Читать книгу Hugo Bauklotz - Ein Zaun - Tarius Toxditis - Страница 47
Blatt 8: Also, nochmal von vorn
ОглавлениеDas Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 8
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
ßilberling Also, nochmal von vorn. Ausgerichtet extra für dich. Schon wieder, wenn man so will.
RLG Ist gut, kleine Münze, deinen Befähigungen sei Dank. Also gut, meinetwegen, von mir aus, die Wiege, in welchen Radius Lehr hineingeboren, war nicht einmal zu sehr von kleinbürgerlicher Natur, oder hatte es der Vater nicht immerhin zu einem von drei stellvertretenden Betriebsleitern einer Manufaktur für silberne Kaffeekannen und zu vergoldenden Filtertüten geschafft, immerhin, während die Mutter hauptberuflich Hausfrau und Mutter zu sein pflegte? Und war sie zudem nicht mit dem gelegentlichen Reinigen von Praxen und Kanzleien aller Art beschäftigt? Radius Lehr wuchs aber zunächst ohne besondere Vorkommnisse heran, außer dass er im Vergleich zu Gleichaltrigen stets etwas hinterherhinkte. Ja, einfach zu schmächtig geraten war er, wahrlich, wahrlich, beziehungsweise zu dünn, doch wenn einer eine Reise tut. Ungefähr drei Jahre waren inzwischen seit der Geburt vergangen, als Vater Lehr einmal eine Einladung für ein Klassentreffen erhielt, mit dem Söhnchen an der Hand führte die Fahrt mit der Bahn irgendwo an die Ruhr, die Feierlichkeiten fanden in einem für die Gegend ach so typischen Bergarbeiterhäuschen statt.
War die Stimmung heiter und ausgelassen, von feucht und fröhlich ganz zu schweigen, weil die Jahrzehnte dazwischen zu erzählen waren, hatte sich der kleine Radius im hinteren Bereich des Hauses verirrt. Genauer gesagt, war es ein Zitronenfalter, welcher es ihm angetan hatte, mit einem Patschen auf die Blüte, auf der es sich das Tierchen gemütlich gemacht hatte, versuchte der Junge es zu fangen. Vergeblich natürlich, vergeblich, eine Folge war ein Jagen kreuz und quer durch den Garten. Bei dem hundertprozentig aussichtslosen Unterfangen tat ihm der Zitronenfalter nicht ein einziges Mal den Gefallen, hoch genug zu flattern, so dass das Manöver für endgültig entschieden hätte erklärt werden können. Zudem wäre der Kleine um Haaresbreite einen steinigen, Treppenabgang, der kaum an einer Stelle nicht zersprungen gewesen war, am Haus herunter gepurzelt, wenn er nicht in einem der letzten ihm in jenen Augenblicken noch zur Verfügung stehenden Momenten an einer schräg am Mauerwerk als Handlauf verankerten Eisenstange Halt gefunden hätte. Selbst dann, wenn der Zitronenfalter jetzt noch immer nicht fortgeflogen wäre, hätte er sich der Aufmerksamkeit vom kleinen Radius kaum mehr gewiss sein können, führte der Abgang nicht bis zu einer einen Spalt breit geöffneten Türe? Stimmen waren zu hören, Männer, Gelächter, Schritt für Schritt kletterte der sich am Lauf festklammernde Radius hinab, Stufe für Stufe, was dauerte und dauerte, bis er das untere Terrain erreichte. Kindlicher Wagemut kein Ausdruck, durchaus nicht, durchaus nicht, die besagte Tür gedachte aus morschem Holz zu sein, und tatsächlich hatten sich in dem Kellerraum ein paar der Klassenmänner eingefunden. Mit Bierpullen bewaffnet, unter spärlichem Kellerlicht, auf einem wackeligen Gartentisch wurden Karten gedroschen, geleerte Kornflaschen kullerten auf den steinigen Untergrund des Kellers. Ohne Frage stickig und verraucht die Luft, keine Frage, doch die Stimmung hier konnte zurecht als eine ausgelassene und heitere bezeichnet werden.
Eine der Flaschen eignete sich sogar in vorzüglicher Weise zum Kicken, wenn sie denn nur richtig getroffen worden wäre, so dass sich erste kindeszarte Talente andeuteten. Hinter eines der Regale gerollt, wo es freilich noch mehr zappen düster war; ja die Lichteinfälle in der Tat sehr schwach, so dass Gegenstände bestenfalls schemenhaft erkannt werden konnten. Das waren zum Beispiel Berge aus alten Lumpen und Kleidern, deren muffige Gerüche dem Jungen mehr in die Nase stiegen, wie ihm hätte lieb gewesen sein können. Mit Sicherheit, gewiss, gewiss, zwischen zu schiefen Türmen gestapelten Groschenromanen und Comicheften baumelte eine Wachsfigur kopfüber runter, die bleiche Fratze hoffnungslos verdreckt. Auf jeden Fall war wirklich kaum was zu erkennen, nicht wirklich viel, und schon gar nichts, was den kleinen Jungen zu einem längeren Aufenthalt hinter den Regalen angeregt hätte, als in einem der letzten Momente vor seinem ganz persönlichen Abdrehen doch noch etwas so etwas wie eine gewisse Neugierde erweckte, beim Hervorziehen wurde ein Einwegglas runter gepatscht. Das schrille Klirren aber rief die Meute auf den Plan, und nicht umsonst war es der alte Lehr, der unter dem Gelächter der anderen seiner hundertprozentigen Empörung freien Lauf ließ. Immerhin wäre der Gipfel der Blamage erreicht, bei welcher aus eigenem Fleisch und Blut entsprungene Dreikäsehoch den Respekt vor fremdem Eigentum gänzlichen vermissen ließ. Der Kopf des Alten war knallrot, während die Ärmchen des Kleinen einen schlichten Blechkasten umklammerten, fest an den kleinen Bauch gepresst
Radius Lehr Haben wollen.
RLG Kaum einen unter den gestandenen Mannsbildern gab es wohl, dem das traurige Kullern verträumter Kinderaugen nicht bis unter die Haut gegangen wäre, zweifelsohne war dem so, die zarte Stimme des zarten Knäbleins nicht zu vergessen. Kaum einen wohlgemerkt, ausgerechnet Vater Lehr schien einen Stock verschluckt zu haben, beziehungsweise einen Stein, aber wäre schließlich nicht eine weitere Höhe erreicht worden? Nach seinem Ermessen, was den Gipfel betraf, ach, was für eine Bettelei, auf die mit einem deutlich spürbaren Maßregeln züchtiger Art und Weise zu reagieren war. Wenn man denn erst einmal wieder daheim gewesen wäre, ein paar hinter die Löffel hätte es aber jetzt gleichsetzen können, was für eine Rotznase, am weiten Ausholen, und unter den durchaus kritischen Blicken der Klassenmeute war es nun Franz – Josef Grünmüller, der Einhalt gebot.
ßilberling Was für ein Wohlklang, was für ein Name, allein mir will er nichts sagen.
RLG War der, der das Klassentreffen inszenierte. Ganz einfach, und der das idyllische Bergarbeiterhäuschen sein Eigen nennen durfte.
ßilberling Den Flattergarten nicht zu vergessen.
RLG Flatterwie? Ach, du meinst, ja, ja, genau, selbstverständlich, natürlich. Aber klar doch, dazu hatte der Franz – Josef die Ausmaße von mindestens eineinhalb Kleiderschränken. Mindestens, davor erstarrte selbst ein Zornentbrannter wie der Vater Lehr, entnervt ließ er die Hand ab, während Franz - Josef es nun war, der sich zu dem kleinen Jungen kniete, die Pranken in die zerbrechlichen Kinderschultern krallte.
Franz – Josef Grünmüller Natürlich kannst du es haben. Du kannst mit allem spielen, was du findest.
RLG Um von dem Kind wieder abzulassen.
Franz – Josef Grünmüller Das Zeug hat sowieso nur noch Wert für den Sperrmüll. Bestenfalls, wozu also die Aufregung? Und ist schließlich ja auch nur ein kaputtes Glas. Nein, das spielt fürwahr keine Rolle.
RLG Sie wandten sich wieder dem Wackeltisch zu - einschließlich dem zerknirschtem Vater.
Franz – Josef Grünmüller Die einzigen schädlichen Gläser sind sowieso nur volle Gläser.
RLG Der kleine Radius indes hockte sich nun auf einem neben einer Kartoffelkiste vorhandenen, hoffnungslos verschrammten Holzschemel, und öffnete das Kästchen. Es war dunkel, in der Tat, doch kaum, dass er hineingegrabscht, wurde die kindliche Gestalt von einem wohligen und warmen Kribbeln erfasst.
Radius Lehr Oh!
RLG Das kleine Kinderherz am Pochen nun, gerade mit beiden Hände konnte das Entdeckte gehalten werden, freilich mit Mühe und Not. Freilich, freilich, darüber hinaus war es kugelrund, mit einem rosafarbenen Fell überzogen, von Kopf bis Fuß wohlgemerkt, so dass es im Bereich der düsteren Kartoffelkiste wenigstens etwas Helligkeit vermittelte. Erstaunlicherweise von einem jeglichen Kellerschmutz verschont hatte es zwei kullerrunde, weiße Auge mit dunkelschwarzen Pupillen, ein schwarzes Stupsnäschen, der zu vermutende Mund unter dem buschigen Gesicht förmlich verschwunden. Offenkundig war dem, offenkundig, gleich unterhalb des kugelrunden Kopfes Patsch - Füße, und an den Seiten dünne Ärmchen. Doch bei aller Glückseligkeit wusste Radius den Fund zunächst. nicht richtig einzuschätzen. Oder handelte es sich bei dem Tierchen vielleicht um einen Igel? Oder Meerschweinchen gar, unter dem Jäckchen versteckt war es ein Federleichtes, das Tierchen an den Männern vorbei zu schleusen, daheim landete es mittels des kindeseigenen Rucksacks natürlich auch vom Vater gänzlich unbemerkt in die Schublade seines Nachtisches. Fortan, aber ich denke, dass das eigentlich nicht sonderlich erwähnt werden muss, mutierte das rosa Tierchen zu Radius ganz persönliches Heiligtum. Nie und niemand sollte je jemand anderes von dem rosa Geheimnis im kindlichen Nachtisch erfahren, und er holte es in der Regel immer erst dann hervor, nachdem er von der Mutter zu Bette geküsst worden war, und sie die Tür zugemacht hatte, kuschelte mit ihm dann, unter der Decke, teilte mit ihm so manche Freude, selbstverständlich, so manche Sorge, so manche Not, all das eben, was einem kleinen Jungen bewegte.
Trotz des gelegentlich über die Strenge schlagenden Vaters verbrachte Radius eine durchaus normale Kindheit. Durchaus, durchaus, er wuchs heran, auch wenn er den Gleichaltrigen weiterhin stets ein paar Spuren hinterher hinkte. Nein, schmächtig und einfach immer etwas zu klein, schlichtweg, den blonden Wuschelkopf nicht zu vergessen.
Nein, doch unter dem Strich wurde er gehegt und gepflegt, und es fehlte ihm an nichts. In den wärmeren Jahreszeiten zum Beispiel geschah es öfters, dass die Mutter bereits am frühesten Morgen einen Picknickkorb bepackte, mit Schinken – und Eierbroten, ein Brathähnchen und ein paar Flaschen mit Fruchtsaft nicht zu vergessen, ganz zu schweigen von einer heißen Thermoskanne mit aromatisch einwandfreiem Brühkaffee. Und natürlich auch noch das obligatorische Strickzeug, einmal die Mutter zum Lippennachziehen im Badezimmer verschwunden, versteckte Radius sein rosa Kuschelgeheimnis in den Kind eigenen Kinderrucksack. Mit Korb und Kegel begab man sich dann schließlich zu beziehungsweise auf eine stadtnahe Ausflugswiese, umgeben von einem raschelnden Mischwald an einem kleinen, ewig plätschernden Fluss.
Bereits mit dem Ausbreiten der Decke hielt Mutter Lehr Ausschau nach ihrer Klatschpendant Else Mitternacht, galt es immerhin, nicht bilaterale Gespräche aufzunehmen? Umgehend, immerhin waren die neuerlichen Preiserhöhungen eines lokalansässigen Aprikosen– und Pfirsichmarktes zu erörtern gewesen.
Else Mitternacht Eine Unverschämtheit ohne Beispiel!
RLG Vornehmlich von Familien wurde das sommergrüne Areal bevölkert, von Erwachsenen und ihren Kids wimmelte es gleichermaßen, Radius indes war sofort nach der Ankunft mit dem Rucksack über einen knarrenden, uralten Holzsteg gewackelt, ein uralter Holzschuppen daneben, bis er am anderen Ufer eine seichte Stelle ausgemacht hatte. Hingekniet marschierte die Sonne unaufhaltsam zu ihrem ganz persönlichen Zenit, die Hitze bereits jetzt schon bis ins Unerträgliche gestiegen, doch sanft wurde das rosa Tierchen gestreichelt. Die vielen, vielen Kinder drüben, nein, nie würde er auch nur mit einem von ihnen sein rosa Geheimnis teilen wollen.
Nein, nie und nimmer – von wegen, auf dem ausgetrockneten Untergrund vor dem Fluss bildete sich ein verschwommenes, wackelndes Spiegelbild, mit Chantal war nämlich eines der Mädchen von drüben eingetrudelt, und ob bestellt, oder auch nicht, das spielte in diesem Falle nun wirklich keine Rolle mehr. Fürwahr, fürwahr, Radius zuckte zusammen, über die Erscheinung war er alles andere wie verzückt, ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil.
Chantal Island Oh – darf ich es auch mal streicheln?
Radius Lehr „Nein, darfst du nicht. Ist meins.
Chantal Island Na, dann eben nicht, du blöder Kerl.
RLG Chantal stapfte hinfort, unter der Sommerhitze war auch Radius Atem schwerer geworden, bedeutend schwerer, nein, und das eben Vorgefallene wollte ihm so gar nicht schmecken. Immerhin drei satte Jahre waren seit der Entdeckung im Bergarbeiterkeller vergangen, und seither war es Radius gelungen, das rosa Tierchen von einem jeglichen anderen abzuschotten. Hundertprozentig wohlgemerkt, in einem der nächsten ihm zur Verfügung stehenden, sengenden Augenblicken wurde er jedoch vom ganz persönlichen Argwohn abgelenkt, völlig unverhofft freilich, doch, doch, auf dem seichten Untergrund des klaren Flusses blitzte was vor. Etwas Glitzerndes.
Radius Lehr Oh.
RLG Chantal Island, wie das Mädchen mit vollen Namen hieß, wohnte mit ihren Eltern im selben Viertel wie die Lehrs, ein paar Straßenzüge voneinander entfernt. Etwa zwei Jahre älter war sie wie Radius, und ungefähr einen Wuschelkopf größer, auch hatte sie im Gegensatz zu ihm schon zwei Schuljahre hinter sich gebracht. Ihr Erscheinen von der anderen Seite des Flusses völlig unerwartet - aber nicht, dass er gar was gegen sie gehabt hätte, andererseits betrachtet, nein, dies hätte nun wirklich nicht behauptet werden können. Ganz im Gegenteil, und nicht von der Hand zu weisen war die Tatsache, dass er sie ja irgendwie sogar kannte, die Mädchen – aber wie waren die gleich noch?
Hinter ihm befand sich vor einem sommerdichten Gebüsch eine uralte Holzbank, um sie vom Unterholz am Ufer zu erreichen, musste lediglich ein geteerter, schmaler Schotterweg überquert werden. Nicht wirklich viel, selbst für einen kleinen Jungen, ein paar Schritte, durch das Dickicht gezwängt, dahinter eine kleine Lichtung, wo sein Erscheinen zunächst auf weniger Gegenliebe stieß.
Chantal Island Radius – was soll das!
RLG Chantal war gerade am Drehen ihres Jeanspants - Knopfes, die andere Hand am Reißverschluss, der nun ungeöffnet blieb; vorläufig wohlgemerkt.
Chantal Island Ja, ja, bei Mädchen spicken, das ist alles, was du kannst.
Radius Lehr Ich zeige dir auch was. Wenn du mir was zeigst.
Chantal Island Nichts werde ich dir zeigen, du, du - du Ferkel. Und jetzt verschwinde endlich!
RLG Das tat er nicht, nein. Ganz und gar nicht, wie ein Angewurzelter, mit einer Hand unter ihrer Nase, was Verzückung hervorlockte.
Chantal Island Oh, wie schön es ist, so etwas Wunderschönes habe ich noch nie gesehen.
RLG Radius fühlte ein Obenauf.
Radius Lehr Ich gebe es dir. Wenn du mir endlich was zeigst.
RLG Chantal Island war verärgert, davon war auszugehen, das war anzunehmen, ihre Lippen am Vibrieren, wurden schließlich nicht die Bedürfnisse, welche überhaupt erst zu dem Aufenthalt hier im Gebüsch geführt hatten, durch blankes Rumstehen nicht gerade angenehmer, oh, gewiss war dem so, ganz bestimmt. Nach ein paar Momenten des absoluten Stillschweigens zwischen dem hübschen Mädchen und dem hübschen Jungen zwinkerte sie mit einem Auge, biss sich auf die Unterlippe, und zuckelte mit den Achseln.
Chantal Island Okay, ich zeige dir was. Wenn du mir dafür dein Herz gibst.
RLG Der zwischenkindliche Deal schien, um es mal so zu formulieren, in trockene Tücher gelegt. Und das im Rahmen eines durchaus schattenspendenden Gebüsches, nur für ein paar wenige Augenblicke hielt Chantal ihren neuen Glitzerbesitz gegen das Licht, um es dann in ihre Jeanspants – Pocket verschwinden zu lassen. Radius indes machte nun einen auf Ungeduld.
Radius Lehr Jetzt bist du dran. Mit dem Abgemachten.
Chantal Island „Ja, ja, schon gut, bringen wir es hinter uns. Ein Ferkel bist du trotzdem. Mit oder ohne Herz.
RLG Ihm dann schnell noch ans Brustbein geknufft, so dass er ein, zwei Schritte zurück stolperte. Mitten im Gebüsch, mit Argusaugen jedoch der Jeanspants - Schoß anvisiert, wo tatsächlich begonnen worden war, am Jeanspants- Knopf zu drehen. Langsam wohlgemerkt, langsam und äußerst vorsichtig, mit der anderen Hand ein wenig am Reißverschluss gezupft, und ob es Ende nicht mehr wie eine kleine Geduldsprobe wurde? Für die kindliche Neugierde vor dem Mädchen, zu mehr sollte es auf der anderen Seite an jenem brütend heißen Sommertag sowieso nicht mehr kommen, denn wurden sie nicht plötzlich jäh aus ihrer trauten Zweisamkeit gerissen? Mitten in einem sommerlich verträumten Gebüsch? Von einem furchterregenden, lauten Niesen und Gekrächze, welches wie aus einem heiteren Nichts bis zu ihnen gedrungen war? Ja, eiskalt den Rücken lief es runter, beiden wohlgemerkt, und als Chantal mit dem kleinen Jungen aus dem Dickicht hervor geprescht war, erstarrten sie vollends, hatte sich nicht schließlich auf der uralten Bank vor ihrem Gebüsch jemand eingefunden, der durch und durch gammelig war. Nein, besser hätte man den nicht bezeichnen können, abgemagert bis auf Haut und Knochen in hoffnungslos zerrissenen und verdreckten Lumpen gehüllt, die Furchen im nicht erkennbaren Gesicht tief und dunkel, vertrocknete Rinnsale glitzerten an den Augenhöhlen herunter. Aus einem Kästchen auf dem Schoß rankte Schnupftabak, fürwahr, fürwahr, das heftige Niesen war sehr laut und unentwegt, so dass einem schlecht geworden wäre. Wenn man davorgestanden wäre. So wie unsere beiden Kinder, das einzige, was ihnen in jenen Momenten beschieden wurde, war die Tatsache, dass der auf der Bank keine Notiz zu nehmen schien. Von ihnen, von Chantal und Radius, nicht ein einziges Aufblicken, ganz offenkundig hinderte ihm der Niesanfall zu sehr am Wahrnehmen von anderem, dafür ertastete er den Rucksack neben sich, aus dem ein rosafarbenes Taschentuch gezückt wurde. Längst die kindlichen Herzen am Stocken, beim Ausschwenken entpuppte das sich nämlich als rosa Damenhöschen, ach, du meine Güte, was war denn das für einer? Und wenn das doch alles gewesen wäre, aus dem durchaus reizvollen Wäschestück blitzte nämlich etwas hervor. Etwas wie ein Papierschnitzel, in einem der nächsten zur Verfügung stehenden Momente wurde es von einer Böe erfasst, so dass es in die Höhe geschwirrt wurde, hastig und nervös versuchte der Fremde nun es wieder einzufangen, vergeblich freilich, vergeblich, denn mit jedem Mal, mit welchem er nach dem Fetzen grabschte, wurde es weiter geweht. Unterm Strich betrachtet blieb ihm nichts Anderes übrig, wie dem Ding hinterher zu hecheln. Was er auch tat, mit Sack und Pack wohlgemerkt.
Und noch ein gutes Weilchen starrten Chantal und Radius ihm hinterher, ja, lang genug noch, auch, nachdem er eigentlich schon längst verschwunden war. Aus den Augen, und die Vögel, sie zwitscherten, die Bäume raschelten und der kleine Fluss plätscherte und plätscherte, als ob nie was Anderes gewesen wäre. Chantal war von beiden dann die Erste, die wieder zu Bewegung zurückfand. Nach der seltsamen Begegnung mit dem Seltsamen, auf dem Weg zurück zu den anderen stolperte sie unmittelbar vor dem knarrenden Holzsteg über eine Bierdose. Silberfarben war die, silberfarben und leer, und auf den Hosenboden geplumpst, regelrecht wohlgemerkt.
Chantal Island Radius – komm!
RLG Sie zerrte den kleinen Jungen dann über den Steg, wo umgehend von der Begegnung mit den Unwirklichen berichtet wurde, was wiederum ein Alarmieren der lokalansässigen Polizeikräfte zur Folge hatte. Das bewaldete Areal wurde weiträumig abgeriegelt, weiträumig und großzügig, und von Spezialsuchtrupps auf den Kopf gestellt. Nein, anders hätte es wirklich nicht gesagt werden können, mehr wie die silberne Bierdose am uralten Holzsteg konnten sie jedoch nicht ausfindig machen. Vorläufig zumindest, vorläufig, von dem Kerl fehlte eine jegliche Spur, mehr wie im wahrsten Sinnsinn, ja, genauso wie er aufgetaucht war, so war er auch wieder verschwunden. Gleich Phoenix aus der Asche, beziehungsweise gleich einem wie vom Erdboden Verschluckter, für den korpulenten Kriminalhauptkommissar Huber, in dessen Hände sämtliche Ermittlungszügel zusammengehalten wurden, war das Erscheinen des Mannes, von dem Chantal und Radius die Beschreibung zum Besten gaben, wobei sie hektisch waren, hektisch und nervös, eine Sensation. Schlichtweg, immerhin passte sie haargenau wie die Faust aufs Auge, will damit gesagt worden sein, zu einem Kindermörder früherer Tage. Ja, ja, und das war nämlich einer von denen gewesen, die nach ihrer Tat untergetaucht waren, und seither nie wiedergesehen worden waren, und die landesweiten Fahndungen waren sehr lange schon auf ein Mindestmaß reduziert worden. Denn über die vielen, vielen Jahre war nämlich gerade auch in polizeilichen Kreisen die Überzeugung herangereift, dass selbst so einer eines Tages von den Würmern gefressen worden hätte müssen, so sehr von ihm Unvorstellbares ausgegangen war. Tatsächlich war er seit den tragischen Geschehnissen von anno dazumal nie wieder erspäht worden. Doch, ein einziges Mal, frei nach dem Motto „die sogenannte berühmte Ausnahme von den noch berühmteren Regeln“. So hatte einmal ein Judoka geglaubt, den Gesuchten einmal passiert zu haben. Beim Joggen vorbei an einem Stadtbrunnen, freilich hatte sich dieser Hinweis - im Übrigen der einzige konkrete bis heute - als ein Sturm im Wasserglas entpuppt. Denn noch bevor überhaupt jemand von der Polizei eingetroffen war, war der höchst Verdächtigte längst über sämtliche sieben Berge der Welt. Wie gesagt - natürlich, selbstverständlich, was denn sonst auch?
Für den damals unmittelbar vor der Pension stehenden Huber rankten sich hingegen hundertprozentig andere Gedankenspiele, denn einen Verbrecher dieser Kategorie schnell noch dingfest zu machen hätte für seine sich allmählich zum Ende neigenden Karriere einen krönenden Abschluss bedeutet - hm, kleiner ßilberling.
ßilberling Was ist?
RLG Du wirkst nachdenklich?
ßilberling Tja, aber was wohl, über was könnte ich nachdenken?
RLG Ich schätze, du wirst es mir gleich sagen.
ßilberling Na, was denn schon. Ob es einer und derselbe.
RLG Ach so, du meinst.
ßilberling Nichts meine ich. Nur ob deiner und meiner, na ja, du weißt es doch schon.
RLG Einer und derselbe – schon möglich, warum denn auch nicht? Allerdings liegt das mit meinen wirklich ein gutes Weilchen zurück, oder habe ich es nicht geschildert? Ausführlich sogar?
ßilberling Aber bei mir doch auch, wie lang ich in dem faulen Knäuel gefangen – ach, ich Armer.
RLG Also, Chantal und Radius waren noch Kinder, als sie die unliebsame Begegnung an der uralten Bank hatten. Vor dem romantischen Gebüsch, der Mord, mit dem sich nun Huber zu befassen hatte, hatte aber noch weiter zurückgelegen.
ßilberling Plusquamperfekt in Reinkultur.
RLG Also dann doch - deiner und meiner eine Person?
ßilberling Nein, vom Temporären betrachtet eigentlich doch nicht möglich. Du hast Recht, wenn ich‘ s genauer abwäge.
RLG Aber warst es nicht du? Der‘ s in die Waagschale geworfen?
ßilberling Nein, unmöglich.
RLG Ja, deine Wanderschaft im Knäuel, hundertprozentig ermessen kannst du sie doch auch nicht.
ßilberling Wie fürchterlich gestunken es hat, hach, ich darf wirklich nicht mehr daran denken.
RLG Also, dann ist es vielleicht doch möglich.
ßilberling Ach jetzt denkst du, dass meiner und deiner einer sind.
RLG Einer und derselbe, unsere Zeitrechnungen, erlauben sie es nicht?
ßilberling Na hör mal, für wie alt hältst du mich eigentlich?
RLG Als ob das zur Debatte stünde.
ßilberling Setze lieber fort.
RLG Meine Schilderungen, als ob ich nicht schon dabei wäre.
ßilberling Das ist mir allemal lieber wie mich zum Methusalem machenden Milchmädchenrechnungen.
RLG Wo waren wir eigentlich stehen geblieben?
ßilberling Warte!
RLG Beim altgedienten Kommissar Huber – oder etwa nicht?
ßilberling Warte!
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende