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Blatt 17:In der Bürzel Tiefe

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Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank

Auszug 35 159 23 5, Blatt 17

Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende

Otto Wieschensriether In der Bürze Tiefe. Heribert, der Worte garstig, der Ohren Klang. Ach, Heribert, der Busen Treue, der Zweifel Tiefe.

RLG Ja, noch lange waren sie zu hören gewesen, das Wehklagen des Meisters, lange noch, nachdem Radius Lehr den Hinterhof hinter sich gelassen. Die Hauptstraße unseres Höhenstadtteils erreicht, an der Schule vorbei hätte sich ein Heimgehen geradezu angeboten. Oder nicht, und wäre es nicht nötig gewesen, nach all den Aufregungen, eine Oase der Ruhe? Zu suchen, zu finden, nein die Dinge sollten – wie gesagt - einen anderen Lauf nehmen; und das haben sie dann ja auch getan – leider, leider.

Und gerade auch zu meinem Leidwesen, ach, die Straße geradeaus erreichte er schon bald einen Ort, an welchem er heute schon einmal verweilte. Und lag es nicht gerade einmal eine halbe Stunde zurück, die Tankstelle des Tankwart Tunkel nämlich, gegenüber der eckigen Eckkneipe der Hochs. Unsere altehrwürdige Vorstadtkirchglocke hatte während dem Eintreten, zur zwölften Stunde geschlagen. Erstaunt die hinter der Theke Gläser spülende Amalie Hoch, Radius Lehr zu völlig ungewohnter Tageszeit zu Gesicht zu bekommen. In der Tat war das urgemütliche Lokal in jenen zur Verfügung stehenden Momenten noch nicht allzu sehr reflektiert.

Amalie – eine durchaus ansprechende Schönheit mit schulterlangen, dunkelschwarzen Haaren, offen getragen, frei nach dem Motto „Gläser hin, spülen her.“ Doch, doch, durchaus, durchaus, an einem der wenigen Tische trugen die Deutschrussen Erich Tolstoi und Leonid Zimmermann ihr ganz persönliches, scheinbar ewig währendes Dauerschach aus. Mit seiner Frau betrieb der leicht untersetzte Erich ein kleines Musikgeschäft, während der von der Gestalt eher hagere Leonid beruflich mehr als Taxifahrer fungierte. Das Dudeln der Geldspielautomaten ist indes ein sicheres Zeichen für die Anwesenheit des spanisch stämmigen Alonso Gonzalez, einem etwas korpulenten und auch etwas schmierigen Speditionskaufmann, der es stets verstand, in hocheleganten Anzügen zu glänzen. Aus der Jukebox dröhnten Titel aus der Welt der Schlager – beziehungsweise Popmusik: „So wie ein Regenbogen“ zum Beispiel. Oder „Chirpey Chirpey Cheep Cheep“, „Ein Mädchen für immer“, „Ein Student aus Uppsala“, und so weiter und so heiter und so fort.

Noch eine Person am eckigen Eckstammtisch; doch zu dieser gleich etwas mehr. Natürlich kärglich belichtet, frei nach dem Motto „was sonst auch“. Radius Lehr hingegen fand Platz auf dem Barhocker gleich vor den Bierhähnen, im Nu hat sie einen Krug darunter gehalten.

Amalie Hoch Und warum bist du hier?

Radius Lehr Warum, warum – ich will ein Bier

Amalie Hoch Ich meinte doch nur, noch lange ist nicht vier.

Radius Lehr Ach Amalie, wenn du mich heut einfach in Ruhe lässt.

Amalie Hoch Na gut, von mir aus, ich kann‘ s mir sowieso schon denken. Der Otto hat dich früher heimgeschickt, kein Wunder, nach dem gestrigen Abend.

Radius Lehr Nein, das hat der nicht!

Amalie Hoch Kein Grund, mit mir zu raunzen. Ist doch wahr - oder ist nicht alles schon mal vorgekommen?

RLG Nun meldete sich eine leicht ins Krächzende neigende Stimme. Vom bereits erwähnten, eckigen Ecktisch: Amalie, jetzt lass ihn doch einfach.

Amalie Hoch Ich lass ihn doch, ich habe lediglich eine Frage gestellt.

Aus der Ecke Schließlich ist der Kunde König. Sich nach ihm zu richten ist eine gastronomisch bedingte Betriebsnotwendigkeit.“

Amalie Hoch Was du nur wieder hast, ich habe sehr höflich gefragt. Und das wird ja wohl noch erlaubt sein.

RLG Ob dem allerdings der kalte Umschlag was nutzte? Auf der anderen Seite? Und auch noch mitten auf der Stirn?

Aus der Ecke Ah!

RLG Zornig knallte Amalie das frisch gezapfte Bier vor Radius Nase, und wendete sich wieder ihrem offenbar ganz persönlichen Glasparadies zu.

Amalie Hoch Meinetwegen kann jeder tun und lassen, was er will. Wenn ihr unbedingt alle meint - von mir aus, an mir soll‘ s nicht liegen. Ganz bestimmt nicht.

Radius Lehr Amalie, es ist doch nur, weil mich niemand heimgeschickt hat. Hörst du, niemand.

Amalie Hoch Mein Gott, und es ist mir auch egal, wann oder wo wer wie oft heimgeschickt worden ist. Ehrlich gesagt, oder auch nicht, von mir aus, ich wollte lediglich ein klein wenig den Bogen spannen. Zum gestrigen Abend. An dem flaschenweise Raki vernichtet wurde. Nicht glasweise wohlgemerkt, sondern flaschenweise, von dir und meinem göttlichen Göttergatten! Nur so viel von mir zum Thema betriebsbedingte Gastronomie.

RLG Nach einem Zug ist Radius Krug schon so gut wie leer gewesen.“

Radius Lehr Noch eins, Amalie. Noch eins, und noch einmal: mich hat niemand heimgeschickt!

Amalie Hoch Ist ja gut, Radius, ist ja gut. Man darf auch nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage legen. Aber das müsstest du eigentlich wissen - so lange, wie du mich kennst.

RLG Der vom Ecktisch hat sich hinter die Theke geschlichen, mit der Kaltschüssel, frei nach dem Motto „ob die Kühlung wirklich gewirkt hat?“.

Dimitri Hoch Jawohl, meine Blumenbiene, das Ganze basiert, wie ich finde, auf gastronomisch richtigen Einschätzungen.

RLG Dimitri, ja, ja, der Dimitri war dies natürlich - am Verschwinden hinter der Tür zur Küche, derweil Radius beim am zweiten Bier leer sabbern.

Radius Lehr Aber es stimmt, Amalie. Ich bin ganz alleine weggegangen.

Amalie Hoch Ja, natürlich, Radius. Trink lieber noch ein wenig. Der Beruhigung zuliebe.

Radius Lehr Weißt du, ich habe nämlich gekündigt.

Amalie Hoch Ja, warum denn auch nicht?

Radius Lehr Und soll ich dir auch sagen, warum?

Amalie Hoch Ach, Radius, ich glaube, das möchte ich wirklich nicht wissen.

Radius Lehr Ich sag‘ s dir aber trotzdem. Wegen dem Wieschensriether. So ein Oberarschloch sag ich dir.

Amalie Hoch Ach, lass das doch jetzt.

Radius Lehr Ein Oberarschloch.

Amalie Hoch Oh. Radius - muss das nun wirklich sein?

Radius Lehr Ist ja schon gut, Amalie, und Ich weiß ja, dass du solche Wörter nicht magst. Stimmt‘ s, aber ich sag dir noch was.

Amalie Hoch Bloß nicht. Nur ich fürchte, du wirst es trotzdem sagen.

Radius Lehr Nämlich noch ein Bier. Auf das Oberhauptarschloch.

Amalie Hoch Was ist mit dir heut nur los? Und außerdem hast du doch schon zwei.

Radius Lehr Noch ein Bier, ich will noch ein Bier!

Amalie Hoch Beinahe schon wie gestern. Nicht wahr?

Radius Lehr So ein Tag, und noch ein Bier, auf das Hauptoberarschloch.

Amalie Hoch Also, jetzt reicht es auch mal wieder, schließlich sind auch noch andere da.

RLG In einem der nächsten Momente erschien ihr Mann wieder aus der Küche.

Dimitri Hoch Aber meine Honigbiene, wir sind eine Kneipe, und kein Museum, da fallen solche Worte ab und zu.

Amalie Hoch Schöne Kneipe - schöne Worte.

Dimitri Hoch Du siehst das Ganze viel zu eng, Honigblume.

Eine andere Stimme Genau, Amalie, lass ihn doch einfach.

RLG Einer von den beiden Schachspielenden war es.

Erich Tolstoi Radius hat gar nicht mal so Unrecht, denn sind wir nicht irgendwie schließlich alle Arschlöcher?“

Amalie Hoch Dass du jetzt auch noch damit anfängst. Das hätte ich nicht gedacht.

Radius Lehr Endlich einer, der mich versteht.

Dimitri Hoch Worte unter Männern.

Amalie Hoch Schöne Worte – schöne Männer!

Erich Tolstoi Na, hör sich das mal einer an, dann trinkst du sicherlich noch einen Kleinen.

Radius Lehr „´Du mir aus der Seele sprichst.

Amalie Hoch Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Er hat doch jetzt schon ganz schön viel.

Erich Tolstoi Keine Widerrede, ein Raki für unseren Radius. Und einen für mich, ach was rede ich. Für alle.

Leonid Zimmermann Und für mich noch eine Schorle. Weiß und süß, nanu, wo meine Dame ist – nanu.

Erich Tolstoi Vielleicht ist sie ja gefressen worden.

Amalie Hoch Ich glaub, Ich trete in den Streik.

Leonid Zimmermann Gefressen? Wie geht das denn?

Dimitri Hoch Lass, meine treue Honigseele. Ich kümmere mich drum.

Erich Tolstoi Indem du sie mir geradezu vorgeworfen hast. Auf d4, während mein Bauer auf e5 verweilte.

Amalie Hoch Wenn Männer zusammenhalten.

Leonid Zimmermann Ach herrje.

Amalie Hoch Ist noch nie was Gescheites rausgekommen.

Leonid Zimmermann Wie das nur geschehen konnte?

Radius Lehr Weil du ein Arschloch bist.

Amalie Hoch Radius – die Musik spielt aber immer noch hier vorne.

Leonid Zimmermann Ich werde es mir gelegentlich ausrichten.

Radius Lehr Haargenau, wir alle sind Arschlöcher. Und der Riesenwischer ist das Allerriesigste.

Erich Tolstoi Sag ich doch schon die ganze Zeit; ich schlage vor, wir fangen nochmal von vorne an.

Dimitri Hoch Hast du in der Küche nicht noch ein paar Honigtöpfe zu reinigen?“

Amalie Hoch Schon verstanden, um euren gastronomisch einwandfreien Unterhaltungen nicht länger zu stören. Mit dem größten Betriebsvergnügen, darauf lege ich sowieso keinen Wert.

RLG Amalie verschwand tatsächlich hinter der Küchentür, Dimitri verteilte den von Erich bestellten Raki, zum Anstoßen begab sich außerdem Alonso zu Radius, und umarmte ihn herzlich.

Alonso Gonzalez Was ist denn eigentlich heute los mit dir?

RLG Radius starrte mit entgeistertem Blick auf Alonsos goldene Krawattennadel.

Radius Lehr Arschlöcher, alle Arschlöcher!

Alonso Gonzalez Ich weiß, mein Lieber.

Radius Lehr Ich bin ein Arschloch!

Alonso Gonzalez Ich weiß.

Radius Lehr Du bist ein Arschloch!

Alonso Gonzalez Ich weiß.

Radius Lehr Und weißt du was!

Alonso Gonzalez Was ist denn nur mit dir los, mein Kleiner?

Radius Lehr Weißt du, wer das größte aller Arschlöcher?

Alonso Gonzalez Ist nun einmal so.

Radius Lehr Arschloch, arschlöchriger, am Arschlöchrigsten.

Alonso Gonzalez Manches ist nicht zu ändern.

RLG Alonso begab sich zurück zu seinen Automaten, die nächste Schachpartie in Gang gesetzt, und bald schon kehrte auch Amalie wieder zurück aus der Küche, Honig hin, Töpfe her. Sogar der Bauarbeiter Francesco Verdi war inzwischen mit seiner italienischen Clique eingetrudelt, die sich in die Nische der Kneipe verdingten, wo sich die Darts- Automaten befanden. Radius Lehr aber tat weiter nichts wie sich hoffnungslos zu besaufen, nein, anders hätte man es nicht ausdrücken können; die Dämmerung draußen war noch nicht einmal richtig angebrochen, als er längst schon bedenklich auf dem Hocker wankte. Gut gemeint waren Amalies mehrfache Aufforderungen, und inzwischen auch von Dimitri, einfach heimzugehen und sich auszuschlafen. Radius Lehr reagierte jedoch bei jedem Versuch gleich, nein, anders hätte es nicht beschrieben werden können.

Radius Lehr Noch ein Bier.

RLG Und noch ein Bier, zunehmend nicht einfacher wurde es, gegen das Absinken des schwerer und schwerer werdenden Kopfes anzukämpfen, so dass Amalie sogar auf die Theke zu klopfen hatte. Direkt vor seiner Nase.

Amalie Hoch So, Radius, jetzt reicht es, jetzt ist endgültig Schluss

RLG Radius wackelte derweil wie – ja, wie Wackelpudding.

Radius Lehr Noch ein Bier. Noch eins.

Dimitri Hoch Mein betrieblicher Honigstern hat Recht; ein gastronomisch durchaus vernünftiger Vorschlag.

Amalie Hoch Genau, du gehst jetzt heim

Dimitri Hoch Und ausgeschlafen sieht die Welt gleich ganz anders aus.

Radius Lehr Ich will aber noch ein Bier.

Amalie Hoch Nein, verdammt nochmal.

Radius Lehr Ein letztes noch.

Amalie Hoch Nein, nein, und nochmals nein.

Radius Lehr Dann – dann geh ich auch heim.

Dimitri Hoch Warum eigentlich nicht, ist doch immerhin mal ein Angebot. Oder findest du nicht, holde Honigblüte?

Amalie Hoch Nein! Nein! Und nochmals nein!

Dimitri Hoch Aber ich nimm dich beim Wort, Radius. Noch ein letztes Bier, und dann ist wirklich Schluss.

Amalie Hoch Wieso habe ich kein gutes Gefühl?

Dimitri Hoch Keine Sorge, ich übernehme die betriebsbedingte Verantwortung.

Radius Lehr Wenigstens einer, der mich versteht.

Amalie Hoch Dass ich nicht lache.

RLG Freilich war Radius kaum mehr in der Lage, einen Bierkrug zu stemmen, Großteile des gebrauten Getränks schwappten auf das Edelholz der Theke, das Wenigste erreichte überhaupt noch den Schlund; beziehungsweise die Kehle. Während dem weiter anhaltenden Niedersinken des Hauptes wurde er einmal aufgeschreckt vom schrillen Läuten des Darts- Automaten, ein anderes Mal war es was aus der Jukebox. Von Alonso gewählt, wurde der Titel „Ratata“ gegeben. Beim nächsten Einnicken jedoch wurde er durch ein Rütteln am Ellenbogen gestört, mehr wie bekannt kam ihm die dazu ertönte Stimme vor, tja ja, vielleicht sogar mehr, wie ihm lieb war.

Die ihm bekannte Stimme Radius, Radius!

RLG In Radius Lehrs Zustand bedeutete schon die Wendung des Kopfes um circa neunzig Grad eine Herausforderung, in halbwacher Manie wurde Anne Hoch erkannt. So wie sie leibte, so wie sie lebte, zu unverwechselbar ihre Montur: bekleidet war die gerstenschlanke Viertklässlerin nämlich mit einem schwarzen Pulli, einem schwarzen Röckchen, einer schwarzen Mädchenstrumpfhose, die schwarzen Schuhe nicht zu vergessen; der dunkelblonde Pferdeschwanz gehalten von einer schwarzen Schmetterlingsspange. Aus purem Plastik, um die Höhenunterschiede zu Radius zumindest einigermaßen auszugleichen; stand sie auf der Fußleiste der Theke.

Anne Hoch Ich glaube, ich habe was für dich.

Radius Lehr Ach, du bist‘ s.

Anne Hoch Guck doch mal.

Radius Lehr Nee, heute lieber nicht.

Anne Hoch Du, du – du bist ja betrunken.

Radius Lehr Na und.

Anne Hoch Du weißt doch haargenau, dass ich so etwas nicht mag.

Radius Lehr Und weißt du auch, was ich nicht mag?

Anne Hoch Radius - was ist heut nur los mit dir?

RLG Ob gerade eine Zehnjährige angerülpst wurde?

Radius Lehr Das geht dich gar nichts an. Aber auch rein gar nichts.

Anne Hoch So kenn ich dich ja gar nicht.

Radius Lehr Ach, Anne, du bist und bleibst eine alberne Nervensäge.

Anne Hoch Oh je - ich glaube ja nicht, dass du überhaupt noch weißt, was du redest.

Radius Lehr Und wie, mein Fräulein.

Anne Hoch So betrunken wie du bist.

Radius Lehr Wieso lässt du mich nicht einfach in Ruhe?

Anne Hoch Aber wo ich doch was mitgebracht habe.

Radius Lehr Sag mal, hörst du schlecht. In Ruhe sollst du mich lassen, du, du – du blöde Kuh.

Anne Hoch W – was!“

Radius Lehr Ja, ja, sperre deine Lauscher ruhig auf.

Anne Hoch Das glaube ich einfach nicht. Was du zu mir sagst.

Radius Lehr Doch, du Kuh! Du saublöde Kuh, du, du, du – du Arschloch!

Anne Hoch W – was!“

Radius Lehr Ach, mach dir nichts draus, sind wir ja schließlich alle - Arschlöcher mein ich.

Anne Hoch So etwas hat noch niemand zu mir gesagt!

Radius Lehr Na, dann wurde es ja allerhöchste Eisenbahn.

Anne Hoch Und schmutzige Worte mag ich überhaupt nicht, das weißt du haargenau.

Radius Lehr Ja, ja, ich werde es mir ausrichten, in einer Woche oder so. Und jetzt verpiss dich endlich!

Anne Hoch Wie - wie kann man nur so gemein sein?

RLG Beinahe schon wieder beiläufig versetzte der Genervte Anne einen leichten Stoß, mitten aufs Brustbein, allerdings doch stark genug, um sie ins Wanken zu bringen. Auf der Fußleiste, mehr wie ihr hätte lieb sein können, mit dem Armen nach hinten gerudert, flog sie kurzerhand auf den Boden. Mit dem Allerwertesten voraus, ein zerfleddertes Buch auf dem Bauch, etwas, was einem wie Radius Lehr nichts ausmachte, ganz im Gegenteil, vielmehr war er dabei, sich wieder ausschließlich und hundertprozentig dem Bierkrug vor seiner Nase zu widmen. Anne indes erhob sich wieder, Entsetzen und Empörung im hoch erröteten Gesicht geschrieben, doch, doch, das war mehr wie offenkundig. Mit der weißen Dame fuchtelte sie in der Luft, während sie das Buch unter einem Arm geklemmt hatte.

Anne Hoch Radius, du, du – du hast mir wehgetan!“

Radius Lehr Oh, wie schön für dich.

Anne Hoch Ich – ach, ich, weißt du was, ich kündige dir unsere Freundschaft!“

Radius Lehr Hoffentlich - dann lässt du mich hoffentlich endlich in Ruhe, du schwarzes Miniarschloch.

RLG Sperrangelweit war nun ihr Mund geöffnet.

Erich Tolstoi Aber Anne, die Dame ist doch unschuldig.

Leonid Zimmermann Und nimm‘ s dir nicht zu Herzen.

RLG Anne schleuderte die Dame zurück aufs Schachbrett, so dass alle vier Springer umfielen, gleichzeitig wohlgemerkt, darauf verkrümelte sie sich an jenem eckigen Ecktisch, an welchem zur Mittagszeit ihr Vater Dimitri noch Umschläge gebadet hat.

Amalie Hoch Radius, die Höhe ist nun wirklich erreicht, aber ob man dir zu dieser Leistung wirklich auch noch gratulieren soll?

RLG Amalie begab sich zu ihrer Tochter.

Dimitri Hoch So mein Freund, und jetzt ist Schluss – du gehst jetzt heim!

Radius Lehr Okay, eins noch, dann machen wir Feierabend.

Dimitri Hoch Nein habe ich gesagt, und außerdem hast du‘ s versprochen. Abgesehen von dem, was du gerade angerichtet hast.

Radius Lehr Ach, nur noch ein ganz kleines. Ach bitte, bitte.

Dimitri Hoch Nein habe ich gesagt – und es bleibt dabei.

RLG Abermals näherte sich nun Alonso, mit einer dicken Zigarre zwischen den Fingern, und noch herzlicher wie vorhin wurde Radius in den Arm genommen, sabbernd den Kopf an die goldene Krawattennadel gekugelt, so dass der Spanier locker und leicht Radius Wuschellocken kraulen konnte.“

Alonso Gonzalez Oh, oh, mein Kleiner, was hast du denn nun schon wieder angestellt? Mit deiner kleinen Freundin?

Radius Lehr Ist doch egal, mich hat sowieso keiner lieb.

Alonso Gonzalez Mein, armer, armer Kleiner!

Radius Lehr Ach, Alonso, könntest du mir nicht noch eins zahlen?

Alonso Gonzalez Aber, aber – haben wir denn nicht was versprochen?

Radius Lehr Das war doch der Dimitri! Ist sowieso böse!

Dimitri Hoch Eine Unverschämtheit!

Alonso Gonzalez Ja, aber wollten wir nicht Heia machen gehen?

Radius Lehr Ich weiß ja, dass ich zu gehen habe. Aber ich will doch nur noch eins.

Alonso Gonzalez Oh, oh - was soll nur aus dir werden, mein Kleiner?

Dimitri Hoch Nein, Alonso, das meinst du nicht wirklich, das kann nicht dein Ernst sein!

Alonso Gonzalez Wieso eigentlich nicht, du hast doch gehört, was er gesagt hat.

Dimitri Hoch Ich verweigere mich.

Radius Lehr Hörst du das, Dicker? Niemand hat mich lieb – niemand.

Alonso Gonzalez Und ich dachte immer, dies hier wäre eine gastronomische Kneipe!

Dimitri Hoch Allerdings. Zu hundert Prozent.

Radius Lehr Arschlöcher!

Alonso Gonzalez Na, dann ist ja noch alles in bester Butter, ich krieg noch zwei Bier.

Dimitri Hoch Nicht im Traum denke ich daran!

Alonso Gonzalez Eines für mich! Und eines für Radius!

Dimitri Hoch Um Himmelswillen!

Alonso Gonzalez Schall und Rauch!

Dimitri Hoch Unverantwortlich!

Alonso Gonzalez Was für ein gastronomischer Saftladen du bist!

Dimitri Hoch Als ob es in diesem Fall noch darauf ankommt!“

Alonso Gonzalez Vor allem liebe ich es, wenn man mich versteht.

Dimitri Hoch Das geht auf deine Kappe, das sag ich dir jetzt schon. Und auf deine Verantwortung.

Alonso Gonzalez Ja, ja, schon gut, du Trauerkloß. Für das ganze Lokal. Auf meine Kosten. Und für jeden ein Raki.

Radius Lehr Ach, wenn ich dich nicht hätte. Du rettest gerade mein Leben, du lieber Fettsack.

Alonso Gonzalez Ist gut, mein Kleiner, wenn du hinterher nur schön artig bist

Radius Lehr Ich werde nach Hause fliegen. So wahr mir Gott helfe.

Alonso Gonzalez So ist‘ s brav, so will ich‘ s hören. Husch, husch ins Körbchen.

Dimitri Hoch Ja, ja, wer‘ s glaubt.

Radius Lehr Dimitri, du bist und bleibst ein wahrer Dimitri.

Dimitri Hoch Manches gibt es, worauf ich verzichten kann.

Radius Lehr Ein Arschloch zwar, aber ein erstklassiger Dimitri.

Dimitri Hoch Mann!

Alonso Gonzalez Ach, mein Kleiner.

RLG Ein letztes Mal strich ihm Alonso durch die Locken; nach Dimitris Austeilen der Getränke wurden die Gläser in die Höhe gestemmt.

Radius Lehr Prost, ihr Arschlöcher.0

RLG Zurück geprostet wurde.

Italiener Cin! Cin!

RLG Ja, ja, man hatte was zu lachen, durchaus, durchaus, allerdings hatte Radius Lehr nix vom Raki, beim Trinkansatz konnte lediglich die Leere des leer geschwappten Glases registriert werden. Aber er hatte ja noch das von Alonso spendierte Bier, was für ein Glück, gewiss waren ihm auch Dimitris missmutige Blicke. Was darüber hinaus so ein vorgerückter Tag ausmachte, beziehungsweise Abend, wenn man nichts weitergemacht hatte, wie sich stundenlang mit flüssigem Zeugs voll zu schütten, hatte Radius nun aber mehr und mehr zu spüren bekommen. Aber mehr wie hundertprozentig, und fürwahr hatte er seit der Ankunft zur längst verflossenen Mittagszeit nicht ein einziges Mal die Toilette aufgesucht. Doch umso dringender waren nun allzu menschliche Bedürfnisse am sich melden, um es mal so zu formulieren. Ohne größere Schwierigkeiten vom Hocker abzugleiten erschien nahezu unmöglich, Wanken hin, Wanken her, torkelnd wurden die Türen zu den Toiletten erreicht, die befanden sich ausgerechnet hinter jenem eckigen Ecktisch, an welchem sich Anne Hoch zurückgezogen hatte. Ausgerechnet, und freilich hatte sie nicht mehr für ihn übrig wie ins Giftige neigende Blicke der Missachtung, nein anders könnte man es nicht umschreiben. Nach dem Rückkehren von den Toiletten geriet der Betrunkene derart ins Wanken, so dass er sich kurzerhand mit den Fäusten abzustützen hatte. Auf ihrem Tisch, aber war es sowieso nicht mehr wie ein Anzeichen für das hoffnungslos aus dem Gleichgewicht geratene Gleichgewicht? Schlichtweg, offenkundig schien sie was zu schreiben, auch das zerfledderte Buch, welches sie vorhin noch unter ihrem Arm geklemmt hatte, war auf dem Tisch ausgebreitet.

Radius Lehr Wenn du willst, können wir‘ s uns jetzt anschauen.

Anne Hoch Ach, lass mich doch. Mit dir mach ich sowieso nichts mehr zusammen.

Radius Lehr Oh, Anne, du weißt doch wieder mal nicht, was du sagst.

Anne Hoch Du sollst mich in Ruhe lassen, außerdem ist dein Reißverschluss offen.

Radius Lehr Oh!

RLG Annes Feststellung in Ehren, unrichtig war sie nicht. Beileibe, ganz im Gegenteil, bis zum Anschlag geöffnet, marineblaue Unterwäsche am Hervorblitzen. In Radius hoffnungslosen Zustand aber auch noch nach einem Reißverschluss zu greifen, vom Zuziehen ganz zu schweigen, entpuppte sich hingegen als eine schier unlösbare Aufgabe. Nein, nein, zu sehr der Schwankende es auch versuchte, er bekam den Verschluss einfach nicht zwischen die Finger.

Radius Lehr Scheiße!

RLG Zu mehr sollte es dann aber nicht mehr kommen, Dimitri und Alonso marschierten schnurstracks auf Radius zu, und nahmen ihn in die Zange.

Alonso Gonzalez So, mein Kleiner, und jetzt geht es wirklich ab. Ins Husch – Husch - Körbchen.

Dimitri Hoch Ohne gastronomisch bedingtes Wenn und Aber.

RLG Am Tisch neben dem von Erich und Leonid hatte sich völlig unbemerkt ein älterer Herr eingefunden. Ein hocheleganter, nein, anders könnte man es nicht sagen, und den einer wie Radius Lehr Zeit seines Lebens nie zu Gesicht bekommen hatte. Weder hier in der eckigen Eckkneipe noch sonst wo, beim Vorbeischleppen erhob sich der Herr.

Älterer Herr Erst beleidigen so ein nettes, kleines Mädchen auf unerhörte Weise!

Radius Lehr Gar nicht wahr.

Älterer Herr Stoßen es dann noch auf den Boden!

Radius Lehr Und wenn schon, das geht Sie überhaupt nichts an!

Älterer Herr Sehr wohl geht mich das was an. Und dann stellen Sie sich auch noch mit offener Hose davor. Mit Verlaub, Sie sind ein Schwein!

Radius Lehr Was!

Älterer Herr Ein Schwein sind Sie! Jawohl, ein Schwein!

Amalie Hoch Aber mein Herr, beruhigen Sie sich doch.

RLG Alonso und Dimitri aber setzten sich in Bewegung, nicht ohne noch etliche Male Radius Tagesmaxime über sich ergehen lassen zu müssen.

Radius Lehr Was dir einfällt, Sie altes Arschloch! Du verdammtes Nadelstreifenarschloch!

Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende

Hugo Bauklotz - Ein Zaun

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