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Blatt 15: Dieser Otto Wieschensriether
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Auszug 35 159 23 5, Blatt 15
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
RLG Dieser Otto Wieschensriether führte in einem kleinen Hinterhofschuppen unseres geliebten Höhenstadtteils eine gut sortierte Malerwerkstatt. Mit allem Drum und Dran. Sozusagen. Und eine wie aus dem Bilderbuche geschnittene wohlgemerkt.
Kennengelernt hatten sich Radius und Otto Wieschensriether an einer Kneipentheke, wo man sich etwas nähergekommen war, bei Bierchen und Korn freilich. Eine Folge hieraus war, dass der auch noch im besten Teen – Alter schmächtig gebliebene Radius gelegentlich zum Aushelfen eingeladen wurde. Stundenweise wohlgemerkt, das Wegkratzen von alten Tapeten und dergleichen stand allerdings im hundertprozentigen Widerspruch zum in den eigentlich in den Tag lebenden Stil, mehr oder minder, eigentlich wohlgemerkt, doch war es nicht bitter nötig, auf der anderen Seite, dass wenigstens ein paar Heller in die Schreberkasse gespült wurden? Eine Kehrseite der süßen Lebensmedaille, wenn man so wollte, auch wenn es sowieso nicht mehr war wie ein paar berühmte Tropfen auf einen noch berühmteren Stein; unterm Strich wohlgemerkt.
Zu beantworten wäre vielleicht noch die Frage, was ausgerechnet einem wie dem Wieschensriether, der in seiner frühesten Jugend einmal einer Theateraufführung von „Tristan und Isolde“ beiwohnte, dazu geritten hatte, ausgerechnet einen wie den Radius Lehr zu engagieren. Obwohl der sich trotz manch hoffnungslos ruinierter Tapetenrolle gar nicht einmal zu dämlich anstellte, von den Unmengen an Mengen an Unmengen umgekippten Eimern ganz zu schweigen. Oder war es am Ende gar so gewesen, dass der Meister lediglich einen Narren an den Jungen gefressen hatte? Schlicht und ergreifend? Oder allein die Tatsache von Taranteln, in nicht mehr zu überschauender Zahl gestochen worden zu sein.
Offenkundig schien dem so, offenkundig, doch wie dem auch war, am Ende der dreijährigen Malerausbildung hatte selbst ein gewaltiger Muskelprotz wie Wieschensriether Erbärmliches zu Kenntnis zu nehmen, oder rasselte Radius am Ende nicht durch sämtliche Prüfungen? Glatt wohlgemerkt, aalglatt, denn war es nicht so, dass die Sache mit der Schule schon lange nicht mehr sein Ding gewesen war? Bekanntermaßen, trotzdem wurde er vom Meister übernommen, zu einem merklich reduzierten Tarif freilich, oder hätten unterm Strich nicht die jahrelang vergeudeten Azubi– beziehungsweise Materialkosten wieder eingespielt werden müssen?
Doch noch bevor Radius Lehr endgültig unter Wieschensriethers Fittiche geriet, die Werkstatt nicht zu vergessen, flatterte für ihn eine Einberufung ins Haus. Relativ wenig zu Erwähnendes geschah in den nun folgenden achtzehn Monaten, eine Lebensphase von Radius Lehr, die wir demnach vernachlässigen können. Höchstens, dass er anlässlich eines Panzermanövers einem General versehentlich beinahe über die Füße ratterte, dabei war‘ s doch wirklich nur ein ganz winzig kleiner Panzer. Ganz ehrlich, vom Füßchen ganz zu schweigen, noch während dieser Zeit ereilte ihm die Nachricht vom plötzlichen Tod der Mutter, die an Blutarmut verstorben war, und nur wenige Wochen vor der Entlassung aus der Kaserne brach auch noch der Vater zusammen. Im Ratskeller selbstverständlich. Natürlich, frei nach dem Motto „wo denn sonst auch?“
Unmittelbar nach dem Ende der verfassungsgemäßen Pflichtbewältigung führte eine der ersten Wege zum kleinen Friedhof hinter unserer kleinen Vorstadtkirche, wo zwei schlichte Holzkreuze ein mit kargen Blumen bepflanztes Grab zierten. Im Großen und Ganzen konnte behauptet werden, dass sich die Trauer in Grenzen hielt, um nicht zu sagen, in sehr arge, spätestens mit dem Beginn der Malerlehre waren die Kontakte zu den Eltern endgültig auf ein äußerst mäßiges Mindestmaß reduziert worden.
Etwas, was vor der militärischen Zeit noch wichtig war, dass in der Kneipe, wo Radius Lehr einst Otto Wieschensriether kennengelernt hatte, unter anderem auch die bereits damals schon verwitwete Pensionswirtin Federica Fiel verkehrte. Auch sie durfte – gleichsam wie unser Malermeister – einen Narren an ihm gefressen haben, eine beinahe schon ansteckende Wirkung hätte man meinen können, und nach der Rückkehr von der Kriegsausbildung wurde ihm ein kleines Zimmerchen angeboten. Im ersten Stock ihres Hauses, direkt neben unserer Lindenbankhausfiliale, beziehungsweise gegenüber dem Schulhaus und Abrahams Laden. Zu einem günstigen Mietzins selbstverständlich – aber klar doch!
Und waren es am Ende dann doch die Monate als Soldat? Oder die Lehrjahre in der Malerwerkstatt vielleicht? Die nicht nur Leerjahre waren? Von Herrenjahren ganz zu schweigen? Jedenfalls waren es freundschaftliche Banden, die sich zwischen Radius Lehr und der alten Dame entwickelten. Und spätestens mit der Rückkehr aus der Kaserne hatte Radius Lehr endgültig Abstand gewonnen vom Draufgängertum der Jahre zuvor mit denen aus dem Schrebergarten. Nein, Weibergeschichten gab es nun nicht mehr, keine Saufgelage, und zu den Kumpels jener Zeit hatte er längst einen jeglichen Kontakt verloren, frei nach dem Motto „aus den Augen, aus dem – na ja, du weißt schon.“
Mit dem näheren Einlassen mit einer Frau befasste er sich nicht mehr im Entferntesten, schlichtweg, so dass das Weiberthema, um sich ausnahmsweise in seinem Jargon zu bewegen, ein abgeschlossenes war. Beinahe schon Ironie des Schicksals, wenn man so wollte, denn kaum wie ein anderer hätte er es leichter haben können. Mutmaßlich hätte er nicht einmal mit dem Finger schnippen brauchen, und trotzdem hätte er schon längst unter der Haube gewesen sein können.
Seit der unrühmlichen Begegnung unter der romantischen Schullinde hatte es mit Chantal nicht einen einzigen Wortwechsel mehr gegeben. Nein, nicht eine Silbe, und als er in die dritte Klasse aufgestiegen war, wechselte sie in die Realschule. Mehr oder minder, nach Beendigung der Schulzeit zog sie dann für drei Jahre in eine benachbarte Kreisstadt, wo sie an einer höheren Handelsschule zur Bankkauffrau ausgebildet wurde. Hinterher kehrte sie zurück, und ist seitdem Kassiererin am Schalter unserer Bankfiliale. Und an diesem Ort war es dann auch gewesen, wo Chantal Island und Radius Lehr wieder aufeinandertrafen. Beziehungsweise Stelle, nach all den Jahren, und war es schließlich Chantal, die vom ersten Tag ihrer Wiederbegegnung hoch begeistert war, hielt sich Radius Freude in Grenzen. In mehr wie arge wohlgemerkt, und bis zum heutigen Tage fand zu jedem Monatswechsel, wenn er sich bis vor ihren Schalter begeben hatte, der immerzu gleiche Dialog statt.
Radius Lehr Tausend.
Chantal Island So wie immer – nicht wahr?
RLG Stumm wurde unter der Malermütze genickt, Noten und Blätter verschiedener Größen und Farben wurden von Chantal aus dem Scheinfächersortiment zusammen geblättert, fein und säuberlich, und sie zählte ihm behutsam bevor, die einzelnen Noten des Bündels auffällig nah am offenherzigen Dekolleté, was einem wie Radius Lehr nicht mehr wie eher ins Gleichgültige neigende Blicke entlockte. Nein, sein einziges Interesse galt den Scheinen, nicht mehr, nicht minder, und Chantal hätte höchstwahrscheinlich machen können, was sie wollte. Was für ein Jammer, denn war aus dem niedlichen Lockenmädchen nicht längst mehr wie eine äußerst attraktive Frau geworden? Und wurden nicht zumeist hochelegante Kostümkombinationen getragen? Zum Beispiel? Die Röcke jedoch hätten aber so kurz gewesen sein können wie sie wollten, die Lippenstifte noch kräftiger und farbiger, von dem lockigen, schulterlangen Haaren ganz zu schweigen, es nutzte alles nichts. Am Ende, von Jahr zu Jahr wurde Radius Lehrs Ignoranz mehr und mehr unerträglich, um es mal vorsichtig zu umschreiben, und mutmaßlich hätte sich Chantal Island auch nackig hinter ihrem Schalter begeben können, ohne dass er auch nur einen Zentimeter von seiner dem femininen Geschlecht entsagenden Grundhaltung abgerückt wäre. Ach, und wenn es nur ein einziger gewesen wäre, aber nein, nichts, rein gar nichts, ach, es war und blieb ein Jammer, denn war sie nicht von Herzen gut, von Jahr zu Jahr, hoch beliebt, in unserem ganzen Viertel wohlgemerkt, nach meinem ganz persönlichen Dafürhalten eine weitere Ironie. Auch dass sie noch immer nicht aufgegeben hatte, bis zum heutigen Tag, dabeihatte und hat sie Verehrer noch und noch. Wie Sand am Meer, kein Wunder, Chantals Attraktivität, längst hätte auch sie schon in den Hafen der Ehe eingefahren sein können. Mit allem Drum und Dran.
Selbstverständlich, ganz klar, unter dem Strich war Radius Lehr indes zufrieden. Mit sich, mit dem Leben, mit der Welt, sein Einkommen nicht zu vergessen. Vom Auskommen ganz zu schweigen, ab und zu ein Bierchen in unserer Eckkneipe, das einzige Relikt, welches an die wilden Schrebergartenjahre erinnerte. Im weitesten Sinne, häufig wurde die Zeit an der Theke auch mit Frau Fiel verbracht. Oder am Stammtisch, aber auch in seinem Zimmerchen oder im Erdgeschoss der Pension, wo sie ihre Wohnung hielt. Gemeinsam wurden die Abende mit Spielen bewältigt, wobei mit der Zeit alles Mögliche auf den Tisch kam. Beziehungsweise unmögliche, so dass Halma genauso auf ihrer Agenda stand wie Mensch Ärgere Dich Nicht, Malefiz, Schach, Dame, Mühle, Backgammon, Memory, Kniffel, Reversi, Vier Gewinnt, Schwarzer Peter, und so weiter und so fort. Zuweilen lösten sie auch Kreuzworträtsel oder sahen gemeinsam fern, schöne alte Schinken, bei denen noch ungeschminkt gelacht werden konnte: Willy Fritsch und Lilian Harvey, Heinz Rühmann, Hans Albers, Theo Lingen und Hans Moser, selbst Stan Laurel und Oliver Hardy wurden nicht ausgelassen. Selbstverständlich, natürlich, sogar Europapokalabende wurden abgehalten, wenn Benfica spielte oder Real, Inter oder Milan, Ajax oder Arsenal. Nicht selten wurde Radius Lehr bewirtet, ihre Spezialität war und ist ihr selbstgekochter Karamellpudding, den er dann und wann zu vertilgen hatte. Aus reiner Höflichkeit, das heiße Zeug, häufig dann doch zu sehr verklumpt, zumeist; die traute Zweisamkeit wurde im Laufe der Jahre zudem verändert.
ßilberling Aber nicht, weil es Streit gab zwischen den beiden. Oder etwa doch?
RLG Mitnichten, kleiner ßilberling, mitnichten. Nein, Veränderung bedeutete in unserem Fall Erweiterung. Man mutierte sozusagen zu einem Dreier der flotten Art und Weise, wenn man so wollte. Die von mir bereits erwähnte eckige Eckkneipe wurde und wird nämlich von dem treuen Ehepaar Amalie und Dimitri Hoch betrieben. Seit Jahr und Tag wohlgemerkt, aber nicht nur Theke und Barhocker durften sie ihr eigen nennen, nein, sondern auch ein Töchterchen. Mit dem sagenumwobenen Namen Anne, und kaum, dass die Kleine angefangen hatte zu laufen, das Sprechen nicht zu vergessen, fing die an, sich immer häufige und immer mehr zwischen die Stühle von Radius Lehr und Frau Fiel zu drängeln. Komplette Sonntagnachmittage wurden mit Fang den Hut oder Domino verbracht. Und seid ihrer Einschulung ließ Anne Radius lebhaft an den Hausaufgaben teilhaben. Beim ihr über das Schulter schielen war es das erste Mal seit langem, dass sich Radius Lehr mit Dingen wie Vokabeln und Formeln auseinandersetzte, und er hatte festzustellen, wie interessant dies doch noch sein konnte. So - und das war auch das, was ich dir zu erzählen hatte, lieber ßilberling.
ßilberling Hach!
RLG Na gut, du hast ja Recht. So wie immer.
ßilberling Wanderer, ach Wanderer.
RLG Allerdings erfahren meine Schilderungen nun Veränderungen.
ßilberling Soll nicht sogar so etwas schon vorgekommen sein?
RLG Ja, denn bisher war es die Vergangenheit.
ßilberling Ach, aber was auch schon ist neu? Auf dieser Welt?
RLG Schon gut; nun landen wir in die Gegenwart.
ßilberling Frei nach dem Motto?
RLG Vor zwei Tagen.
ßilberling Also vorgestern, nach Adam Riese.
RLG Die Welt noch heil und halbwegs in Ordnung. Aber dann.
ßilberling Ein neuer Einsatz braucht das Land, findest du nicht?
RLG Und Widerstand scheint zwecklos zu sein.
RLG, ßilberling Hach.
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende