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Blatt 9: Es kann weitergehen
ОглавлениеDas Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 9
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
ßilberling Es kann weitergehen! Du ewig währender Held! Des Motherboards!
RLG Danke schön, danke schön, und in der Tat möchte ich zunächst noch einmal auf Kommissar Huber zurückgreifen, denn die Tage vergingen, Tage und Stunden, auch für ihn, ja, auch für ihn, nein, anders hätte man es nicht sagen können, bis unterm Strich selbst für ihn nichts Anderes übrigblieb, wie jegliche Gedankenspiele ad acta zu legen. Ja, und hatte es sich bei dem Kindermörder aus einer scheinbar längst vergangenen Zeit denn nun wirklich um haargenau denselben gehandelt, welchen Radius und Chantal zu Gesicht bekommen hatten? Hundertprozentig wohlgemerkt? Oder etwa doch nicht? Vielleicht wurde in jenen Tagen und Wochen auch zu viel geredet und zu wenig geschwiegen, Z0umindest wusste die lokalansässige Lokalpresse gut mit Huber zusammenarbeiten, immer und immer wieder versuchte sie, den Staub jenes eigentlich schon vergessenen Uralt - Mordes aufzuwirbeln.
Doch unterm besagten Strich blieb am Ende, dass der fürchterlich Heruntergekommene mit dem chronisch anmutenden Niesanfall vom Erdboden verschluckt blieb, auch das musste einer wie der Kommissar letztlich einsehen. Mehr und mehr, zwangsläufig wohlgemerkt, zwangsläufig, die Aufgeregtheit blieben freilich, oder hätte man schließlich seines Lebens noch sicher gewesen sein können? Von das ihrer Kinder ganz zu schweigen, so dass zum Beispiel ein Ort wie der am ewig plätschernden Fluss nahezu gemieden wurde. Für Wochen wohlgemerkt, für Monate gar, und lag dies nicht förmlich auf der Hand? Im sprichwörtlichen Sinnsinn des Wortwortes, wenn man so will, die Empörungen ob des blitzartig Aufgetauchten schwanden in der Tat nur allmählich und mit der Zeit. Nein, mehr und mehr war jedoch deutlich geworden, dass der scheußliche Kerl jenseits aller zur Verfügung stehenden Berge war, so dass es unterm Strich dann doch Normalität war, die nach und nach zurück trudelte. Unterm Strich dauerte es dann aber doch bis zum Frühling des darauffolgenden Jahres, bis sich die ersten Gruppen wieder auf das eigentlich doch noch immer beliebte, grüne Terrain wagten, und spätestens bis zum darauffolgenden Sommer war es mit Leben erfüllt - wie eh und je.
ßilberling Was ist mit dir?
RLG Was – was schon soll mit mir sein?
ßilberling Hach – als ob du nichts vergessen hättest.
RLG Nicht das ich wüsste.
ßilberling Sicher?
RLG Gewiss doch.
ßilberling Also, ich weiß nicht.
RLG Na gut.
ßilberling Wer es nicht sagt.
RLG Vergessen sogar das richtige Wort, ach ßilberling, wieder einmal triffst du den Nagel auf den Kopf.
ßilberling Wenn‘ s denn nur ein Nagel wäre.
RLG Radius natürlich, Radius hatte was vergessen.
ßilberling Hach.
RLG Ja, Radius war nämlich am Abend, als sie heimgekehrt waren, von Phantombildzeichner und Kreuzverhör, völlig aufgewühlt. Todmüde im Bett, am Hin- und Herwälzen, schob er die Schublade des Nachtisches auf, bis er auf den Trichter kam. Von vorne nach hinten, von oben nach unten, jeden einzelnen Quadratzentimeter, von links nach rechts, es war nichts zu machen. Kraftlos schleppte er sich ans Fenster, die Scheibe des Mondes voll und hell, sehr hell, auf der großen Scheibe die Schatten von schwingenden Vögeln. Waren sie nicht ungefähr über jenem Tal, wo tagsüber noch unbeschwertes Kinderglück zu genießen war, bis sie letztlich von Kommissar Huber ins Polizeipräsidium geleitet worden waren? Und was waren es eigentlich: Bussarde? Falken? Drei? Vier, Habichte, zu weit, um sie erkennen zu können, von draußen war lediglich das Gejohle von Betrunkenen zu vernehmen.
Erschöpft stocherte Radius am darauffolgenden Morgen über aufgewärmten Haferbrei, geplagt von Kopfschmerzen, von Ungewissheiten, die nicht schlimmer für ihn hätten sein können. Und trotz eines aus reiner Vorsicht gut gemeinten Ausgehverbots der Mutter gelang es dem Sechsjährigen unbemerkt die Wohnungstür zu zumachen. Hinter sich, denn stand nicht zu viel auf dem Spiel? Unterm Strich, im wahrsten Sinnsinn?
Die Hauptstraße unseres Höhenviertels führte bekanntermaßen schnurstracks ins Zentrum. Bekanntermaßen, ein durchaus langer Weg, durchaus, durchaus, ständig abwärts, eine geschlagene halbe Stunde unterwegs, die frühe Vormittagssonne kündigte erneut eigentlich viel zu hohe Temperaturen an. Ohne Frage, hoffnungslos verschwitzt, vorbei an Entgegenströmenden, Eile war kein Ausdruck, beileibe nicht, an allen Ecken und Kanten, Vorbeiströmende, vorbei an den Cafés, Empörte, an den Kreuzungen, Entsetzte, wild Gestikulierende, erregt Diskutierende, weiter und weiter, bis er sie schließlich hinter sich hatte lassen können. Von den abgesperrten Wegen und Straßen zu unserer Grillwiese tummelten sich wohl behütende Polizeibeamten in einem grell leuchtenden Grün, dass es in den Augen weh tat, nicht nur wenn man in unmittelbarer Nähe gestanden hätte. Etliche Steinwürfe von ihnen gab es einen sehr schmalen Trampelpfad, der von ihrer Gründlichkeit scheinbar völlig übersehenden worden war, so dass es tatsächlich gelingen sollte, in das Waldinnere einzudringen. Über Stock und Stein, vorbei an Feuchtigkeit spendenden Farnen und sommerbejahenden Insektenkulturen, ein Zickzackkurs, der schließlich auf unserem Schotterweg mündete.
An einem stillgelegten Sägewerk vorbei, die Bäume raschelten, die Vögel zwitscherten, und der kleine Fluss rauschte und rauschte wie eh und je. Nach ein paar hundert Metern flussaufwärts erreichte er endlich den knarrenden Holzsteg. Ohne dass ihn nur ein einziger Beamter erspähte, nein, nicht ein einziger, im niedrigen Pegel spiegelten sich die Vormittagsstrahlen. Radius indes stürzte sich an der haargenau gleichen Stelle ins Unterholz, wo er noch am Vortag das ungebeten erschienene Mädchen abzuwimmeln hatte. Mehr oder minder, jedes noch so kleine Teilchen wurde nun gewendet, gewendet und gedreht, jeden noch so winzigen Kieselstein nicht zu vergessen, vom Schütteln und Rütteln einer jeglichen Ameise ganz zu schweigen, nein, es war nichts zu machen. Einfach nicht, schließlich begab er sich ins Gebüsch, die Augen feucht, jeder Quadratzentimeter gleich mehrfach auf den Kopf gestellt, im wahrsten Sinnsinn.
Hundertprozentig entmutigt und niedergeschlagen robbte er sich schließlich wieder nach draußen, nein, nichts und wieder nichts, unter der altehrwürdigen Bank, alles wie verhext, bis er am Ende dann doch noch fündig wurde. Unerklärlich, wie die unermüdlichen Suchkräfte der Polizei sich überhaupt so etwas durch die Lappen hatten gehen lassen, ganz offenkundig, immerhin war es das Kästchen von jenem Schlimmen, doch unterm Strich blieb alles vergebens. Das Blechding blitzblank, nicht einmal Tabak mehr, nicht ein einziger Krümel, nichts, wutentbrannt entledigte er sich dem Kästchen, in dem er es ins Gebüsch schleuderte. In hohem Bogen wohlgemerkt, und war nicht der Platz am anderen Ufer verwaist, dort wo gestern noch geschrien wurde, geschrien und getobt und vergnügt, dort wo die Väter Karten droschen oder grillten, die Mütter strickten und tratschten? Die Bäume raschelten, nein, war nicht deshalb kein Einziger mehr von ihnen drüben, weil sie Angst hatten? Schlichtweg, Angst vor genau demjenigen, der noch gestern auf der uralten Bank nieste und krächzte, was das Zeug hielt, als er hier gemeinsam mit Chantal verweilte? Einer, den Huber als Kinderfresser bezeichnete?
Mehr oder minder glich Radius unter der Bank einem auf dem Boden Winselnden und Kauernden, was auch hätte anderes erwartet werden können? Am Ende mit den Kräften, hoffnungslos übermüdet, von Verzweiflung ganz zu schweigen, ein Verlust – höchstwahrscheinlich für immer. Höchstwahrscheinlich, ein Junge, der gerade mal sechs. Von einer Patrouille der Polizei aufgegriffen, noch bevor die Dämmerung heran gebrochen war, wurde er wohlbehalten in elterliche Gefilde zurückgeführt – wohlbehalten, wenn auch total erledigt. Bis auf Haut und Knochen wohlgemerkt, Vater und Mutter Lehr jedenfalls fielen Steine von den Herzen, als er an der Wohnungstür abgegeben wurde, von einem jeglichem adretten Grün möchte ich an dieser Stelle nicht nochmal anfangen zu sprechen.
Ja, am Verlust hatte Radius tatsächlich zu nagen, bald jedoch sollten sich noch ganz andere Gelegenheiten zum Verdrängen und Vergessen bieten, stand er nicht immerhin vor der Einschulung? Vor seiner ganz persönlichen wohlgemerkt, und das, was in seinem Kopf Einzug hielt, war nämlich eine Flause. Kaum mehr wie das, denn handelte es sich nicht um Chantal? Die nun in dritte Klasse? Anders formuliert, der Bub hatte sich verknallt, schlichtweg. Mit Haut und Haar, was natürlich im hundertprozentigen Kontrast zu der chronischen Schüchternheit des schmächtigen Wuschelkopfes stand. Somit waren seit dem Schulanfang etliche Woche vergangen, bevor es ihm tatsächlich gelingen sollte, ausreichend Mut zu fassen. Beziehungsweise zu sammeln.
Abzupassen versuchte er sie, nach Unterrichtsschluss, direkt an der Linde, auf unserem guten, alten Schulhof, allerdings erschien sie in Begleitung eines vierköpfigen Freundinnentrupps. Ihn völlig unbeachtet marschierten sie an der Linde vorbei, eiskalt eigentlich, die Luft am Wegbleiben. Die Spucke nicht zu vergessen, beides, in einem Abwasch. Sozusagen.
Radius Lehr Chantal, Chantal – warte doch.
RLG Stillgestanden, von einem Moment zum nächsten, in der Tat, die komplette Einheit. Beinahe wie auf Knopfdruck. Chantals Mimik verriet weniger Verheißungsvolles, im Gegensatz zu Radius. Der strahlte, von einer Wange zur anderen, gleichsam wie ein pudergezuckerter Gugelhupf.
Radius Lehr Ich hab dich doch so lieb. Oder weißt du das etwa nicht?
Freundinnen Die hat ja einen Verehrer. Und was für einen Großen.
Chantal Island Sag mal, kannst du mir vielleicht mal sagen, was das eigentlich soll!
RLG Wild fuchtelte der Losgelöste um sich her.
Radius Lehr Das habe ich doch gesagt. Dass ich dich liebhabe. Und dann könnten wir immer zusammenspielen. Den ganzen Tag, und wenn wir groß sind, heiraten wir. Man muss nur wollen
Chantal Island Sag mal, spinnst du jetzt total?
Radius Lehr Aber Lockenköpfchen, du weißt doch gar nicht, was du sagst. Wir beide sind die Richtigen – du und ich.
Chantal Island Nichts du und ich, um Gotteswillen, und von so einem Kerl will ich gleich dreimal nichts wissen. Außerdem bist du mir viel zu klein.
RLG Mit einem kräftigen Schubs brachte sie ihn ins Wanken, so dass er auf den Allerwertesten plumpste. Nicht bewusst, wie ihm geschah, nie und nimmer, trat sie ihm auch noch ans Schienbein, frei nach dem Motto „zu allem Überfluss.
Chantal Island Und heiraten werde ich dich in hundert Jahren nicht.
RLG Aus ihrer Jeans- Pocket etwas hervor gezwängt, was sie im hohen Bogen in den Abfalleimer vor die Linde schleuderte. Es schepperte, es klimperte, abermals stieß sie dem auf dem Boden ans Schienbein, freilich ans andere diesmal, frei nach dem Motto „etwas Abwechslung wenigstens.“
Chantal Island Und quatsch mich nie wieder an, verstanden, ich will mit dir einfach nichts zu tun haben, du, du, du - du winziger Gartenzwerg.
Radius Lehr Lockenköpfchen, ach Lockenköpfchen – so etwas darfst du doch einfach nicht sagen.
RLG Wieder in Gang gesetzt hatte sich der kichernde Freundinnentrupp, und längst waren sie verschwunden, als Radius noch immer unter der Linde verharrte. Auf den Behälter gestarrt, und es dauerte, eine fette Amsel hopste umher, es dauerte, bis er dann schließlich doch noch mit einem kräftigen Satz bis zu ihm sprang, und durchwühlte. Von oben nach unten, jeden einzelnen Kubikzentimeter, bis auf den Grund, aber nichts, einfach nichts.
ßilberling Hm, wenn man mich fragt.
RLG Dich fragt aber keiner.
ßilberling Ein ordentlicher Korb.
RLG Na und!
ßilberling Den dein Radius eingefangen.
RLG Na, und wie, aber eines sollte nicht hundertprozentig unter den Tisch gekehrt werden.
ßilberling Ach ja.
RLG Radius war gerade mal sechs
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende