Читать книгу Madelyn - Ort des Schreckens - Tamara Thorne - Страница 7
3 JAMES ROBERT SINCLAIR
ОглавлениеJames Robert Sinclair schaute noch mal auf die mit Effekten und Investmentpapieren gefüllten Umschläge, den Stapel mit den Kontoauszügen und das Beste überhaupt: die mit Banderolen umwickelten Geldscheinhäufchen – Zwanziger, Fünfziger und Hunderter. Alles zusammen mehrere hunderttausend. Er schob die schwere Tür des Geldschranks zu und drehte das Rad. Das hier war nur Klimpergeld. Die wesentlicheren Summen lagerten auf den Konten der Kirche, die noch beeindruckenderen auf Konten in Zürich und auf den Cayman-Inseln. Seine Privatkonten. Sinclair lächelte. In kaum einem Jahrzehnt war es der Kirche der Apostel des Propheten tatsächlich gelungen, einen wunderbaren Gewinn einzustreichen.
Sinclair drückte einen in einer verborgenen Konsole unter dem Schreibtisch befindlichen Knopf. Die Eichenholzwandtäfelung schob sich über den Geldschrank und verbarg ihn vor allen außer seinen engsten Vertrauten. Nur die beiden Ältesten – Hannibal Caine, der sein Nachfolger werden sollte, falls ihm vor der »Apokalypse« etwas zustieß, und Eldo Blandings – wussten von dem Geldschrank. In einem weiteren, unter einem Wandporträt ziemlich gut erkennbar, »versteckten« Schrank bewahrte Sinclair weniger wichtigen Besitz auf. Doch der Schrank war eine Versicherung. Er sollte von etwaigen Dieben gefunden werden. Er enthielt genug, um Diebe zu befriedigen: fünfzigtausend in unsichtbar markierten Scheinen sowie von Konvertiten gespendete Edelsteine und Schmuck. Er enthielt auch zwei der Goldbarren, die eine reiche Witwe ihm ausgehändigt hatte, eine Konvertitin, die, wie viele andere, gehofft hatte, er werde auch körperlich auf sie ansprechen.
James Robert Sinclair wusste genau, was er war: ein gut aussehender, inzwischen zu einem stattlichen Mann herangewachsener Junge; ein Mann, der sich mit Charisma und durchschnittlichen Noten einen Weg durch die High School geschwafelt hatte.
Sinclair strich geistesabwesend durch seinen sauber gestutzten Bart. Anfangs hatte er gar keine eigene Kirche gründen wollen. Seine Eltern hatten davon geträumt, dass er Geistlicher würde; er selbst nicht. Zuerst hatte er sich in die Magie verliebt. Schon in der Unterstufe war er ein beachtlicher Bühnenzauberer gewesen. In der High School hatte er das Interesse eines professionellen Zauberers auf sich gezogen, der ihm allerhand beigebracht hatte. Auf dem College war er regelmäßig im Magischen Zirkel aufgetreten.
Mit dem bei Vorführungen verdienten Geld war er bei seinen Eltern ausgezogen. Er war aber noch ein Jahr im theologischen Seminar geblieben, da es ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, es zu verlassen. Von klein auf hatte man ihm eingebläut, er müsse wie sein Vater und sein Großvater Pastor werden. Irgendwann war ihm allerdings bewusst geworden, dass er von der Zauberei ganz gut leben konnte – und so hatte seine Revolte begonnen.
In den zwei auf dem College verbrachten Jahren hatte er sich zu tun bemüht, was seine Eltern wünschten – doch geglaubt hatte er nichts. Er war nie gläubig gewesen. Der Begriff »Glaube« war ihm unverständlich – er brauchte für alles und jedes einen Beweis, und das war in der Religion sein großes Manko. Gläubig zu sein kam ihm albern vor. Religion und ihre Wunder waren nur Magie für ihn, die sich von Bühnenzauberei nicht groß unterschied. Deswegen hatte er das College geschmissen. Seine Geringschätzung der Gläubigen hatte sich in reine Verachtung verwandelt – fast in Hass. Er hatte sogar angefangen, sich wegen seiner eigenen Heuchelei selbst zu hassen.
Sinclair hatte sich dem Beruf des Bühnenzauberers zugewandt, bis auch dieser langweilig wurde. Trotzdem versah er ihn mit einer Hingabe, die ihn schließlich zur religiösen Magie zurückführte. In der Religion lag wahre Macht – natürlich nur dann, wenn man ein echter Führer war. Man musste jemand sein, der das Kommando hatte. Sinclair war immer gut mit Frauen ausgekommen, doch nachdem er sich als »Prophet« etabliert und mit der Kirche angefangen hatte, war seine Anziehungskraft rasant gewachsen. Vielleicht lag es an seiner Machtposition, vielleicht auch daran, dass die Frauen nun eine verbotene Frucht in ihm sahen.
In den ersten Jahren seines geistlichen Amtes, als er noch keine dreißig gewesen war, hatte er die Geschenke, die seine weiblichen Anhänger ihm zuteil werden ließen, gern angenommen. Doch irgendwann im vierten Jahr hatte er eine eigenartige Aversion gegen sexuelle Beziehungen mit Angehörigen seiner Gemeinde entwickelt. Er kannte sich gut. Er kannte seinen Charakter, seinen Egoismus. Er hatte sich fast überzeugt, dass diese Aversion mit seiner alten Verachtung für gläubige Menschen verwandt war: Er redete sich ein, dass diese Frauen nur geistlose Schafe waren, die ihn nicht verdienten, weil sie so bereitwillig an einen Mann glaubten, der ein Scharlatan war.
Sinclair hatte es eine Weile geglaubt und sich an seiner Überlegenheit, seiner Ichbezogenheit und seinem Pragmatismus ergötzt. Doch schließlich hatte er sich etwas eingestehen müssen: Am Anfang war es vielleicht so gewesen, doch nun kam er nicht mehr umhin, den wahren, erschreckenden Grund zu akzeptieren – die nach allem greifenden, bedürftigen Menschen taten ihm Leid. Sie brauchten jemanden, der ihnen ihr Leben vorschrieb. Damit hatten sie ihn ebenso hervorgebracht wie jeden anderen Gott, den der Mensch erschaffen hatte. Er hatte die Rolle des weisen Vaters so lange gespielt, bis er mit ihr verschmolzen war.
Heutzutage sah er in der Gesinnung eher einen Vermögenswert als eine zu bekämpfende Schwäche. Wenn absolute Macht einen Menschen absolut korrumpierte, hinderte dies sein Ich daran, Grenzen zu überschreiten und die Fehler zu begehen, die so viele andere Evangelisten gemacht hatten, denen die fleischliche Lust den Kopf vernebelt hatte.
Glücklicherweise hatte er keine Bedenken, Geld anzunehmen. Er wusste, dass es ihm zustand. Er gab den Aposteln eine Menge. Er gab ihnen, was sie brauchten: Akzeptanz und Struktur. Etwas, woran sie glauben konnten. Ihr Geld gebührte ihm, denn manchmal laugten die Menschen und ihre Bedürfnisse ihn bis zum Letzten aus. Sinclair überstand diese Zeiten nur, indem er sich sagte, er werde seine Gemeinde bald los sein.
Sinclair lehnte sich im Sessel zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und zupfte geistesabwesend an dem Gummiband, das sein welliges, kastanienbraunes Haar in einem dezenten Pferdeschwanz zusammenhielt. Er verbarg es stets unter dem Hemdkragen. Er lächelte vor sich hin. Er wusste nicht mal, wieso er das Haar verbarg und lang trug. Vermutlich war es nur eine Marotte. Vielleicht fühlte er sich mit vierunddreißig Jahren schon sehr alt und trug es als Erinnerung an seine Jugend lang. In der Zeit, in der er als Zauberer gearbeitet hatte, hatte er es offen getragen: Seine Mähne hatte die Frauen ebenso angezogen wie seine hypnotischen braunen Augen und sein ansehnlicher Körper.
Sein langes Haar, seine Augen, seine sich unter dem Overall abzeichnenden Muskeln und sein volltönender Bariton hatten ihm zwar Macht über Frauen und das Publikum gegeben – aber keine echte Macht. Damals hatte er den Erfolg gekostet. Doch als er beschlossen hatte, seine religiöse Vergangenheit mit seiner Körperlichkeit und seinem Wissen über Magie zu verquicken, als er seinen Namen in James Robert Sinclair geändert hatte und zum Propheten und Gründer der Apostel geworden war, hatte er fast so viel Macht errungen wie Gott selbst. Er kicherte. Falls es Gott gab.