлениеMadelyn war, wie üblich, montagabends tot. Sämtliche Tankstellen hatten geöffnet, am Satellite Motel blitzte die Leuchtreklame mit der Aufschrift »Zimmer frei« hell auf, doch auf dem Parkplatz stand nur ein Fahrzeug. Obwohl ziemlich viele Trucks und hin und wieder Personenwagen über die Interstate flitzten, rührte sich hier, im Geschäftsviertel, praktisch nichts. Im Fenster der Kaktusblüte, einer Bar, die die Leute am Wochenende aufsuchten, um das Tanzbein zu schwingen, leuchtete eine Coors-Reklame, doch der Parkplatz davor war ebenfalls fast leer. Justin freute sich, dass er nirgendwo eine Spur des fetten alten Sheriffs sah: Baskerville ging ihm echt auf die Nerven.
Kurz darauf bog er auf den großen Parkplatz ein, der zu Ray’s Truck-Stop-Komplex gehörte. Er stellte seinen Wagen neben einem neuen roten Bronco vor dem Café ab, in dem Christe Fox heute Abend arbeitete, schaltete den Motor aus, nahm eine Flasche Obsession aus dem Handschuhfach und sprühte sich ein. Dann begutachtete er noch mal sein Haar im Spiegel. Perfekt.
Justin drückte die Glas-und-Chrom-Tür der Raststätte auf. Der himmlische Duft von Hamburgern und Pommes schlug ihm entgegen – das Essen hier schmeckte unheimlich gut, auch wenn der Laden grauenhaft aussah.
Justin nahm in Christies Abschnitt in einer Nische Platz und bewunderte seine neuen Stiefel. Sie glänzten schwarz und hatten hohe Absätze. Dann musterte er die abgekämpft wirkenden Reisenden und ihre greinenden Bälger in den anderen Nischen. Ray Vine stand hinterm Tresen und laberte mit Einheimischen und Fernfahrern. Da gab’s nichts Neues zu sehen. Justin richtete seine Aufmerksamkeit auf das Paar in der Nische neben ihm.
Der Mann drehte ihm den Rücken zu, so dass er außer karottenrotem Haar und langfingrigen Händen, die beim Sprechen fortwährend in Bewegung waren, nicht viel erkannte. Der Mann hatte eine enthusiastische, aber leicht näselnde Stimme, die Justin auf der Stelle gegen ihn einnahm.
Die Frau war ganz anders. Sie war älter, vielleicht dreißig, aber sie hatte ein Gesicht, das ihr Alter erst in einigen Jahren verraten würde. Der Mann sagte etwas zu ihr, und ihr Gelächter klang wie Rauch. Ihr schulterlanges schwarzes Haar war wellig und glänzte, und ihre Hautfarbe war von einem ungewöhnlich dunklem Karamell. Justin konnte die schwachen Sommersprossensprenkel über ihrer Nase und ihren Wangen kaum erkennen. Ihre großen dunklen Augen waren leicht geschlitzt, ihre Lippen voll und dunkel. Er fragte sich, wie sie wohl nackt aussah.
In dem Moment blickte sie auf. Justin schaute ihr in die Augen und schenkte ihr ein Lächeln. Sie erwiderte es. Vermutlich war sie daran gewöhnt, dass man sie anstarrte.
»Ich komme sofort zu Ihnen, Sir ... Oh, hallo, Justin.« Christie eilte, beladen mit Tellern für eine durchreisende Familie, an ihm vorbei.
»Schon gut«, erwiderte er und zog sein neues Taschenbuch hervor. Mordlust. Es war nagelneu.
Ein ganzes Kapitel befasste sich mit den Morden des Häuters. Justin schlug es auf und überflog es zum zweiten Mal. Der Text enthielt zwar nichts Neues, aber das war schon in Ordnung. Er blätterte ein paar Seiten weiter, bis zu dem Foto, das ihn bewegt hatte, das Buch zu kaufen. Er kannte die Aufnahme bereits aus einem anderen, aber dort war sie so klein, dass er nur den faszinierenden Eindruck gehabt hatte, einen der dort abgebildeten Menschen zu kennen.
Das Bild in diesem Buch war größer und von etwas besserer Qualität. Es zeigte eine in einer Gasse liegende zugedeckte Leiche und einige vor dem Fotografen stehende Menschen. Die Bildunterschrift lautete: »Die Polizei im Gespräch mit den Zeugen Charles Pilgrim (17) und Victor Pilgrim (15), die die teilweise gehäutete Leiche von Sally Cantori (19) in einer Gasse in Brooklyn entdeckten. Die Jugendlichen waren, als sie die Leiche fanden, auf dem Weg zur Schule. Sally Cantori war das dritte und letzte Opfer des Häuters.«
Justin studierte das körnige Foto. Die Häuter-Morde faszinierten ihn, weil man so wenig über den Killer wusste. Justin hätte gern gewusst, weshalb der Häuter seiner Arbeit so kunstvoll nachging, warum er mordete und wieso man ihn nie hatte schnappen können. Er wollte all diese Dinge – und noch mehr – in Erfahrung bringen und hoffte schon seit längerer Zeit, dass der Häuter ihm seine Fragen eines Tages persönlich beantworten würde. Nun war er sich seiner Sache ziemlich sicher. Die Stimme hatte es ihm erzählt, und das Foto bewies es.
Man konnte die Adlernase, das schmale Gesicht, die aristokratischen Wangenknochen und die von dunklen Brauen überwölbten Augen gar nicht verwechseln.
Sogar die Namen waren identisch: der eine anglisiert, der andere klang italienisch. Pilgrim. Pelegrine. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass ein Massenmörder den Menschen auf einer Müllhalde wie Madelyn die Zukunft weissagte.
Ich weiß, wer du bist, Carlo Pelegrine. Du bist der Häuter.
»Was grinst du so, Justin?«
Justin schlug das Buch zu und schaute in Christie Fox’ funkelnde blaue Kleinmädchenaugen. »Ich hab mir gerade vorgestellt, mit dir auszugehen.«
Christie schnaubte und stellte ein Glas Wasser vor ihm ab. »Du hältst dich wohl für einen besonders tollen Typen, was?«
Justin zuckte auf entwaffnende Weise die Achseln.
»Was liest du da?« Christie schnappte sich das Buch. »Mordlust? Ist ja ätzend!«
Justin schluckte seinen Zorn hinunter, nahm ihr das Buch ab und ließ es verschwinden. »Ich hab eben viele Interessen.«
Die Frau am Nebentisch machte Christie ein Zeichen.
»Einen Moment, Ma’am«, rief Christie zu ihr hinüber. »Ich kann mich jetzt nicht mit dir unterhalten, Justin. Was soll ich dir bringen?«
»Einen doppelten Cheeseburger, Pommes und einen Kakao.« Dann fügte er entschuldigend hinzu: »Ich hab’s eilig, aber ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, nach der Arbeit ’ne Cola mit mir zu trinken. Du hast doch gesagt, du brauchst Hilfe bei Algebra. Da hab ich mir gedacht, wir können uns das mal zusammen vornehmen.«
Christie blickte zweifelnd drein. »Ich hab erst um 23.00 Uhr Feierabend.«
»Dann bin ich wieder hier und hol dich ab. Außerdem mach ich dich zu ’nem Algebra-Ass.«
»Wenn ich um Mitternacht nicht zu Hause bin, machen meine Alten mich fertig.«
Justin bedachte sie mit einem verlegenen Grinsen. »Meine machen mich fertig, wenn ich nicht ’ne halbe Stunde früher da bin. Also hast du genug Zeit, um nach Hause zu kommen.«
»Na schön, gut, aber es ist ’n reiner Freundschaftsdienst. Jeder blecht für sich.«
»Wenn du darauf bestehst ...«
Justin beobachtete Christie, die an den nächsten Tisch ging und dem merkwürdigen Paar versicherte, das Bestellte käme gleich. Dann ging sie arschwackelnd zur Küche. Justin hatte einen Fortschritt erzielt. Beim letzten diesbezüglichen Versuch war sie nicht mal zu einem Getränk bei getrennter Kasse bereit gewesen. Ihre Treue zu Spelman ließ allmählich nach – oder aber die Qualität ihrer Algebra-Noten.
Christie sagte etwas zu Ray Vine. Ray blickte daraufhin das Paar am Nebentisch an, dann lächelte er und begab sich an ihren Tisch. »Die Kellnerin sagt, ihr seid hier, um euch unsere UFOs anzuschauen.«
Die Frau streckte lächelnd die Hand aus. »Alexa Manderley.«
»Ray Vine.«
»Das ist mein Assistent, Eric Watson«, fügte sie hinzu. Justin hörte einen leicht britisch klingenden Akzent.
»Tja, nach Militär seht ihr beiden nicht aus.«
»Nein, wir arbeiten für ein privates Institut«, sagte Alexa Manderley. »Hängen hier viele Militärtypen rum?«
»Hin und wieder mal«, erwiderte Ray leise. »Unfreundliche Ärsche. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.« Er lächelte kurz, vermutlich hatte er den Colonel in der nächsten Nische gesehen.
»Viel Trinkgeld geben die auch nicht.«
»Das Militär ist der Fluch meiner Existenz.« Die Frau kicherte.
Christie stellte zwei Teller auf den Tisch. Ray machte ihr Platz. »Eine meiner Kellnerinnen kennt sich wirklich mit UFOs aus.«
Manderley schaute Christie argwöhnisch an.
»Ich bin’s nicht«, erklärte Christie, bevor sie ging. »Er meint Janet.«
»Sie leitet sogar einen Club – die Weltraumfreunde.«
»Ich würde sie irgendwann gern mal befragen«, sagte Alexa Manderley. »Aber im Moment möchten wir unser Hiersein noch nicht an die große Glocke hängen.«
Vine nickte. »Ich verstehe. Meine Lippen sind versiegelt. Einige Weltraumfreunde sind leicht exzentrisch. Die meisten Menschen, die hier wohnen, nennen sie auch Loch-im-Hirn-Bande. Natürlich nicht, wenn Janet dabei ist.«
»Ich würde mich freuen, sie kennen zu lernen«, sagte Alexa Manderley, als Christie einen Teller vor Justin abstellte.
»Dann also um 23.00 Uhr«, sagte er schnell, damit sie ihm die Aussicht nicht blockierte oder irgendwelche Geräusche machte.
Christie nickte und ging weiter.
»Was ich noch fragen wollte«, sagte Alexa Manderley zu Ray Vine.
»Ist es eigentlich schwierig, den Spirit Canyon im Dunkeln zu finden? Wir haben zwar eine Karte, aber bei diesen Landstraßen weiß man ja nie.«
»Wollen Sie da Ihr Lager aufschlagen?«
Alexa nickte.
Ray rieb sich das Kinn. »Tja, wenn Sie noch nie dort gewesen sind, ist es nicht ganz einfach. Da sind ein paar steile Abhänge, bei deren Anblick einem die Knie weich werden, aber wenn man sich ordentlich an den Berg klammert, schafft man es schon.«
Verdammt! Justin konnte diese UFO-Deppen heute Abend nicht in der Nähe der Thunder Road gebrauchen. Sie ruinierten seine Pläne!
Er aß schweigend. Als er fertig war, hatte er einen Plan. Er zahlte seine Rechnung und kriegte es so hin, dass die Manderley und ihr Anhang gleich nach ihm dran waren. Als Justin zur Tür ging, drehte er sich um, winkte Christie zu und stand Alexa gegenüber.
»Nach Ihnen.« Er hielt ihr und dem rothaarigen Würstchen die Tür auf. »Ich konnte leider nicht verhindern, Ihr Gespräch mit Mr. Vine mitzuhören«, sagte er, als sie draußen waren.
»Interessieren Sie sich für UFOs?«, fragte Eric Watson.
»Ich interessiere mich für alles.«
»Haben Sie je eins gesehen?«, fragte Watson hartnäckig.
Halt endlich die Fresse, Arschloch. »Nein, ich nicht.« Justin lächelte bescheiden. »Sie wollen Ihr Lager im Spirit Canyon aufschlagen?«
»Ja«, antwortete die Manderley.
»Wenn man sich da nicht auskennt, kann es ganz schön haarig werden, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Weg gern zeigen.«
Die Manderley lächelte. »Meinen Sie das ernst? Sie würden uns hinführen?«
»Es wäre mir eine Freude.«
»Ich werde Sie natürlich bezahlen.«
Wut kochte in ihm hoch, blieb jedoch unter der Oberfläche. »Nein, ich kann Ihr Geld nicht annehmen«, sagte er mit fester Stimme.